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Demjaniw Las
Es war mitten in der Nacht, als ein Lastwagen aus der Stadt Iwano-Frankiwsk kam. Er fuhr von der asphaltierten Straße ab, um zwischen einigen Hügeln über die wilden Wiesen zu fahren. Es war so dunkel, dass man ihn ohne das Licht der Scheinwerfer oder das Geräusch des laufenden Motors nicht bemerkt hätte. Zwei Männer in den beigen Uniformen der sowjetischen Armee sprangen auf die Ladefläche und begannen, die Ladung vom Laster zu zerren. Weitere Männer kamen hinzu, um sie entgegenzunehmen. Es herrschte Stille. Ein Oberfeldwebel überwachte die Arbeiten ohne selbst daran teilzunehmen. Niemand sprach. Kaum, dass der Laster entladen war, rollte auch schon der Nächste heran. Als er näher kam, beleuchteten seine Scheinwerfer das, was die Soldaten entladen hatten: Leichen.
Während eine Gruppe Leichen von den Lastwagen lud, schleppte eine andere Gruppe die Toten zu einem hastig ausgegrabenen Loch und warf sie hinein. Die leblosen Körper rollten in ihr liebloses Grab. Ein Soldat schaute bei der Arbeit in das Loch und sah in das Gesicht eines mittelalten Mannes. Der Mann hatte graue Augen und buschige Augenbrauen, ein breites und flaches Gesicht mit einer flachen Nase, als ob er einmal gegen eine Wand gelaufen wäre. Der Soldat folgte mit dem Blick dem Leichnam, wie er langsam die Grube hinabglitt und am Boden liegen blieb, zwischen den anderen Leichen. Es war nicht erschreckend, dass er tot war. Erschreckend war, dass er so wirkte, als wäre er es nicht. Man hätte meinen können, er würde jeden Moment aus dem Menschenhaufen herausklettern und zu den Soldaten aus der Grube heraufsteigen, wäre da nicht das Loch in seinem Schädel. Schließlich fuhr der letzte Lastwagen ab und die Grube verschwand in der Dunkelheit.
Plötzlich stand der Oberfeldwebel neben dem Soldaten. „Keine Lust mehr zu arbeiten, Soldat?“, fragte er: „Brauchen Sie eine kleine Pause?!“ Der Soldat starrte immer noch in die Dunkelheit, in der die Leblosen jetzt lagen. „Wer waren die, Herr Oberfeldwebel?“, fragte er.
„Das braucht Sie nicht zu interessieren, Soldat! Wer auch immer sie waren, sie sind jetzt tot und verscharren sich deshalb nicht von selbst.“
„Aber warum mussten sie sterben? Was haben sie denn gemacht?“ Statt eine Antwort zu geben, sah der Oberfeldwebel seinen Untergebenen nur warnend an.
„Ich will nur wissen warum. Warum sind sie gestorben? Warum vergraben wir sie in der Nacht? Am Tag ist es doch viel einfacher!“ Der Oberfeldwebel schwieg beharrlich weiter und drückte dem Soldaten eine Schippe in die Hand.
Der Soldat begann mit der Schaufel die Leblosen in der Grube mit Erde zu bedecken, ließ aber nicht locker. „Ich meine ja nur!“
„Sie wollen wissen, was die da gemacht haben?“ Der Oberfeldwebel zeigte mit dem Finger in die Dunkelheit. „Die haben auch zu viele Fragen gestellt! Darum liegen die da!“ Der Soldat erwiderte nichts. „Wenn Sie etwas wissen wollen, dann fragen Sie sie doch!“, sagte der Leutnant: „Los! Gehen Sie schon, gesellen Sie sich zu ihnen!“ Doch der Soldat hatte verstanden und schaufelte stillschweigend das Massengrab zu, wie die Anderen.
Der Soldat blieb noch einige Tage in der Stadt stationiert. Auf einer Routinepatrouille fiel ihm eine Frau auf, die durch die Stadt wankte. Sie wirkte heruntergekommen und völlig verstört. „Haben Sie meinen Mann gesehen? Sie haben ihn vor ein paar Wochen mitgenommen, aber ich weiß nicht warum oder wohin?“ Die Frau hielt dem Soldaten ein Familienfoto hin. Neben ihr erkannte der Soldat einen mittelalten Mann. Graue Augen, buschige Augenbrauen. Breites, plattes Gesicht, flache Nase, so als wäre er mal gegen eine Wand gelaufen.
„Stellen Sie keine Fragen, gute Frau! Das ist besser für Sie.“, murmelte der Soldat und ging er weiter. Doch die leblosen Augen des Mannes, vergraben bei Demjaniw Las gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf.