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Das Paradies in ihren Augen
„Wir haben einen langen und wunderschönen Spaziergang gemacht“, erklärte Elena lächelnd, als sie bemerkte, dass Adrian das Zimmer betrat. „Ich weiß doch, wie gerne Laura spazieren geht!“
„Ja“, murmelte er, „diese Vorliebe hat sie überhaupt in diese Lage gebracht.“
Elena warf ihm einen strengen Blick zu. Auch wenn es nur kurz war, wurde er verlegen. Diese kleine, hagere Frau hatte ihm schon Angst eingejagt, als er ein kleiner Junge gewesen war und auch jetzt konnte sie ihn noch zum Stottern bringen. Anders als die anderen Nonnen der Gemeinde hatte sie erstaunlich harte Gesichtszüge, mit denen sie dafür sorgte, dass sich die Kinder in der Kirche ruhig verhielten.
„Sehe ich dich am Sonntag?“, fragte sie und strich liebevoll Lauras Haare zurecht. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie seine Reaktion auf ihre Worte.
Adrian sah verlegen auf den Boden und studierte das sterile Weiß zu seinen Füßen. Er war absichtlich später gekommen, in der Hoffnung, Elena würde schon weg sein, um dieses unangenehme Thema zu umgehen.
„Sonntag?“, begann er und wühlte in der Tasche seiner Jeans, bekam aber nur Kleingeld zu fassen. Er fluchte innerlich, sah Elena kurz an und lächelte nervös. Bei dem Blick, mit dem sie ihn jetzt beobachtete, war er sicher, sie hatte seine Gedanken gelesen. „Wenn ich nicht gerade bei Laura bin...“ in der anderen Tasche fand er einen Schein, den er mit einem triumphierenden Lächeln herauszog, um ihn Elena in die Hand zu drücken.
Viel war es nicht. Die Zeiten, in denen er sich Großzügigkeit leisten konnte, waren schon lange vorbei. Er hoffte aber, dass ihm diese kleine Spende ein wenig Ruhe brachte.
„Du weißt genau, dass wir für unsere Besuche kein Geld nehmen“, protestierte Elena sofort. Bevor sie ihm das Geld zurückgeben konnte, wich er ihr aus und ging an Lauras Bett.
„Ich weiß. Nehmen Sie es trotzdem, bitte!“
Er konnte sie hinter seinem Rücken leise seufzen hören.
„Es wäre wirklich schön, wenn du mal wieder kommen würdest“, sagte sie zum Abschluss und tätschelte seine Schulter. Er nickte, obwohl er nicht vorhatte, aufzutauchen. Es gab Themen, die er nicht mit einer Nonne besprechen konnte, dazu gehörte vor allem der langsame Verlust seines Glaubens.
Früher hatte er noch Tag und Nacht gebetet. Sogar zur Beichte war er gegangen. Dabei gab es kaum etwas, was ihm noch unangenehmer war, als dieser Gang. Gebracht hatte es nichts. Laura ging es weder besser, noch schlechter, und manchmal war Adrian diesen Stillstand einfach leid.
Er beugte sich über ihr Gesicht und lächelte. Die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster ihres Zimmers fielen, leuchteten genau in ihre braunen Augen und verliehen ihnen einen leichten Stich ins Grüne. Ein Anblick, der ihn heute noch genauso faszinierte wie damals vor zehn Jahren, als er es zum ersten Mal bemerkt hatte.
„Wie war’s draußen?“, fragte er sanft. Er ließ seine Finger über ihre Wange gleiten. Es war ihm egal, was die Ärzte sagten, er war davon überzeugt, dass sie seine Berührungen eben doch spüren konnte, auch wenn sie dieses Mal nicht auf ihn reagierte. „Du bist böse auf mich, hm? Ich habe Elena nicht angelogen! Ich weiß, du denkst jetzt bestimmt, ich hätte versucht mein Gewissen mit Geld zu erleichtern... lass’ uns das Thema einfach vergessen!“ Sein Lächeln erstarb. Manchmal fragte er sich, was er überhaupt hier machte. Auch wenn er sich dafür schämte, es gab Tage, in denen selbst er nicht mehr daran glaubte, irgendwann einmal ihre Stimme wiederzuhören.
Müde ließ er sich auf den Stuhl am Bett fallen und ergriff Lauras Hand, die er an seine Lippen führte.
„Daniel hat heute angerufen und nach dir gefragt. Vielleicht kommt er zu meinem Geburtstag in die Stadt, dann besucht er dich.“ Er bemerkte, dass sie blinzelte. Ihre Art, sich nach seinem kleinem Bruder zu erkundigen. „Es geht ihm gut. Ich hab’ das Gefühl, dass er sich in seinem neuen Job wirklich wohlfühlt.“
Daniel war einer der Wenigen, die überhaupt noch nach Laura fragten. Als sie im Krankenhaus gelegen hatte, waren täglich Menschen um sie herum gewesen. Freunde und Bekannte, sogar Leute, die Laura seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Jetzt hatten sich die meisten angewöhnt, von ihr in der Vergangenheitsform zu sprechen. Wenn das Thema überhaupt mal aufkam. Oft genug war Adrian aufgefallen, dass man sich von ihm abwandte, oder so tat, als hätte man ihn nicht gesehen, um ein Gespräch über seine Frau zu vermeiden.
„Wir wollen sie so in Erinnerung behalten, wie sie wirklich war“, war die häufigste Antwort, wenn er doch einmal dazu kam, jemanden auf das mangelnde Interesse an ihr anzusprechen. Worte, die ihn wahnsinnig machten, weil sie so sehr nach Beileidsbekundungen klangen.
