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Dateileiche
Meine Geschichte vom letzten Sonntag verschwand kurz nach ihrer Veröffentlichung. Sie erschien zwar unter der Rubrik ‚Heutige Beiträge’, allerdings nur für wenige Minuten, danach konnte ich sie in der Auswahlliste nicht mehr auffinden. Ohne angezeigten Link kann ein Text von niemand entdeckt und gelesen werden.
Als Computerspezialist und - forensiker ist dieser Zustand für mich nicht akzeptabel. Ich werde in den Server von www.Kurzgeschichten.de einsteigen, der irgendwo da draußen unter der IP-Adresse 81.196.182.237 in der neuen, weiten Welt seine Bits und Bytes versendet. Einsteigen, nicht hacken, ich hoffe, der Unterschied ist klar? Ich selbst, so, wie die Natur mich geschaffen hat, werde der Matrix dieses Rechners einen Besuch abstatten und herausfinden, wer meine kurze Geschichte, die mit Lust und Mühe geschrieben wurde, ungelesen versteckt, verschoben, gelöscht oder geklaut hat. Vielleicht liegt sie irgendwo auf dem Boden einer riesigen Festplatte und wartet verzweifelt auf ihren Autor. Mich erwartet eine gefährliche Mission, der Auftrag lautet: finde die Dateileiche, erwecke sie zum Leben und überführe ihren Mörder.
„Hallo!“
Erstaunen, so also hallt es in einem virtuellen Raum.
„Haaaallo!“
Ich wusste nicht, wie er klingen wird, der gute Ton im weltweiten Netz, um den wir uns doch stets bemühen. Diffuse Vorstellungen hatte ich, ja, sogar Angst, wenn ich ehrlich bin. Angst davor, dass sich die Schallwellen elektronisch verstärken und verzerren. Töne können einen Menschen zum Wahnsinn treiben, bevor die Trommelfelle platzen. Nun, es klingt, wie soll ich sagen, seltsam elektrisch, nach einem menschlich elektronischen Gemisch, fast schon ... psychotronisch, auf jeden Fall fremd. Ich werde mich daran gewöhnen.
„Ich bin’s, der Neue!“
Leider hallt nur meine eigene Stimme.
„Halloooo!“
Nichts. Psychotronische Stille hört sich genauso an wie die Stille in unseren Köpfen in unserer Welt.
„Hallöchen!“ Das klingt albern, ich weiß.
Endlich vernehme ich die ersehnte Antwort: „Jetzt hör doch auf mit dem Gekreische.“
„Hä?“
„Schnauze!“
Kontakt! Ich balle die Faust, der Arm geht nach oben.
Beschreibe eine Lösung für ein kompliziertes Problem und du kannst sagen: So geht das.
Höre in einem virtuellen Raum und du kannst sagen: Hören geht.
Geht aber auch Sehen?
Und wenn Hören und Sehen gegangen sind, wären sie dann weg, und wenn ja, wohin?
Und wie ist das erst, wenn einem Hören und Sehen vergangen sind? Haben sie dann noch eine Zukunft?
Wie ist das also mit dem Sehen?
„Entschuldigen Sie bitte, ich störe Sie ungern, aber doch mit Absicht.“
„Aha.“
Die Stimme kommt von links hinten, ich drehe mich in diese Richtung.
Mit dem Sehen ist es ziemlich trivial. Ich schaue auf einen riesigen Haufen von Nullen und Einsen, alle in ständig zuckender Bewegung. Ich sehe Anderes, als in unserer vertrauten Welt.
Der Haufen blafft mich an: „Ich kenne Sie nicht. Wie kommen Sie hier herein? Sind Sie registriert? Ihr Login bitte.“
Ist das nun der Hausmeister oder nur ein einfacher Wichtigtuer?
„Ähm, ja, nein, nicht so richtig. Das ist nicht so einfach zu erklären.“
„Wieso stehen Ihnen die Haare so ab?“
Er kann mich also sehen. Oder sieht mich eine Sie? Am Klang der Stimme ist das Geschlecht nicht zu erkennen. Es sieht mich, wahrscheinlich genauso scharf wie ich Ihn / Sie sehe, nämlich so gut wie gar nicht, ich habe eine Glatze, keine abstehenden Haare.
„Wissen Sie, ich habe Ihre Firewall überwunden, was, nebenbei bemerkt, nicht allzu schwierig war.“
„Ach so.“
„Ich bin auf der Suche nach einer von mir eingestellten Kurzgeschichte, die nach ihrer Veröffentlichung spurlos verschwunden ist.“
„Davon weiß ich nichts.“
„Ja, schon klar, die meisten wissen von vielem nichts. Und das Viele geschieht trotzdem.“
„Was? Was geschieht?“
Okay. Ich habe vorausschauend einen kleinen, mit anständigem Whisky gefüllten Flachmann bei mir und nehme einen kräftigen Schluck. Ich bin auf dem richtigen Weg, nur am falschen Platz. Also gehe ich weiter. Scheiß auf die Registrierung,
Um nicht mit der Erklärung zu langweilen, wie kompliziert die Orientierung in einem Datensystem zu Fuß ist, bringe ich es gleich auf den Punkt: es ist sehr kompliziert.
Die wesentliche Kunst der elektronischen Ausspähung im laufenden Betrieb durch physischen Einsatz in Echtzeit liegt darin, einen entfernten und stark verlangsamten Blick zu entwickeln. Damit gelingt es mir, erst einzelne Wörter, dann Satzfragmente und endlich ganze Abschnitte aus den fliegenden Datenbeständen zu filtern.
Nur mit gehörigem Abstand verstehen wir die großen Zusammenhänge.
In manchen Worten erkenne ich Namen. Kasimir, die Herrscher von Tschechen, Pommern, Polen, Auschwitz oder Beuthen, uralte, längst abgedankte Seelen grüßen freundlich. Pandora, die erste Frau auf Erden, das schöne Übel, die, mit der Büchse. Rätselhafte Masken wie Katzano, Sim, Abraxas. Weltenrettender Weltenläufer mit Mission Impossible. Ein Schrei Bär wurde gesehen. Und Dreimeier, als würde einer nicht genügen. Dreimeier, wie schmecken Eier aus Dreim? Weiter dreht sich das Karussell: Verrat riechende Ohren fliegen mir entgegen, Bolte’s Suppenhühner mit Fäden. „Dass wir es nicht sehen, bedeutet nicht, dass es nicht da ist.“ Ha, sag ich doch! Sie ist da und ich werde sie finden. „Niemand bleibt hier der, der er war, bevor er kam.“
Eine Drohung oder ein Versprechen?
Achtung, Gefahr, Großalarm, Adrenalin! Grammatikschlingen greifen nach mir! Testosteron tröpfelt. Warum heißt der Apfelwein nicht Äpfelwein. Wie doppelplusquamperfekte ich in der Umgangssprache? Klare Sache, allzu sorglos spazierte ich durch den Datenbestand, zu spät sehe ich die zwei Genitivattribute, die mir den Weg versperren, links ein Genitivus explicutives, rechts ein Vertreter der Gattung Genitivus Qualitatis. Sie verlangen knurrend ihre korrekte Verwendung.
Mein Kaltschweiß gefriert, der Whisky hilft: „Laster der Trunksucht!“, ruf ich dem ersten zu und „Ich bin ein Mensch guten Willens!“, dem zweiten. Treffer! Sie sinken in sich zusammen, verflüssigen sich, zwei Pfützen verlieren ihre Ränder, züngelnde Rinnsale fließen aufeinander zu, chemische Reaktionen erzeugen Blitze und Donner, Nebel steigt auf, verhüllt und entweicht und – ein wunderschöner weiblicher Avatar steht vor mir.
Geigen, vermutlich synthetisch von einem Keyboard erzeugt, erklingen.
„Hi“, sage ich.
Ein magnetisches Spannungsfeld raubt mir die Sinne, knisternde, elektrische Erotik stählt meinen Körper und schwächt meinen Geist.
„Ich bin der Jürgen.“
Nach einem kurzen, eher schlichten Koitus reicht mir die Dame des Linux-Servers einen Apple mit den Worten: „Deine Geschichte wurde von niemandem gelöscht, sie wurde nicht einmal entführt. Sie ist einfach zerflossen. Sie versickerte in den vielen Rubriken, in Science Fiction, in Spannung/Krimi, in Seltsam und Humor, in alltägliche Gesellschaftssatire, in philosophisch erotische Weihnachtsgedanken, sie eignete sich märchenhaft für Kinder und Jugendliche genauso wie für Mundart sprechende Historiker. Sie war - alles. Sie war der komplette Inhalt eines Luftballons. Und der ist einfach geplatzt.“
Quatsch. Nur, weil ich mit ihr geschlafen habe, lasse ich mir nicht so einen Mist erzählen. Hier geht es nicht um Kommentare, um Beiträge, nicht um Diskussionen über Stil oder Grammatik, hier geht es nur um eines: um das Überleben meiner verlorenen Geschichte. Ein Griff zum Flachmann, ein Schluck und weiter geht’s. Alkohol löst keine Probleme, aber er macht Mut, zumindest bis zum nächsten Kater. Ohne Mut erweckt hier niemand seine erste Geschichte zum Leben.
Technische Sperren, Grammatikfallen, Cybersex, was erwartet mich als nächste Prüfung?
Spinnweben.
Klingt blöd, ist aber so. Ich muss mich in einem wenig besuchten Winkel der Dateiablage befinden. Echte Spinnweben, silbrig glänzende, elastisch klebrige Spinnweben vernetzen riesige Flächen zusammenhängender Datenfragmente. Hier wurden augenscheinlich schon seit langer Zeit keine Informationen mehr abgerufen. Ich stehe vor dem Abgrund untergegangener Geschichten, am Ufer des Meeres der Verlorenen und Vergessenen, vor einem digitalen Zentralfriedhof versunkener Wörter, vergeblicher Gedanken.
Vielleicht auch vor einem Hort der böswillig Gelöschten? Liegen hier die Dateileichen? Die elend krepierten magnetischen Produkte menschlicher Schöpfung? Finde ich hier meine verlorene Geschichte? Sollte es einen Täter geben, ich werde ihn finden!
„Erzittere, Leser, wenn Du mehr weißt, als ich. Nutze Deine verbleibende Zeit zur Flucht.“
Der Duft des Schlafes verbreitet sich über diese Plattenzonen, ausgeatmet von Erzählungen, die keiner mehr liest. Über gigantische Giga- und Terrabyte große Speicherbereiche erstrecken sich gasende Mülldeponien, stinkende Kläranlagen, trockene Wüsten, unerforschte Tiefen, glitzernde Perlen.
Sollen die Archäologen der Literatur nach den Schätzen graben, mich interessiert nur eines: wo ist sie, die eine, meine Geschichte? Dass ich sie hier finden werde, ist für mich längst keine Frage mehr; ich fühle es. Nein, ich weiß es.
Geduldig trenne ich mit der Nagelschere Faden um Faden. Schnipp und Schnipp und Schnipp und, wenn es sein muss, auch mit einem Schnapp, so schneidet die Maus den Faden ab. Und wenn es hundert Jahre dauern soll, ich werde weiter schneiden, bis meine Geschichte erwachen wird. Ich sehe sehr wohl, dass sich das Netz hinter mir wieder schließt, was soll’s, ein Zurück kann es eh nicht geben. Zeit spielt keine Rolle. Wenn die Uhr zuviel Minuten zeigt, warte ich ab, bis die Stunde voll ist. Dann beginnt die Zählung wieder bei eins. Die Ungeduld atme ich ein – und wieder aus. Die Spannung ertrage ich. Die düsteren Gedanken leite ich in ein Nichts. Ich schneide und schneide, gehe Schritt für Schritt und schließlich kommt es, wie es nicht anders kommen kann: ich stehe vor ihr! Vor meiner Geschichte. Ich erkenne sie wie eine Mutter ihr Kind, wie der Herr seine Schöpfung.
