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Der alte Kahn und das Meer

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10.07.2002
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Der alte Kahn und das Meer

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fielen auf das Gesicht eines bekannten Rächers. Er gähnte und streckte sich. Dann sprang er mit einem entschlossenen Satz aus dem Bett. Noch bevor er das Nachthemd auszog, setzte er die schwarze Maske auf und schnallte sich seinen Degen um. Zorro war bereit für einen neuen Tag.

„Schau, was ich dir mitgebracht habe“, sagte der Kapitän zu dem alten Kahn und wühlte in den Taschen seiner Regenjacke. Er wühlte und wühlte, ohne das Gesuchte zu finden. Schließlich setzte er sich auf einen Poller und ließ die Hände auf die Oberschenkel fallen. „Ich wollte dir ein Stück vom Meer schenken, aber ich habe es wohl verloren“, sagte er.
’typisch kuddel. absolut orientierungslos. ohne kompass findet er nicht mal den weg in seine unterhose. wie wohl ein stück vom meer aussieht?’, dachte der alte Kahn und dümpelte weiter vor sich hin.

„Zorro?“
„Nennt mir den Namen der holden Schönheit, die dies zu wissen wünscht, auf dass ich ihr in der Kathedrale meines Herzens eine Kerze weihen kann.“
„Francine“, sagte Francine.
„Welch Ungemach führt dich, Francine, in mein bescheidenes Reich, welches ich in einem Anfall von Übermut das Heim des einsamen Rächers zu nennen wagte?“
„Mir ist was geklaut worden.“
„Welch verwerflich Freveltat. Wohlan, lasst uns Rosinante satteln, den garstig Gauner zu stellen, auf dass man ihn seiner gerechten Strafe zuführen möge.“
Sprach’s, sprang auf und stolperte über den Degen.
„Bockmist, verdammter. Will sagen: Welch teuflisch Ränkespiel ließ mich diesen unsicheren Schritt wagen? Glaubt ihr, holde Maid, wir benötigen den Schutz dieses geschärften Stahls, um den liederlichen Lumpen zu fassen?“
„Keine Ahnung. Die holde Maid würde vielmehr interessieren, warum du so geschwollen daher redest und wen du überhaupt verfolgen willst.“
„Vortrefflich Frage, fürwahr“, antwortete Zorro und rappelte sich auf. Er nahm eine Tasse vom Schreibtisch und ging zur Kaffeemaschine. „Nur ein Narr rennt blindlings durch die Ansammlung ärmlicher Hütten, Gelsenkirchen genannt; der Weise hingegen findet die Antwort in der Gelassenheit und dem Genuss einer Tasse dieses köstlichen Muselmanentrunks. Auch eine?“

„Martha, noch n Pils und n Schnäpsken.“
„Mensch, Hein, hast du noch nicht genug? Ist ja noch nicht mal Mittag.“
„Mach hinne und hör auf, rumzunörgeln. Das kann meine Alte viel besser.“
„Wie die Else das mit dir überhaupt aushält? Hier, dein Pils. Was hast du denn da?“
„Ich? Ich dachte, das Ding gehört dir. Steht schon die ganze Zeit auf der Theke.“
„Mir? Was soll ich damit? Bei mir gibt’s nur Soleier. Gib her, ich werfe es weg.“
„Lass man. Bringt vielleicht noch n Heiermann auf’m Trödel.“

„Ein wohlfeil Mitbringsel aus fernen Landen also“, sagte Zorro.
„Ein Geschenk meiner Schwester. Wenn Paula erfährt, dass es geklaut wurde, bringt sie mich um.“
„Wer, außer der geliebten Schwester, hatte noch Kenntnis von der Existenz dieses Präsents?“
„Niemand. Sie hat es mir ja erst gestern gegeben. Oh, Moment. Mein Onkel hat mich heute Morgen besucht. Aber er wird doch nicht...?“
„Der Weise spricht: Es kann einer noch so graue Haare haben, der Teufel wird ihn dennoch in Versuchung führen. Wohlan, nennt mir die Behausung Eures Oheims, auf dass wir die Schatten des Zweifels vertreiben.“

„Hey, Kuddel, was machst du denn für’n Gesicht?“, rief Hein und hieb dem trübselig vor sich hin starrenden Kapitän auf die Schulter.
Kuddel schaute auf und lächelte. „Hein, alte Schnapsnase, wir haben uns ja schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen.“
„Und doch sofort erkannt“, grölte Hein.
„Hein, ich glaub, ich habe eine große Dummheit gemacht“, sagte der Kapitän.
„Erzähl“, sagte Hein, „aber vorher müsste ich kurz deine Kombüse entern. Du hast doch sicher noch n Pilsken für’n alten Seemann.“

„Da vorne links“, brüllte Francine und fuchtelte mit ihrer linken Hand vor Zorros Helm herum. Zorro hatte alle Mühe, die Harley in der Spur zu halten. Francine hörte auf zu fuchteln und klammerte sich fester an den Rächer aus Gelsenkirchen.
Zorro spürte ihre Brüste in seinem Rücken und wäre fast in den Rhein-Herne-Kanal gefahren. Mit einer Vollbremsung brachte er die Harley zum Stehen.
„Ah, welch Odem nach Freiheit, nach Abenteuer umweht diesen Ort. Stolze Dreimaster, der Mannschaft beraubt, harren der nächsten Kaperfahrt; hier liegt eine Fregatte vor Anker, dort eine Karavelle“, philosophierte er, nachdem er den Helm abgenommen hatte. „Betörend duftet es nach Curry, Koriander und Zimt und ich vermeine sogar das feine Aroma von Kardamom zu erschnuppern.“
„Zorro! Wir sind hier im Stadthafen Gelsenkirchen. Es stinkt nach Diesel und Altöl, altem Bratfett, Currywurst und Pommes Rot-Weiß, und die einzigen Schiffe, die hier vor Anker liegen, sind holländische Frachter. Der Kutter meines Onkels ist übrigens da vorne.“
„Wohl denn, lasst uns geschwind...“, fing Zorro an, brach ab und eilte Francine hinterher.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Francine erreichte mit einem keuchenden Zorro im Schlepptau den Ankerplatz des Kahns ihres Onkels und biss sich ob des doppelten Genitivs auf die Zunge. Kuddel erschrak beim Anblick seiner Nichte und wusste nicht, wie er ihr den Diebstahl gestehen sollte. Zorro wiederum japste nach Luft, beneidete den Kapitän um den Poller und beschloss zum hundertsten Mal, mit dem Rauchen aufzuhören. Der Kahn ließ sich durch all diese Ereignisse nicht aus der Ruhe bringen und dümpelte weiter vor sich hin. Für einen kurzen Moment hielt die Zeit den Atem an. Dann kam Hein, in jeder Hand eine geöffnete Bierflasche haltend, aus der Kombüse, stolperte über ein sinnlos vor sich hindösendes Tauwerk und focht einen verzweifelten Kampf gegen die Schwerkraft. Die Schwerkraft siegte, Hein fiel und das Klirren zerbrechenden Glases schreckte die übrigen Anwesenden aus ihrer Lethargie.
„Francine, ich weiß nicht, wie...“
„Onkel!“
„Meine Treu, ein wahrlich imposantes Schauspiel!“
Letzteres galt dem gefallenen Hein, der längelang auf dem Kahn lag, beide Arme nach vorne gestreckt und sich darüber freute, keinen Tropfen verschüttet zu haben. Mühsam rappelte er sich hoch, stellte die Bierflaschen ab und griff in seine rechte Jackentasche.
„Mist, verdammich. Alles voller Sand.“ Er stülpte die Tasche nach außen, wobei Sand und Glassplitter herunterrieselten.
„Meine Eieruhr!“
„Francine, ich weiß nicht, wie...“
„Ein wohlfeiles Geschenk, fürwahr. In diesem Zustand jedoch...“
„Halt die Klappe, Zorro!“

Von all dem Getöse erwachte der Kahn. ’was ist denn das? es riecht plötzlich nach sonne, sand und meer. guter, alter kuddel. hat er mein geschenk doch noch gefunden.’ Und während der Sand in die Ritzen seiner Planken rieselte, segelte der alte Kahn über das Meer. Von Delfinen begleitet durchpflügte er Wellenberge, genoss die schäumende Gischt und die sengende Sonne der Karibik. Am Horizont konnte er die Fluke eines tauchenden Wals erkennen und ein Oktopus wollte als Anhalter mitgenommen werden. Ein Albatros ließ sich auf der Spitze des Besanmastes nieder und erzählte von fremden Küsten und fernen Ländern. Der alte Kahn hörte fasziniert zu, doch schließlich wurde er müde und schlief ein. Und träumte.

