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Das Ungeheuer
Rebeccas Ungeheuer
Rebeccas Ungeheuer
von Julia Bergius
Sie fuhr unter der Brücke hindurch und schnalzte mit der Zunge. Einige Wolken trieben über den Himmel und verdunkelten zeitweise den Mond. Die Sommernacht hatte schon einen Anflug herbstlicher Kühle. Sicherlich war es in jener Zeit gefährlich, als Frau nachts alleine unterwegs zu sein, aber Rebecca liebte die Unabhängigkeit, die ihr der alte Karren verlieh und die Freiheit, jederzeit dort hinzugehen, wo es ihr passte.
Sie bog um die Kurve und trieb ihr Ross an, um noch etwas Tempo zu bekommen, bevor die Straße den Berg hinauf führte. An der Steigung ging es nicht mehr so schnell, sie kam nur noch im Schritttempo voran; der Gaul war eben schon alt und müde.
Rebecca war eine Träumerin, und so hing sie auch nun mit einem Teil ihrer Aufmerksamkeit ihren Gedanken nach. Der Rest von ihr war jedoch konzentriert, ihre Sinne lauschten auf jedes ungewöhnliche Zeichen. Jeden Moment glaubte sie, dass ein oder mehrere Männer aus dem Gebüsch rechts des Weges hervorspringen könnten. Doch es blieb still. Bald hätte sie den Berg geschafft und oben auf der Kuppe würde es wieder schneller voran gehen.
Doch was war das? Sie hörte ein dumpfes Geräusch hinter ihr, das schnell anschwoll und näher kam. Es hörte sich an, wie die gewaltigen Schwingen eines Drachen, der dicht über das Land flog und verirrte Jungfrauen suchte. Obwohl Rebecca dahingehend nicht mehr unbescholten war, stieg eine kribbelnde Panik in ihr auf. Woher sollte schließlich ein Drache wissen, was ihr Vater nicht einmal ahnen durfte? Rebeccas Herz schlug heftig. Sie stellte sich auf und jagte den Klepper voran, so schnell es ging. Doch wagte sie es nicht, einen Laut von sich zu geben, und dadurch das Ungeheuer auf sich aufmerksam zu machen.
„Wäre ich doch ein Ritter, oder besser, ein reisender Abenteurer“, dachte sie, wie schon so oft zuvor, „und vor allem: hätte ich doch ein Schwert. Dann würde ich mich jedem Kampf stellen und nicht wie ein gejagter Hase nach Hause hetzen.“
Fu"schump, fu"schump, fauchten die schweren Drachenflügel hinter ihr. Staub wurde aufgewirbelt, der Mond war kaum zu sehen. Als das Ungeheuer den Weg in der Kurve, die Rebecca eben passiert hatte, kreuzte, stieß er einen schrillen Schrei aus, so dass Rebecca schier das Blut in den Adern gefror.
„Jetzt ist es um mich geschehen!“
Mit letzter Anstrengung trieb sie ihr Pferd an, und als die Bestie, Blut witternd, wieder schrie, schrie sie auch, hoch und gellend.
Fast hatte sie die Kuppe erreicht, wo sie schneller fahren konnte. Doch der Drache war nur noch wenige Schritte hinter ihr. Sie roch seinen stinkenden Atem und fühlte den Feuerhauch in ihrem Nacken.
Gleichzeitig, als sie die Kuppe erreichte, wo die Straße wiederum abbog, raste der Zug im Graben links neben ihr vorbei und jagte ihr einen letzten Luftschwall hinterher. Die Fenster waren erleuchtet und Leute saßen darin.
„Wo sie wohl alle hinfahren?“, fragte Rebecca sich. Der Mond leuchtete hell über das offene Land. Mit einem Gefühl der Erleichterung setzte sich das Mädchen in den Sattel zurück und trat in die Pedale ihres Fahrrads. Bald würde sie zu Hause sein.
In der Ferne schlug eine Uhr zehn mal.