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Der Anhalter

Seniors
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31.10.2003
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Der Anhalter

“There's a new guy in town
he's been dragging around
he's the figure of youth
and his eyes are so blue ...”


Jeff Morrison schlug den Takt mit den Daumen aufs Lenkrad und sang lautstark mit.
`Eine geniale Band, wirklich eine geniale Band!´ dachte er dabei immer wieder und sein Gesang wurde noch ein wenig lauter. Seit er denken konnte, gab es für ihn nur die Stones; okay, er hörte auch mal andere Musik, aber ...
Und jetzt spielten sie sie im Radio. Er hätte den DJ küssen können. Seine Laune war vorher schon gut gewesen, aber jetzt kam sie regelrecht einem ekstatischen Orgasmus gleich.
“... he bites off more than he chews, well, well, is he ringing your bell, ...”
Jeff trommelte.
Er hatte das Radio bis an die Grenzen der Belastbarkeit seiner Boxen aufgedreht, und das nicht nur um den platschenden Regen auf der Windschutzscheibe zu übertönen. Der Regen und die alles einnehmende Dunkelheit waren vergessen. Vergessen waren die leicht brennenden Augen vom vielen Starren auf die Ausläufer seiner altersschwachen Scheinwerfer. Vergessen war die angespannte Schultermuskulatur und der schreiende Rücken vom langen steifen Sitzen. Er hatte mit Sicherheit seit drei Stunden keine Pause mehr eingelegt und das letzte Auto hatte ihn vor etwa einer dreiviertel Stunde überholt. Seitdem tastete er sich allein über diese stockdunkle Landstraße.
Aber er wollte so schnell wie möglich nach Hause; er hatte Samantha und die Kinder seit einer Woche nicht mehr gesehen und freute sich mehr als alles andere auf ihre Begrüßung. Er brauchte Sam, wie noch nie in seinem ganzen Leben. Allein der Gedanke an sie genügte, um seinen Herzschlag um einige Takte zu erhöhen. Jeff war einfach glücklich.
“... and his skin is so fair and it shines like his hair ...”
Dann sah er den Mann am Straßenrand.
Er hatte den linken Arm gehoben und winkte. Jeff wurde aus seiner Euphorie gerissen und verstummte augenblicklich.
Ein Anhalter!
Die Musik drang wieder in seine Ohren und er grinste. ´Ach, was soll´s!` Hatte er laut gedacht?
Er verringerte die Geschwindigkeit und ließ den Wagen langsam ausrollen. Etwa zehn Meter, nachdem er den Anhalter passiert hatte, berührten die Räder den durchgeweichten Fahrbahnrand und der Wagen kam zum Stehen.
Jeff drehte das Radio etwas leiser - zu schade auch - als er durch den Rückspiegel den Mann auf sich zulaufen sah. Kurz darauf wurde die Beifahrertür geöffnet, und Jeff blickte in ein Gesicht, das durch triefende Haarsträhnen fast vollständig verdeckt war.
´Was zum Teufel machst du eigentlich?`, dachte er noch kurz. ´Du nimmst normalerweise nie Anhalter mit ...`.
Der Mann schwang sich auf den Beifahrersitz und schlug die Tür hinter sich zu. Er tropfte, und Jeff mußte an seine guten Sitze denken.
„Nicht gerade das beste Wetter, um hier draußen zu stehen, Mister“, kam es aus Jeffs Mund.
Der Anhalter schnaufte und wischte sich mit der nassen Hand eine Strähne aus dem Gesicht. Jeff erkannte einen wohl einmal hellblau gewesenen Nadelstreifenanzug und eine schiefsitzende Krawatte. Am rechten Unterarm war die Anzugjacke aufgerissen und an dieser Stelle dunkler als der regendurchtränkte Rest.
„Hatten Sie einen Unfall, Mister?“ fragte Jeff und sah, wie sein neuer Mitfahrer den rechten Arm gegen seinen Körper drückte. Er keuchte, doch er antwortete nicht.
„Wo ist Ihr Wagen?“ versuchte Jeff es noch einmal.
Jetzt drehte der Fremde seinen Kopf. Sein Gesicht wurde noch immer von der Dunkelheit verschluckt, doch Jeff konnte erkennen, daß es vor Schmerz verzerrt war.
„Nehmen Sie mich bis in die nächste Stadt mit?“
Ein übelriechender Atem schlug Jeff entgegen und er wandte das Gesicht ab. „Ja, natürlich.“
Jeff legte den ersten Gang ein und fuhr an. Gleichzeitig hoffte er, der Mann würde ihn nicht noch etwas fragen. Sein Mund mußte seit Ewigkeiten keine Zahnbürste mehr gesehen haben, oder aber er hatte vor nicht allzu langer Zeit in ein halbverwestes Tier gebissen. Widerlich! Jeff mußte sich unwilkürlich schütteln.