Stunden später betrat ein junger Mann in grünen Hosen Marthas Kneipe. Ein mit einer Habichtfeder geschmückter Hut zierte sein Haupt, ein Köcher mit Pfeil und Bogen hing ihm über die Schulter und seine Schuhe waren bis zu den Waden geschnürt. Robin Hood war bereit für die Nacht. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Salut George Goodnight,

Wahrscheinlich liegt es eher an mir als an Deiner Geschichte, aber ich muß gestehen, daß ich schlichtweg überfordert war.

Ich habe vergeblich nach lustigen Pointen Ausschau gehalten, aber fand bis auf die recht witzige Ausdrucksform Zorros, nicht viel zum Lachen.

Meine Lieblingsstelle ist:

„Bockmist, verdammter. Will sagen: Welch teuflisch Ränkespiel ließ mich diesen unsicheren Schritt wagen?

Natürlich ist die ganze Idee, die dahinter steckt recht witzig - ein Held vergangener Tage in der Neuzeit - aber leider auch nicht mehr. Mit der erzählten Geschichte konnte ich nicht wirklich was anfangen.

Tut mir leid, aber ich konnte nicht darüber lachen und glaube, daß die Geschichte besser in der Rubrik "Seltsam" aufgehoben ist, als hier.

mfg stille Feder

 

Hallo Stille Feder,

ich finde die Geschichte eigentlich gar nicht seltsam, aber das liegt wahrscheinlich daran, dass ich gegenüber meinen eigenen Geschichten betriebsblind bin :rolleyes:

Doch je länger ich darüber nachdenke, umso mehr muss ich Dir Recht geben. Besonders humorvoll ist sie nicht:(
Also, wo ist der nächste Moderator, der mir die Geschichte nach "Seltsam" verschieben kann?

Danke Dir für's Lesen und Kommentieren.

Viele Grüße
George

 

Also - ich weiss nicht, was ihr habt! Ich habe gut gelacht bei der Geschichte! Und die Pointe ist doch cool...

 

Hallo ihr zwei,

vielen Dank für die aufmunternden Worte.

Der mir treuen Leserin Anna sei versichert, dass ich zukünftig bei Verwendung fachsprachlicher Ausdrücke vorab den Duden konsultieren werde :rolleyes:

Du hast -natürlich- Recht. In den Taschen einer Kopfbedeckung zu wühlen, ist nicht möglich. Werde sofort aus dem Südwester eine Regenjacke machen. Dabei war ich mir so sicher, die Bedeutung des Begriffs Südwester zu kennen. Habe mich aber getäuscht und hätte besser vorab den Duden konsultiert :(
So viel zu dem Thema Recherche. Gleiches gilt für den Degen.

Zerknirschte Grüße
George

 

Mit einem Wort: lustig!
Verdammt, das waren vier Wörter - dann kann ich ja auch gleich ... Moment.

"Ansammlung ärmlicher Hütten, Gelsenkirchen genannt" :lol:
Hey, ich wohne in einer dieser ärmlichen Hütten :D

"Zorro spürte ihre Brüste in seinem Rücken und wäre fast in den Rhein-Herne-Kanal gefahren." :rotfl:

Du lässt ganz verschiedene Helden-Typen aufeinander prallen, und das in Gelsenkirchen. Der letzte Absatz zeigt nochmal, dass dies ganz und gar alltäglich ist (äh?), die Zorro-Episode nur das: eine Episode.

Wenn Du Robin Hood aus dem Gelsenkirchner Stadtwald, äh, Spiel lassen würdest, könntest Du Zorro übrigens einfach umbenennen. So hat das alles etwas von Satire.

Die spannende (aber angesichts des witzigen Stils nebensächliche) Frage, worum es sich bei dem Geschenk handelt, wird trefflich gelöst, die Szene mit dem alten Kahn in der Karibik fällt dann richtig romantisch aus.

