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Der alte Kahn und das Meer
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fielen auf das Gesicht eines bekannten Rächers. Er gähnte und streckte sich. Dann sprang er mit einem entschlossenen Satz aus dem Bett. Noch bevor er das Nachthemd auszog, setzte er die schwarze Maske auf und schnallte sich seinen Degen um. Zorro war bereit für einen neuen Tag.
„Schau, was ich dir mitgebracht habe“, sagte der Kapitän zu dem alten Kahn und wühlte in den Taschen seiner Regenjacke. Er wühlte und wühlte, ohne das Gesuchte zu finden. Schließlich setzte er sich auf einen Poller und ließ die Hände auf die Oberschenkel fallen. „Ich wollte dir ein Stück vom Meer schenken, aber ich habe es wohl verloren“, sagte er.
’typisch kuddel. absolut orientierungslos. ohne kompass findet er nicht mal den weg in seine unterhose. wie wohl ein stück vom meer aussieht?’, dachte der alte Kahn und dümpelte weiter vor sich hin.
„Zorro?“
„Nennt mir den Namen der holden Schönheit, die dies zu wissen wünscht, auf dass ich ihr in der Kathedrale meines Herzens eine Kerze weihen kann.“
„Francine“, sagte Francine.
„Welch Ungemach führt dich, Francine, in mein bescheidenes Reich, welches ich in einem Anfall von Übermut das Heim des einsamen Rächers zu nennen wagte?“
„Mir ist was geklaut worden.“
„Welch verwerflich Freveltat. Wohlan, lasst uns Rosinante satteln, den garstig Gauner zu stellen, auf dass man ihn seiner gerechten Strafe zuführen möge.“
Sprach’s, sprang auf und stolperte über den Degen.
„Bockmist, verdammter. Will sagen: Welch teuflisch Ränkespiel ließ mich diesen unsicheren Schritt wagen? Glaubt ihr, holde Maid, wir benötigen den Schutz dieses geschärften Stahls, um den liederlichen Lumpen zu fassen?“
„Keine Ahnung. Die holde Maid würde vielmehr interessieren, warum du so geschwollen daher redest und wen du überhaupt verfolgen willst.“
„Vortrefflich Frage, fürwahr“, antwortete Zorro und rappelte sich auf. Er nahm eine Tasse vom Schreibtisch und ging zur Kaffeemaschine. „Nur ein Narr rennt blindlings durch die Ansammlung ärmlicher Hütten, Gelsenkirchen genannt; der Weise hingegen findet die Antwort in der Gelassenheit und dem Genuss einer Tasse dieses köstlichen Muselmanentrunks. Auch eine?“
„Martha, noch n Pils und n Schnäpsken.“
„Mensch, Hein, hast du noch nicht genug? Ist ja noch nicht mal Mittag.“
„Mach hinne und hör auf, rumzunörgeln. Das kann meine Alte viel besser.“
„Wie die Else das mit dir überhaupt aushält? Hier, dein Pils. Was hast du denn da?“
„Ich? Ich dachte, das Ding gehört dir. Steht schon die ganze Zeit auf der Theke.“
„Mir? Was soll ich damit? Bei mir gibt’s nur Soleier. Gib her, ich werfe es weg.“
„Lass man. Bringt vielleicht noch n Heiermann auf’m Trödel.“
„Ein wohlfeil Mitbringsel aus fernen Landen also“, sagte Zorro.
„Ein Geschenk meiner Schwester. Wenn Paula erfährt, dass es geklaut wurde, bringt sie mich um.“
„Wer, außer der geliebten Schwester, hatte noch Kenntnis von der Existenz dieses Präsents?“
„Niemand. Sie hat es mir ja erst gestern gegeben. Oh, Moment. Mein Onkel hat mich heute Morgen besucht. Aber er wird doch nicht...?“
„Der Weise spricht: Es kann einer noch so graue Haare haben, der Teufel wird ihn dennoch in Versuchung führen. Wohlan, nennt mir die Behausung Eures Oheims, auf dass wir die Schatten des Zweifels vertreiben.“
„Hey, Kuddel, was machst du denn für’n Gesicht?“, rief Hein und hieb dem trübselig vor sich hin starrenden Kapitän auf die Schulter.
Kuddel schaute auf und lächelte. „Hein, alte Schnapsnase, wir haben uns ja schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen.“
„Und doch sofort erkannt“, grölte Hein.
„Hein, ich glaub, ich habe eine große Dummheit gemacht“, sagte der Kapitän.