Er beschleunigte und erkannte aus den Augenwinkeln, daß der Mann den Kopf wieder gesenkt hatte und in seinen Schoß starrte.
Als der Wagen fast die 50–Meilen-Grenze erreicht hatte, nahmen Jeffs Nasenschleimhäute einen anderen üblen Geruch wahr.
´Oh mein Gott!`, dachte er. ´Er stinkt auch noch nach Pisse. Der Kerl stinkt tatsächlich nach Pisse!`
Jeff verdrehte die Augen. Ein einziges Mal in seinem Leben nahm er einen Anhalter mit und dann so etwas. Er kramte in seiner Hemdtasche nach den Zigaretten; er mußte irgendeinen Grund finden, das Fenster einen Spalt zu öffnen. Jeff konnte dem Typen doch nicht einfach sagen, daß er kurz davor stand, seinen Mageninhalt gegen die Windschutzscheibe zu schleudern; nein, das konnte er nicht, das verbot sein Anstand. – Scheiß Erziehung! –
„Rauchen Sie auch?“ Im selben Moment bereute Jeff seine Frage, denn jetzt würde der Fremde mit Sicherheit antworten.
„Nein danke.“
In Jeff stieg ein leichter Würgereiz empor. Seine Hand zitterte, als er die Marlboro in den Mund steckte.
Er vernahm ein Klicken und blickte zu dem Fremden. Dessen linker Arm war nach vorne gebeugt und sein Daumen berührte den Zigarettenanzünder.
„Danke", murmelte Jeff. Jetzt berührt der Kerl auch noch seine Innenausstattung. Jeff schüttelte sich ungewollt und hoffte gleichzeitig, daß der Fremde es nicht bemerkt hatte.
Der Wagen hatte mittlerweile die Duftnote eines Bahnhofsklos angenommen, und Jeff atmete nur noch ganz flach durch den Mund. ´Ich kann ihn wegschmeißen!`, dachte er wieder. ´Ich kann den Wagen wegschmeißen; der Gestank wird nie wieder hier rausgehen.`
Der Fremde stieß hörbar die Luft aus, und Jeff drehte seinen Kopf zur linken Fahrbahnhälfte. Warum brauchte der verdammte Anzünder so lange?
Klick!
Na endlich. Jeffs Hand griff nach unten und stieß gegen etwas warmes Fleischiges. Ruckartig riß er sie zurück.
Der Fremde zog den Anzünder aus seiner Halterung und beugte sich zu ihm hinüber. Warmer, verwesender Tiergeruch stieg augenblicklich in Jeffs Nase, obwohl dieser nur durch den Mund atmete. Jeffs Magen verkrampfte sich.
Er drehte seinen Kopf in Richtung des Beifahrers und blickte in das hellorangene Loch des Zigarettenanzünders. Seine Zigarette glitt hinein und er nahm einen kräftigen Zug. Unbewußt blies er den Rauch auf den Fremden und hoffte im selben Moment, daß dieser nicht husten mußte.
Jeff blickte wieder nach vorne und kurbelte das Seitenfenster ein wenig herunter. Der Fahrtwind kreischte, beinahe als wolle sich die frische Nachtluft sträuben, in dieses Auto einzudringen.
„Ich stinke, stimmt´s?“
Jeff zuckte zusammen und merkte, wie sein Blut mit einem gewaltigen Stoß in sein Gesicht gepumpt wurde.
„Was?“ Er stammelte fast.
„Ich sagte, ich stinke, stimmt's?!“ Der Fremde starrte ihn an, das konnte Jeff aus den Augenwinkeln erkennen.
„E... es ist wegen des Rauches.“ Oh Gott, was für eine blöde Ausrede. Sein Gesicht mußte jeden Augenblick vor Röte bersten.
Der Fremde kicherte.
„Ich weiß aber, daß ich stinke.“
´Warum tust du dann nichts dagegen, du altes Schwein?` hätte ihm Jeff am liebsten entgegen geschrieen. Statt dessen zog er kräftig an seiner Zigarette.
„Ich weiß, daß ich sogar fürchterlich stinke.“
Die Stimme klang bedrohlich; Jeff wußte nicht, woran es lag, aber diese Erkenntnis schoß mit einer derartig gewaltigen Macht in seinem Innern empor, daß Jeff das Gefühl hatte, er müsse augenblicklich daran ersticken. Warum ließ er ihn nicht einfach in Ruhe und hielt sein verdammtes Maul?
Der Anhalter hatte sich nach vorne gebeugt und starrte Jeff von schräg unten direkt ins Gesicht. „Ich weiß, daß ich sogar fürchterlich stinke.“
Jeff starrte geradeaus. Eine warme, madige Fleischwolke hatte ihn wieder erreicht.
„Mister, wenn Sie der Meinung sind so fürchterlich zu stinken, was halten Sie denn dann von einem netten Bad in der nächsten Stadt.“ Jeff erschrak über seine eigenen Worte.
Der Fremde ignorierte sie, formte seine Lippen zu einem kreisrunden “O“ und blies Jeff seinen warmen Atem ins Gesicht.