Fazit: Sprachlich rund, gut erzählt, inhaltlich abwechslungsreich und vor allem sehr witzig. Gibt ne Empfehlung aus Gelsenkirchen ;)

Uwe
:cool:

 

Hallo Uwe,

dass Dir als einem Bewohner dieser ärmlichen Hütten :D die Geschichte gefällt, freut mich natürlich besonders.

Vor Jahren bzw. vor Jahrzehnten (Mensch, wie die Zeit vergeht) habe ich ein Lied von Georg Kreisler gehört, in welchem er den Gelsenkirchener Charme beschrieben hat. Vielleicht kennst Du das Lied. Es heißt: "Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen". Seit dieser Zeit bin ich ein Fan Gelsenkirchens (wenn auch nicht von S04). Diese Liebe zum Ruhrpott wurde noch verstärkt durch die wunderbaren Romane von Karr/ Wehner (ich sach nur: Gonzo) und Conny Lens (Steeler Straße).
Und zur Lesung im Januar werde ich endlich mal wieder nach Gelsenkirchen kommen. :bounce:

Wenn auch nicht im Ruhrpott geboren, versuche ich mich immer mal wieder an Geschichten, die eben dort spielen. So habe ich noch ein Opus mit Namen "Raus aus Herne" auffe Festplatte liegen, das der Veröffentlich harrt. Es ist allerdings mehr eine Szene denn eine KG. Ich werde in den nächsten Tagen mal versuchen, das Ganze in eine Kurzgeschichtenähnliche Form zu gießen und hier zu veröffentlichen.

Was ich eigentlich sagen wollte: Danke für den Kommentar. :)

Viele Grüße
George

 

Gude!

Wie sescht man bei uns so schön härrlisch, einfach härrlisch! :D

Ich finde, es hat so leicht wahnsinnige Tendenzen, ergo genau mein Geschmack. :cool:

Habe definitiv nichts auszusetzen und bin gespannt auf weitere geistige Ergüsse!

So long

PI

 

Lieber George!

Man muß in keiner dieser »ärmlichen Hütten« wohnen, um sich bei Deiner Geschichte köstlich zu amüsieren! :thumbsup:

Ganz besonders lieb find ich den in Kleinbuchstaben denkenden alten Kahn, wie er sich über den Sand freut und von einer Fahrt übers Meer träumt… :)

Eines interessiert mich aber ganz brennend: Was sind »Pommes Rot-Weiß“? :susp:

Daß das Glas einer Eieruhr (meist sehr dünn) so laut klirrt, daß es jemanden aus der Lethargie schrecken kann, nehm ich Dir zwar nicht ganz ab, aber es stört nicht in dieser rundum lustigen Geschichte. ;)

Eine Handvoll Kleinigkeiten:

»wie wohl ein stück vom meer aussieht?’ dachte der alte Kahn«
– aussieht?’, dachte

»„Vortrefflich Frage, fürwahr“, antwortete Zorro«
– hier würde ich ein „Welch“ davorsetzen: Welch vortrefflich Frage, fürwahr

»Der Kutter meines Onkels ist da übrigens da vorne.«
– das erste „da“ ist zuviel

»auf dem Kahn lag, beide Arme noch vorne gestreckt«
– nach

»genoß die schäumende Gischt und die sengende Sonne der Karibik«
– genoss


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Liebe Susi,

vielen Dank für die lobenden Worte. Schön, dass Dir die Geschichte gefallen hat. Wenn ich mich richtig erinnere, waren der alte Kahn und seine in Kleinbuchstaben formulierten Gedanken der Auslöser für diese Geschichte. Freut mich, dass "er" bei Dir so gut ankam :)

Die von Dir aufgeführten Fehler werde ich gleich korrigieren. Wahnsinn, was Du immer wieder entdeckst. Deinen Argusaugen entgeht aber auch gar nichts - oder ;)


Pommes Rot-Weiß sind übrigens Pommes mit Ketchup (rot) und Mayonnaise (weiß). Mein letzter Besuch des Ruhrgebiets liegt schon ein paar Tage zurück, aber wenn ich mich richtig erinnere, lautet eine typische Bestellung an einer Frittenbude:

"EineCurrywurstdoppeltePortionPommesrotweißeinPils"

Gesprochen ohne Punkt und Komma und vor allen Dingen, ohne einmal Luft zu holen :cool:

Liebe Grüße
George

 

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