„Wie geht es ihr?“
Adrian sah überrascht auf. Seit sie sich zusammen das Heim für Laura angesehen hatten, war sie nur noch selten hier gewesen. Vier Jahre war es jetzt her, dass man ihm im Krankenhaus gesagt hatte, man bräuchte das Bett. Im selben Atemzug war er gefragt worden, ob er bereit sei, einige ihrer Organe zu spenden. Auch jetzt betrat sie nur zögerlich den Raum und presste dabei ihre Handtasche wie ein Schutzschild an die Brust.
„Willst du dich setzen?“, fragte er, noch immer erstaunt über den unerwarteten Besuch.
„Nein, schon gut!“ Sie ließ ihren Blick verlegen durchs Zimmer schweifen.
„Komm’ und begrüß’ Laura!“
Seine Mutter blieb in der Mitte des Raumes stehen und warf nur einen flüchtigen Blick aufs Bett.
„Komm’ schon! Was hast du denn?“
„Wozu soll ich sie denn begrüßen? Sie starrt sowieso nur ins Leere und bemerkt gar nicht, dass jemand da ist!“, platzte es aus ihr heraus. Erst schien sie erschrocken, dann erleichtert über ihre harten Worte. Adrian fragte sich, wie lange sie diese Gedanken schon vor ihm verschwieg.
„Sie nimmt alles wahr, was um sie herum passiert“, erwiderte er und zwang sich, dabei ruhig zu bleiben. Das Letzte, was er wollte, war ein Streit mit seiner Mutter vor Laura.
„Adri, was soll das hier alles?“, fragte sie seufzend. Offensichtlich hatte sie die ewigen Diskussionen über Lauras Pflege genauso satt wie er.
„Was meinst du?“
„Ihre Pflege kostet dich mehr, als du dir leisten kannst und die Ärzte sagen...“
„Vergiss die Ärzte!“, unterbrach er seine Mutter ungeduldig. „Die haben keine Ahnung!“
„Und wie lange soll das noch so gehen? Denk’ bitte nicht, dass mir das arme Mädchen egal ist...“
„Wie oft habe ich dir gesagt, dass du sie nicht so nennen sollst?!“
„Tut mir Leid...“
„Du bist nicht hier, um Laura zu besuchen, oder?“ Er lehnte sich zurück und sah sie abwartend an. Sie schlenderte auf ihn zu, blieb vor dem Tisch am Bett stehen und betrachtete die Rosen in der Vase mit prüfendem Blick.
„Du solltest neue Blumen besorgen.“
„Morgen... lenk’ nicht vom Thema ab!“
„Nächste Woche wirst du dreißig“, flüsterte sie ohne aufzusehen.
„Ich weiß.“ Und er ahnte, worauf sie hinaus wollte.
„Du bist noch jung!“
„Laura ist zwei Jahre jünger als ich.“
Sie sah nur kurz zu ihrer Schwiegertochter rüber. „Ich meine doch nur, dass...“ sie betastete die Blumen. „Es kann doch nicht so weitergehen! Laura ist in einem furchtbaren Zustand und du quälst dich jeden Tag!“
„Ich quäle mich nicht, Mama. Ich bin gerne hier!“
„Hier? Zwischen all den alten und kranken Leuten?! Früher hattest du viele Freunde und... und ein Leben!“
„Mein Leben ist hier, Mama. Bei meiner Frau.“
„Aber du glaubst doch nicht wirklich, dass sie irgendwann einmal aufwacht!“
„Wieso nicht?“ Er ließ seine Finger über Lauras Handinnenfläche gleiten.
„Vier Jahre, Adri! Vier Jahre!“
„Wenn du andeuten willst...“
„Es liegt alles bei dir“, flüsterte sie und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sein Magen rebellierte bei dem Vorschlag, den seine Mutter angedeutet hatte.
„Wie kannst du auch nur daran denken?“
„Willst du sie nicht endlich erlösen?“
„Sie oder dich?“ Mit einer wütenden Bewegung stieß er die Hand seiner Mutter weg. „Sieh’ sie dir an! Sie lebt und atmet selbstständig! Sie ist nur... nur in ihrem Körper gefangen!“
„Ich weiß, aber...“
„Sieh’ sie dir an“, verlangte er noch einmal, lauter. „Stell’ dir doch nur mal vor, ich würde da liegen und nicht sie! Würdest du dann auch so reden? Würdest du dann zu Laura sagen, sie soll mich sterben lassen?“ Inzwischen schrie er. Dass die Augen seiner Mutter sich mit Tränen füllten, war ihm egal. „Oder Daniel! Was, wenn er den Unfall gehabt hätte?!“
„Hör’ auf, Adri! Ich dachte doch nur...“
„Du hast es nur gut gemeint, was?“, fragte er spöttisch. Nur langsam beruhigte sich sein Atem und sein Herzschlag wieder. Er strich über Lauras Wange und ignorierte das Schluchzen seiner Mutter im Hintergrund.
„Du denkst, dass ich Laura nicht liebe, aber das stimmt nicht“, bemerkte sie leise.
„Das denke ich nicht“, murmelte er.
„Aber, willst du etwa wirklich den Rest deines Lebens so verbringen?“
„Ich habe mich nicht unter der Bedingung in Laura verliebt, dass sie ewig gesund ist, oder länger lebt als ich“, flüsterte er. Er lächelte als er sich wieder über das Gesicht seiner Frau beugte und ihr Blick ihn fixierte, ihre Atmung vertiefte sich, sie freute sich, dass er da war. Das waren die Momente, für die er lebte. „Solange sie atmet, solange sie lebt, bin ich bei ihr. Selbst, wenn sie nie wieder sein wird, wie sie früher einmal war!“