Jeff riß den Kopf zur linken Seite und trat mit aller Wucht auf die Bremse. Selbst auf dem nassen Asphalt hörte er die Reifen kurz quietschen. Der Wagen brach aus und kam quer zur Fahrtrichtung zum Stehen. Jeff blickte nach rechts.
„Los, steigen Sie aus!“
Der Fremde lehnte sich gegen die Beifahrertür und grinste ihn an. Eine lange, grotesk gedrehte Haarsträhne berührte seine Nasenspitze.
Und jetzt wurden Jeffs Augen riesengroß. Er dachte zunächst an eine Täuschung, hervorgerufen durch das trübe Licht des Wageninneren. Er kniff die Augen etwas zusammen, doch er mußte erkennen, daß er wirklich genau das sah, was er zu sehen glaubte. Der rechte Nasenflügel seines Gegenübers hatte sich an dessen oberen Ende gelöst und legte klaffend das gelblich schimmernde Nasenbein frei. An seinem unteren Ende tropfte eine dunkle, dickflüssige Masse auf die einmal hellblau gewesene Anzugjacke.
Jeffs Unterkiefer klappte herunter.
Der Fremde grinste ihn an. „Ist was?“ Etwas Weißes schob sich über die Lippen und fiel in seinen Schoß. Jeffs Gehirn registrierte, daß es sich dabei um einen Schneidezahn handeln mußte.
´Oh mein Gott! Der Kerl verwest! Er verwest vor meinen Augen.` Jeff wich zurück und sein Rücken stieß gegen die Fahrertür. Mit einer wahnwitzigen Bewegung, die Jeffs Gehirn gar nicht so schnell aufnehmen konnte, schnellte der Fremde nach vorne, riß Jeffs rechten Arm vom Lenkrad und biß hinein.
Jeff schrie auf, und seine Blase entleerte sich schlagartig. Mit der Faust schlug er gegen den Kopf des Irren und konnte gleichzeitig nicht aufhören zu schreien.
Als seine Faust den Schädel traf, riß die Kopfhaut an der Stirn auf und klappte nach hinten weg. Jeff konnte die blutverschmierte Schädeldecke erkennen und schlug erneut zu.
Der Kopf wurde zurückgeschleudert, und Jeff verspürte ein hartes Reißen an seinem Unterarm. Gleichzeitig schoß eine erneute Schmerzwelle in ihm empor. Er blickte auf das Gesicht des Anhalters, aus dessen Mund ein riesiger Fetzen Fleisch hing. Jeff erkannte ein Stück Stoff seines Hemdes und er wußte, daß es sich bei dem Stück Fleisch um einen Teil seines Unterarms handelte.
Der Anhalter stopfte es mit den Fingern weiter in den Mund und begann zu kauen.
Jeff schrie erneut. Er schrie so laut, wie er noch niemals zuvor in seinem Leben geschrieen hatte. Er blickte auf den kauenden Mann in dem schmierigen Anzug, und er wollte diese bizarre Situation einfach wegschreien.
Dann sah er, wie sich der rechte Nasenflügel des Fremden wieder an die Nase anlegte und mit ihr verschmolz, und zwar so, als wäre sie nie etwas anderes als eine korrekt geformte Männernase gewesen. Die zurückgeklappte Kopfhaut fiel mit einem Platschen, welches sich anhörte, wie das Aufschlagen eines nassen Leders auf einen kalten Kachelboden, auf die kahle Schädeldecke zurück. Schleimige Tropfen spritzten gegen Jeffs Stirn.
„Es klappt, es klappt!“, hörte er den Fremden kauend schreien.
Jeff griff hinter sich, fand den Türöffner, riß die Fahrertür auf und stürzte auf die Straße. Hart schlug er auf dem nassen Asphalt auf und sein zerrissener Unterarm jagte eine Schmerzenswelle durch seinen Körper. Kalter Regen schlug ihm ins Gesicht.
Er sah, wie der Fremde auf den Fahrersitz rutschte und das Lenkrad griff.
„Viel Erfolg beim Anhalter spielen!“, schrie dieser hinaus. Dann schlug er die Fahrertür zu, setzte den Wagen mit aufheulendem Motor gerade und fuhr los. Aber nicht weit.
Jeff sah die Rückfahrscheinwerfer aufleuchten. Kurz darauf stand sein Wagen erneut neben ihm.
Das Fenster wurde heruntergekurbelt und ein kantiges, männliches Gesicht schaute heraus. Weiße, gerade Zähne strahlten Jeff an.
„Ein kleiner Tipp noch“, schrie ihm der Fremde durch den unbändigen Regen entgegen. „Es ist nicht schwer, den Fluch wieder loszuwerden. Machen Sie´s genau wie ich. Ich meine, falls Sie Glück haben und es kommt um diese Uhrzeit noch jemand, der einen stinkenden, verwesenden Anhalter mitnehmen will.“ Dann lachte er laut auf.
Jeff umklammerte seinen blutenden Unterarm.
„Ach noch etwas. Sie sollten sich beeilen, es geht sehr schnell.“ Wieder dieses ekstatische Lachen.
Der Motor heulte erneut auf, und diesmal verschwanden die Lichter in der Dunkelheit.

