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Das Meer

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09.10.2021
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Das Meer

Genau wusste das Mädchen nicht, was Mutter ihr um den Bauch schnallte, aber es drückte ihren kleinen Körper so fest zusammen, dass sie nur schwer atmen konnte.
Das braune, rechteckige Ding an dem Gurt um sie, war ihre Bestrafung. Beim Spielen war sie hingefallen und der Bordstein hatte ein Loch in ihre Hose gemacht. Außerdem blutete sie am Knie. Dabei hatte Mutter die Hose vor Kurzem erst gewaschen.
Sie verstand nicht, wieso es keine Ohrfeige war oder kein Topf mit aufgebrühtem Wasser, was Mutter ihr über die Hände goss. Da wusste sie an welcher Stelle der Schmerz kam und konnte sich auf eine andere an ihrem Körper konzentrieren, um ihn nicht zu sehr zu spüren. Das hatte sie gelernt.

Genau wie letzte Woche, als sie am Tisch von Anna erzählte, die mit ihren Eltern ans Meer gefahren war und sie später hörte, wie Mutter und Vater sich anschrien. Sie hatte sich im Garten einen dicken Stock suchen müssen, damit Mutter sie damit schlagen konnte. Sie hatte keinen Stock gefunden, sondern nur einen großen Stein, den sie Heim brachte.

Diesmal war es anders. Sie hatte eines dieser kleinen Pakete um den Bauch. Die, mit denen Vater in der Garage experimentierte. Sie wusste nicht was es war und das machte ihr Angst. Vor ein paar Monaten hatte es einmal einen lauten Knall und Flammen in der Garage gegeben, die Vater schnell gelöscht hatte. Am liebsten wäre das Mädchen mit einem der starken, großen Männern mitgegangen, die von den Nachbarn gerufen wurden, doch sie hatte sich nicht getraut.

“Damit lernst du, nie wieder hinzufallen.”, sagte Mutter, nachdem sie den Gurt um das Mädchen festgezurrt hatte und richtete sich auf. Vater kam aus der Garage und setzte sich auf den Gartenstuhl neben der Hütte. “Pass bloß auf damit, Mädchen.” sagte er und nahm einen großen Schluck aus der halb leeren Flasche, die auf dem weißen Plastiktisch neben ihm stand. Sie waren einmal zu dritt zu einem großen Geschäft gefahren und hatten die zwei Stühle plus den Tisch gekauft. Es war ein Tag mit viel Sonne gewesen und Mutter hatte das Mädchen sogar gefragt, ob ihr der Tisch auch gefallen würde und sie hatte mit großen Augen genickt.
Auch wenn sie noch nicht so groß war wie Mutter, das Mädchen verstand mehr, als ihre Eltern glaubten. Auf einmal wusste sie genau was das Ding an ihr war. Sie wusste genau, dass sie weder fallen noch schwitzen noch zu hektische Bewegungen machen dürfte, sonst würde etwas schlimmes passieren.

“Na dann geh mal Spielen.”, sagte Mutter und setzte sich auf den zweiten Stuhl neben Vater. Das Mädchen wusste nicht so recht was sie darauf antworten sollte. Wo sollte sie schon hin mit diesem Ding an ihrem Körper?
Sie stand einfach da, auf dem Lehmboden und hatte das Gefühl von einer unsichtbaren Hand zum Schwenken gebracht zu werden. Sie würde fallen. Wenn sie sich nicht sofort zusammenreißen würde, würde sie fallen.
Und dann änderte sich etwas in ihr. Sie hatte Angst, ja, aber da war noch etwas viel Stärkeres. Sie war wütend. Wütend darauf, wie Vater seine müden Augen nur auf die braune Flüssigkeit in der Flasche richtete, die Schluck um Schluck weniger wurde. Wütend darauf wie Mutter sie anschaute. Mit diesem Blick, der ihr sagte: “Du bist schuld.”.
Das hatte Mutter schon öfter zu ihr gesagt. Sie wusste nicht genau was “Schuld” bedeutete. Aber es fühlt sich an, wie als müsste das Mädchen den schwersten Rucksack der Welt tragen, gefüllt mit den dicksten Steinen, die es gibt. Und umso öfter Mutter diesen Satz gesagt hatte, umso mehr Steine kamen dazu.



Und sie war wütend darauf, dass sie nicht das Meer sehen durfte.

Anna hatte ihr ein Bild gezeigt vom Sandstrand und dem blau-grünen Wasser, was so aussah, als würde es nicht mehr aufhören. Als das Mädchen das Bild gesehen hatte, hatte sie etwas gefühlt. Etwas, was sie noch nicht kannte. Es fühlte sich warm an und schön. Und für einen Moment hatte sie die Augen geschlossen und hatte sich in das Gefühl fallen gelassen. Anna musste ihr versprechen, dass sie niemandem sagen würde, dass das Mädchen danach geweinte hatte.

