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Dasselbe Spiel
Sie kochte vor Wut. Was bildete er sich eigentlich ein? Jahrelang hatte sie für ihn geputzt, gekocht, gewaschen, sich um ihn gekümmert, alles über sich ergehen lassen. Anscheinend glaubte er, sie sei seine Leibeigene. Versoffenes Schwein! Heftig schlug sie die Wohnungstür hinter sich zu, stolperte über die alten Holztreppen nach unten. Den ewig sauren Geruch des modrigen Treppenhauses nahm sie kaum wahr. Vorbei an überquellenden Müllsäcken und Briefkästen. Sie drückte sich, ohne darüber nachzudenken, an die Haustüre des mehrstöckigen Plattenbaus und entschlüpfte auf die graue, regennasse Straße. In ihrer überstürzten Reaktion hatte sie vergessen, ihre Hausschuhe gegen die Stiefel zu tauschen, und schon nach ein paar eiligen Schritten waren die warmen Lammfellpantoffeln mit schmutzigem, öligem Wasser getränkt. Fluchend lief sie die Straße entlang, ignorierte die Menschentrauben, die ihr entgegenkamen und sie neugierig musterten. Nach wenigen Minuten hing das sonst sorgfältig aufgesteckte Haar in lockigen Strähnen über Stirn und Schultern. Scheiße! Dabei hatte der heutige Tag doch eigentlich ganz gut angefangen... Sie blieb einen Moment stehen, holte Luft, strich sich die Haare aus dem Gesicht und blickte sich orientierend um. Ohne nachzudenken war sie zu dem nahen Park gelaufen, ihrer Zuflucht, wann immer sie Kummer hatte oder nicht weiter wusste.
Herbst war es auch damals gewesen, sie erinnerte sich genau, der vierundzwanzigste Oktober, als sie ebenfalls hierher gekommen war, sich auf eine der einfachen Holzbänke gesetzt hatte und ihrem Leben abgeschworen hatte. Im Gegensatz zu heute war damals allerdings ein wunderschöner Tag gewesen, die Luft noch mild, voll mit bunten Blättern, Sonnenstrahlen, einigen Spatzen. Viele Andere hatten das gute Wetter ausgenutzt und waren spazieren gegangen, hauptsächlich Familien mit kleinen Kindern, Jogger. Verliebte Pärchen (an dem Tag hatte sie ihnen allen die Pest an den Hals gewünscht) besetzten die gegenüberliegenden Bänke. Niemand hatte von ihr auch nur Notiz genommen, an diesem perfekten Tag, wie sie, zusammengekauert und voll wildem Entschluss, auf ihrer Bank gesessen war.
Niemand außer ihm.
Und dann ging es wieder bergauf... Warum eigentlich? Sie hatte Mut geschöpft, einen neuen Anfang gewagt. Verdammt, hätte sie sich doch damals schon von der Brücke gestürzt!
Mit jedem Kerl wieder das selbe Spiel, das sie doch immer verlor.
Verwirrt und erschöpft hing sie ihren Erinnerungen nach, Gedanken an einige glückliche Tage, Wochen, Monate. Zu der Zeit glaubte sie, das Leben neu entdeckt zu haben, die andere Seite kennen lernen zu dürfen, bis sie statt dessen nach und nach die bittere Wahrheit, das Selbst ihres „Retters“ kennen gelernt hatte. Und verblüfft stellte sie fest, dass es sie nicht einmal sonderlich überrascht hatte.
Der Regen hatte nun auch ihren rasch übergeworfenen Mantel durchdrungen, im kalten Wind begann sie zu zittern. Tränen der Verzweiflung suchten sich einen Weg über ihr von Kummer zerfurchtes, von Gewalt entstelltes Gesicht.
Ohne dich kann ich nicht leben! Verlass mich nicht, bitte. Ich werde dich nie wieder schlagen, ehrlich.
Falsche Versprechungen, Lügen, Tag um Tag, Woche um Woche.
Du musst mir noch eine Chance geben!
Wie viele Chancen noch?
Ich werde aufhören, ich versprech´s dir...
Wenn er mit dem Trinken aufhörte, dann nur, weil kein Schnaps mehr im Haus war.
Der Wind wurde schärfer, trieb ihr braun-matschige Ahornblätter ins Gesicht.
Bis auf einige Krähen, die durchs gelbe Gras stolzierten, kein Zeichen von Leben.
Die Tränen versiegten langsam. Und nun? Sie hatte den Schlussstrich gezogen, aber was kam jetzt? Der Nächste? Wohin sollte sie gehen? Doch die St.- Josefs - Brücke?
Langsam stand sie auf.
...
Zögernd betätigt sie, durchnässt und gebrochen, die Klingel ihrer Wohnung. Nichts rührt sich. Unsicher steht sie vor dem grauen, bedrohlichen Wohnblock, blickt hoffnungsvoll auf das schmierige Fenster im dritten Stock. Vielleicht hat er es ja wirklich ehrlich gemeint, diesmal...