“... I see fire in his eyes
I see ice in his smile
and I'm learning the truth.”

- Jagger / Richards -

 

Hi Bernhard,

schön, dass du mal reingelesen hast.


Anhalter nehm ich sicher keinen mehr mit.
genau das war beabsichtigt ... :D


Zitat:
Er hatte das Radio bis an die Grenzen der Belastbarkeit seiner Boxen aufgedreht, und zwar nicht nur um den platschenden Regen auf der Windschutzscheibe zu übertönen.

warum zwar? das deutet auf die Erwähnung eines weiteren Grundes hin, denn du dann aber nur zwischen den Zeilen anklingen läßt

Du hast Recht, werde das "zwar" streichen.

Zitat:
Eine warme, madige Fleischwolke hatte ihn wieder erreicht.

Mit dem Ausdruck Fleischwolke kann ich nichts rechtes anfangen. Auch wenn klar ist, dass es ein Geruch ist.

Das würde ich gern lassen. Wollte damit tatsächlich den Geruch ausdrücken.


Zitat:
Urplötzlich, mit einer wahnwitzigen Bewegung, die Jeffs Gehirn gar nicht so schnell aufnehmen konnte,

Hier betonst du die schnelligkeit mit drei Ausdrücken. Das ist zumindest einmal zuviel. Am wenigste gefällt mir das Urplötzlich - zu umgangssprachlich

Jau, fliegt raus! Danke!

Hätte nie gedacht, dass ich die alten Geschichten noch mal überarbeiten muss. Aber macht Spaß. Daher vielen Dank für deine Mühe.

Lieben Gruß! Salem

 

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