Das Mädchen schaute ihre Eltern an, wie sie dort saßen. Ganz still. Und sie anstarrten. Und in dem Augenblick verstand sie, dass sie nie das Meer sehen würde. Nur diesen kahlen Boden und den weißen Plastiktisch plus die Stühle, auf denen sie nie würde sitzen dürfen. Und sie verstand, dass sich das Nichtstun des Vaters und der schwere Blick der Mutter nie ändern würden. Und sie würde immer das Mädchen bleiben, die den Rucksack voller Steine tragen muss. Und er würde immer schwerer werden. So schwer, dass sie irgendwann nicht mehr würde weitergehen können.
Das Paket wog schwerer an ihrem Körper.

Sie dachte ans Meer. Und an Anna. Dann rannte sie auf den Vater zu.

 
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Hallo,

gut geschrieben finde ich deine Geschichte, gerade das szenische Erzählen mag ich, für mich fühlt sich das Erzählte zu großen Teilen authentisch an.

Ja, ist eine harte Geschichte, die Zug besitzt. Sie packen dem Mädchen einen Sprengstoffgürtel rum, das ist schon hart, auch, weil es nicht explizit gesagt wird, weil man es sich selbst zusammensetzen muss und es dann kaum glauben kann. Die einzige Erklärung, die bleibt, ist die, dass sie das Mädchen in die Luft jagen wollen, wenn sie noch einen Fehler macht. Das ist schon heftig, gerade, weil du sie so süß und nett beschreibst, ein kleines Kind halt, das das Meer mag und die Welt nicht versteht.

Beim ersten Lesen kam mir diese Stelle ein wenig überzogen vor:

Sie verstand nicht, wieso es keine Ohrfeige war oder kein Topf mit aufgebrühtem Wasser, was Mutter ihr über die Hände goss.
Das ist schon hart. Also, ich meine, das gibt ja mindestens Verbrennungen zweiten Grads. Die Haut wäre auch vernarbt, man müsste das behandeln und es wäre für jeden außerhalb der Familie sichtbar. Wenn sie dem Mädchen schließlich einen Sprengstoffgürtel umbinden, merkt man schon, wie abgefuckt diese Eltern sind und die Bestrafung mit dem Wasser passt. Du könntest hier nur noch - da die Story ja aus der Sicht des Kindes erzählt ist - etwas über den Schmerz und die mögliche Vernarbung der Hände dazu schreiben, das fällt dem Mädchen ja sicher auf bzw. sie erinnert sich eindrücklich daran.

hinzufallen.”,
= hinzufallen”,

Und für einen Moment hatte sie die Augen geschlossen und hatte sich in das Gefühl fallen gelassen. Anna musste ihr versprechen, dass sie niemandem sagen würde, dass das Mädchen danach geweinte hatte.
Das klingt authentisch.

Wütend darauf, wie Vater seine müden Augen nur auf die braune Flüssigkeit in der Flasche richtete, die Schluck um Schluck weniger wurde.
Kennt das Mädchen wirklich den Namen für Bier nicht? Meistens wissen das doch Kinder schon, wenn ein Elternteil Bier trinkt, dass das Bier ist. Aber ja, bei dem Grad der Vernachlässigung und Misshandlung kann ich mir vorstellen, dass sie auch nicht weiß, dass das Bier heißt.

Das hatte Mutter schon öfter zu ihr gesagt. Sie wusste nicht genau was “Schuld” bedeutete.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Kinder sehr wohl verstehen, was Schuld sein bedeutet, was die Mutter damit meint; aber ja, das ist eine Gradwanderung. Ich verstehe auch, was du damit bezwecken willst im Text, mit dieser Aussage, denn das Kind macht vieles richtig und wird dafür bestraft. Aber an der Stelle müsste man sich dann überlegen, dass nach diesem Verständnis das Kind bereits ein ausgeprägtes Gespür für richtig und falsch haben müsste und dementsprechend eindeutig verstehen könnte, dass sie etwas "richtig" gemacht hat, aber trotzdem dafür bestraft wird. Da denke ich mir, dass Kinder, die so misshandelt werden, doch meistens die Schuld auf sich beziehen und ihren Eltern glauben, dass sie falsch sind oder alles falsch machen, und dass die Eltern richtig lägen

Und dann änderte sich etwas in ihr. Sie hatte Angst, ja, aber da war noch etwas viel Stärkeres. Sie war wütend.
Das ist eine gute und authentische Wendung innerhalb deines Plots. Das Mädchen verändert sich in deinem Text ein Stück weit.