„Erzähl“, sagte Hein, „aber vorher müsste ich kurz deine Kombüse entern. Du hast doch sicher noch n Pilsken für’n alten Seemann.“
„Da vorne links“, brüllte Francine und fuchtelte mit ihrer linken Hand vor Zorros Helm herum. Zorro hatte alle Mühe, die Harley in der Spur zu halten. Francine hörte auf zu fuchteln und klammerte sich fester an den Rächer aus Gelsenkirchen.
Zorro spürte ihre Brüste in seinem Rücken und wäre fast in den Rhein-Herne-Kanal gefahren. Mit einer Vollbremsung brachte er die Harley zum Stehen.
„Ah, welch Odem nach Freiheit, nach Abenteuer umweht diesen Ort. Stolze Dreimaster, der Mannschaft beraubt, harren der nächsten Kaperfahrt; hier liegt eine Fregatte vor Anker, dort eine Karavelle“, philosophierte er, nachdem er den Helm abgenommen hatte. „Betörend duftet es nach Curry, Koriander und Zimt und ich vermeine sogar das feine Aroma von Kardamom zu erschnuppern.“
„Zorro! Wir sind hier im Stadthafen Gelsenkirchen. Es stinkt nach Diesel und Altöl, altem Bratfett, Currywurst und Pommes Rot-Weiß, und die einzigen Schiffe, die hier vor Anker liegen, sind holländische Frachter. Der Kutter meines Onkels ist übrigens da vorne.“
„Wohl denn, lasst uns geschwind...“, fing Zorro an, brach ab und eilte Francine hinterher.
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Francine erreichte mit einem keuchenden Zorro im Schlepptau den Ankerplatz des Kahns ihres Onkels und biss sich ob des doppelten Genitivs auf die Zunge. Kuddel erschrak beim Anblick seiner Nichte und wusste nicht, wie er ihr den Diebstahl gestehen sollte. Zorro wiederum japste nach Luft, beneidete den Kapitän um den Poller und beschloss zum hundertsten Mal, mit dem Rauchen aufzuhören. Der Kahn ließ sich durch all diese Ereignisse nicht aus der Ruhe bringen und dümpelte weiter vor sich hin. Für einen kurzen Moment hielt die Zeit den Atem an. Dann kam Hein, in jeder Hand eine geöffnete Bierflasche haltend, aus der Kombüse, stolperte über ein sinnlos vor sich hindösendes Tauwerk und focht einen verzweifelten Kampf gegen die Schwerkraft. Die Schwerkraft siegte, Hein fiel und das Klirren zerbrechenden Glases schreckte die übrigen Anwesenden aus ihrer Lethargie.
„Francine, ich weiß nicht, wie...“
„Onkel!“
„Meine Treu, ein wahrlich imposantes Schauspiel!“
Letzteres galt dem gefallenen Hein, der längelang auf dem Kahn lag, beide Arme nach vorne gestreckt und sich darüber freute, keinen Tropfen verschüttet zu haben. Mühsam rappelte er sich hoch, stellte die Bierflaschen ab und griff in seine rechte Jackentasche.
„Mist, verdammich. Alles voller Sand.“ Er stülpte die Tasche nach außen, wobei Sand und Glassplitter herunterrieselten.
„Meine Eieruhr!“
„Francine, ich weiß nicht, wie...“
„Ein wohlfeiles Geschenk, fürwahr. In diesem Zustand jedoch...“
„Halt die Klappe, Zorro!“
Von all dem Getöse erwachte der Kahn. ’was ist denn das? es riecht plötzlich nach sonne, sand und meer. guter, alter kuddel. hat er mein geschenk doch noch gefunden.’ Und während der Sand in die Ritzen seiner Planken rieselte, segelte der alte Kahn über das Meer. Von Delfinen begleitet durchpflügte er Wellenberge, genoss die schäumende Gischt und die sengende Sonne der Karibik. Am Horizont konnte er die Fluke eines tauchenden Wals erkennen und ein Oktopus wollte als Anhalter mitgenommen werden. Ein Albatros ließ sich auf der Spitze des Besanmastes nieder und erzählte von fremden Küsten und fernen Ländern. Der alte Kahn hörte fasziniert zu, doch schließlich wurde er müde und schlief ein. Und träumte.
Stunden später betrat ein junger Mann in grünen Hosen Marthas Kneipe. Ein mit einer Habichtfeder geschmückter Hut zierte sein Haupt, ein Köcher mit Pfeil und Bogen hing ihm über die Schulter und seine Schuhe waren bis zu den Waden geschnürt. Robin Hood war bereit für die Nacht. Aber das ist eine andere Geschichte.