Doch der zweite Blick erstickt meine Freude: sie liegt im Sterben! Die Symptome sind eindeutig: kaltschweißige Sektoren, nur noch flache, unregelmäßige magnetische Resonanzen, kaum wahrnehmbare Reaktionen auf Lichtimpulse. Das typische Krankheitsbild einer hochgradigen Datasepsis im Endstadium. Meine kleine Geschichte musste sich beim Hochladen auf den Server stark infektiöse Computerviren eingefangen haben. Und so jung und zart wie sie war, so ungelesen und unkommentiert, hatte sie den aggressiven Angreifern nichts entgegen zu setzen. Wie ein bösartiges Krebsgeschwür, das tief in gesundes Gewebe fasert und massiv Metastasen streut, verbreiten sich die fremden Datenstrukturen in meinem geschriebenen Werk.
Eine deprimierende Diagnose, meine Augen brennen, ich schlucke, ich blinzel, jetzt bloß nicht in Tränen ausbrechen, die Gefahr eines Kurzschlusses ist zu groß. Wasser auf Strom und dann geht gar nichts mehr.
Obwohl ..., ein verwegener Gedanke, ein Spiel mit dem Feuer. Wenn es mir gelingen würde, die Stromzufuhr zu unterbrechen und ich so die Festplatten zum Stehen bringen könnte, ohne Strom wäre die Virulenz gleich Null. Ich könnte dann die Datenblöcke mechanisch linear auslesen und die eindeutig identifizierten Bits meiner Geschichte in einen freien Plattenbereich verschieben.
Wenn ich es schaffe, alle Fragmente in die richtige Reihenfolge zu bringen, die Übergänge fehlerfrei zu erstellen und den Eintrag in der Indexdatei auf die neuen Koordinaten umbiegen kann, bevor die Administratoren das System neu starten, dann, und nur dann, gäbe es eine kleine Aussicht auf Erfolg.
Doch was wird sein, wenn der Strom wieder fließt, bevor alle Arbeitsschritte abgeschlossen sind? Vielleicht rette ich das Leben der einen, meiner Geschichte und vernichte die der Anderen? Meide ich das Risiko und sehe tatenlos zu, wie meine ... ? Was kümmern mich die anderen?
„Was kümmern mich eure gesammelten Werke?“
Was nur, was soll ich tun?
Die Spinnweben greifen nach mir.
„Ihr habt fünf Minuten, um eure Daten zu sichern. Sagen wir zehn, nicht länger, ich kann nicht länger warten.“
Noch neun Minuten.
„Bewegt euch.“
Noch acht.
„Macht schon.“
Sieben.
„Versteht ihr nicht? Das ist kein Spiel!“
Sechs.
...
Fünf.
„Sie stirbt.“
Vier.
„Ihr glaubt mir nicht, weil ihr mich hinter diesen Zeilen nicht sehen könnt?“
Drei.
„Sagt mir doch, was ich tun soll ...“
Zwei.
...
Ein ...
e Hand legt sich auf meine Schulter. Hinter mir steht der Webmaster, ein kräftiger Kerl in schwarzen Klamotten, mit kurzen Haaren und freundlichen Augen und einer Flasche Bier in der Hand.
„Brauchst du Hilfe?“
Ob ich Hilfe brauche? Was für eine Frage!
„Sie stirbt“, zische ich und aus meinen Augen lodert ihm Feuer entgegen. Er ist der Verantwortliche!
„Lass mich nach ihr schauen.“ Er umfasst mich sanft, zieht mich nach oben. „So schnell stirbt hier niemand.“
Mein Gefühl sagt mir, dass er mich für einen Hypochonder hält. Gleichzeitig wirkt er aber so souverän und professionell, dass ich beschließe, ihm zu vertrauen. Freundlich, aber bestimmt schiebt er mich aus seinem Server, durch den Hinterausgang am Netzlüfter entlang. Der Wind streicht mir über die Glatze, das Getöse wird immer lauter. Er schreit mir noch etwas ins Ohr, dann kehrt er zurück.
Erschöpft finde ich mich an meinem Schreibtisch wieder, überhitzt, verschwitzt, staubig, voller Spinnweben, aber glücklich. Wegen seinen letzten Worten.
Was er sagte?
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