Die logische Schlussfolgerung deines Endes ist, dass sie das Mädchen in die Luft jagen, weil es sich gegen den Vater auflehnen wird. Und sie tut das wissentlich, weil sie verstanden hat, was sie um sich gebunden hat. Das ist schon hart. An der Stelle könnte man überlegen, ob du das Wissentliche streichst. Für den Leser ist ja an der Stelle schon erkenntlich, dass sie eine Bombe umgebunden hat, und das Unwissentliche, also der nicht gewollte Tod des Mädchens wäre meines Empfindens nach noch grauenvoller bzw. schmerzlicher für den Leser, als wenn sie sich selbst dazu entscheidet, zu sterben.
Ich frage mich an der Stelle auch: Würde sie sich dazu entscheiden, sich selbst umzubringen? Ein Mädchen mit so viel Schmerzerfahrung und in diesem Alter? Würde sie nicht einfach eine Riesenangst bekommen, wenn sie wüsste, was sie um sich gebunden hat?
Also in dem Sinne fände ich es gut, wenn dem Mädchen nicht klar wird, was sie um sich gebunden hat und sie sich gegen den Vater aus Wut auflehnt, so wie du es bereits im Text stehen hast, und man weiß als Leser, sie wird in die Luft fliegen, vielleicht nicht mal tödlich, aber mit starken Verbrennungen. Aber nur meine Sicht und Einschätzung.

Was man dem Text ein wenig ankreiden könnte - und das ist Meckern auf hohem Niveau, abe ich möchte dich nicht ohne ein wenig Kritik hier raus lassen! :D - ist, dass er schon ein wenig auf Effekt geschrieben ist. Damit meine ich, dass sich Szene an Szene reiht, in der kochendes Wasser über Hände gekippt wird, eine Bombe um ein Mädchen gebunden, mit Stöcken geprügelt. Aber! :D das soll nur eine Kritik am Rande sein. Der Vibe deiner Story erinnert mich an Donald Pollock, und ich glaube, dein Text ist, was er sein möchte.


Doch, hat mir sehr gut gefallen, ich mag auch die Dosis Hoffnung, die im Text ist, das Meer, die Freundin, die Mutter, die einen Augenblick nett ist und fragt, ob der Tisch gefällt. Da steckt schon viel drin und das ist gekonnt geschrieben. Bin gespannt, was noch von dir kommt.

Beste Grüße
zigga

 

Ich finde den Text kurz und flüssig, sehr angenehm zu Lesen.

Auch wenn sie noch nicht so groß war wie Mutter, das Mädchen verstand mehr, als ihre Eltern glaubten. Auf einmal wusste sie genau was das Ding an ihr war. [...]

“Na dann geh mal Spielen.”, sagte Mutter und setzte sich auf den zweiten Stuhl neben Vater. Das Mädchen wusste nicht so recht was sie darauf antworten sollte. Wo sollte sie schon hin mit diesem Ding an ihrem Körper?
[...] Sie würde fallen. Wenn sie sich nicht sofort zusammenreißen würde, würde sie fallen.

Wie alt ist sie? Denn hier sind ein paar Realisierungen, die in unterschiedliche Altersstufen passen. Wenn sie weiß, dass sie sich "zusammenreißen" muss, um nicht zu fallen, hat sie die Physik dahinter verstanden. Das passt zu einem Schulkind.

Und dann änderte sich etwas in ihr. Sie hatte Angst, ja, aber da war noch etwas viel Stärkeres. Sie war wütend. Wütend darauf, wie Vater seine müden Augen nur auf die braune Flüssigkeit in der Flasche richtete, die Schluck um Schluck weniger wurde. Wütend darauf wie Mutter sie anschaute. Mit diesem Blick, der ihr sagte: “Du bist schuld.”.
Auch das ist eine Analyse, die eher zu einem Schulkind passen würde. Hier liest sie vermeintlich die Mimik der Mutter.

Das hatte Mutter schon öfter zu ihr gesagt. Sie wusste nicht genau was “Schuld” bedeutete. Aber es fühlt sich an, wie als müsste das Mädchen den schwersten Rucksack der Welt tragen, gefüllt mit den dicksten Steinen, die es gibt. Und umso öfter Mutter diesen Satz gesagt hatte, umso mehr Steine kamen dazu.
Hier weiß sie aber plötzlich nicht, was sie analysiert hat. Ein Schulkind wüsste es.

Dann rannte sie auf den Vater zu.
Das ist ein Problem für mich, um die Geschichte zu verstehen. Ich kenne sehr viele Beispiele für Kindesmisshandlung und -missbrauch. Mir ist klar, dass es sehr unterschiedliche Arten dafür gibt. Wenn es aber ein so explosiver Gürtel ist, warum geben die Eltern das dem "trotteligen" Kind? Warum rennt sie plötzlich als vermeintlich kleines Mädchen mit diesem Gürtel auf ein Elternteil zu?

Diese zwei Fragen rissen mich komplett heraus.

 

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