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Der Armbrustmörder

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31.10.2003
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Der Armbrustmörder

Stille durchzog den Wald wie ein schleichendes Raubtier. Selbst der seichte Wind war nicht stark genug, beim Durchstreifen der Baumwipfel ein wahrnehmbares Geräusch zu erzeugen. Und doch vernahm man von Zeit zu Zeit ein leises Rascheln, ab und an ein Knacken. Dann wieder nichts.
Eine Waldlichtung, in deren Mitte eine baufällige Holzhütte seit Jahrzehnten der gewöhnlich rauen Witterung trotzte und die an einer Seite mit Graffiti beschmiert war, wurde durch den Vollmond erhellt. Die Schatten der umstehenden Bäume wirkten auf ihr wie langgezogene Gestalten, deren Köpfe sich einem gemeinsamen Ziel entgegenreckten.
Als die beiden Männer den Wald betraten, wurde das schleichende Raubtier verscheucht. Äste knackten, Kichern war zu hören. Ein lauter Furz, gefolgt von gackerndem Prusten.
Wenig später hatten die Männer die Lichtung erreicht und der Hagere klammerte sich enger an seinen Begleiter. Er wankte, doch hatten die starken Arme, die ihn in Höhe der Hüfte fassten, keine Mühe, ihn zu halten.
"Was hast du vor?", fragte er. Ein Kichern drang über seine Lippen.
Der Kräftige drückte ihn fester an sich. "Dreimal darfst du raten."
"Ich brauch nicht dreimal zu raten."
"Dann komm mit zur Hütte."
Der Dünne ließ sich zu dem Gebäude auf der Lichtung ziehen. "Wie heißt du?"
"Erik. Aber ich will eigentlich nicht quatschen."
"Okay, ich heiße Maik."
Der Andere erwiderte nichts.
Wenig später lehnte sich der Mann mit dem Namen Erik an das raue Holz und zog den anderen an seine Brust. Er küsste ihn ungestüm.
Maik ging in die Hocke, öffnete Eriks Hose. Dieser hatte seine Augen geschlossen und den Mund leicht geöffnet.
Das leise Knacken am Rande der Lichtung hörte keiner der beiden. Ebenso wenig sahen sie den kleinen Schatten, der sich lediglich durch seine geringere Größe von den übrigen Schatten abhob. Arme, die einen Gegenstand hielten, tauchten zwischen den Bäumen auf.
Maik genoss derweil das immer schneller werdende Atmen seiner Bekanntschaft, Eriks dezente Beckenbewegung. Er wollte seine eigene Hose ebenfalls öffnen, als er ein zischendes Geräusch vernahm. Es war nur flüchtig - ein bis zwei Sekunden vielleicht - gefolgt von einem Plopp.
Maik stutzte, als er merkte, wie sich Eriks Körper im Bruchteil einer Sekunde anspannte, um kurz darauf zu erschlaffen. Er riss den Kopf hoch, sah den noch immer offen stehenden Mund seines Freundes. Viel zu weit geöffnet!
Dann erkannte er dieses dünne Ding mit den winzigen Federn am Ende, das knapp unter dem linken Auge aus dem Gesicht ragte. Eine geleeartige Masse lief daran entlang, tropfte herab und landete auf seinem Nasenrücken. Maik wollte schreien und spürte, wie sich sein Magen verkrampfte.
Im selben Moment hörte er wieder das Zischen. Ein heißer Schmerz klatschte gegen seinen Handrücken und nagelte die Hand an die Holzwand. Maik kreischte. Sah den Pfeil, der sich durch seine Hand gebohrt hatte.
Hinter seinem Rücken hörte er schnelle Schritte. Ein Fluchen.
Maik fuhr herum. Ein erneutes Zischen riss ihm ein Stück Haut von der Stirn. Diesmal schrie der Schütze. Wütend.
Maik griff an sein Handgelenk und versuchte, die festgenagelte Hand vom Holz zu befreien. Immer wieder jagte sein Blick nach hinten. Er sah die Gestalt, jetzt hockend, an einem Gegenstand herumhantieren. Wenig später erhob sie sich, legte an. Der Gegenstand pendelte. Ganz leicht. Nur kurz.
Maik riss an seinem Arm. Pfeil und Knochen in seiner Hand brachen. Er wirbelte herum, wollte wieder schreien, doch kein Laut drang über seine Lippen. Er kannte den Schützen, der nun in der Mitte der Lichtung stand und ihn über die Armbrust hinweg anvisierte. Maik wimmerte, als er die blutende Hand nach vorn streckte.
Das nächste Plopp, das seinen Schädel an die Holzwand nagelte, hörte er nicht mehr.


* * *


Es war Ende der Siebziger, als ich zusammen mit meinem Kumpel Rudi (der eigentlich Rüdiger hieß) im Garten meiner Oma saß, und wir uns die wildesten Abenteuer ausdachten, die zwei vierzehnjährige Jungs in einem kleinen Dorf an der Ostsee erleben konnten. Piratenkacke würde man heutzutage lapidar sagen.
Es war jene Zeit, die durch Nachrichten wie dem bis dahin schwersten Zwischenfall in einem Kernkraftwerk in den USA überschattet wurde. John Wayne sollte einen Monat später sterben und die globalen Nachrichten einer Kernschmelze in den Hintergrund drängen. Alles jedoch Dinge, die uns Kinder nicht sonderlich interessierten. Viel zu weit weg. Das sagte auch meine Oma immer, wenn sie mit Mutter in der kleinen Wohnstube hockte und Opas Socken stopfte, obwohl dieser bereits vor gut zehn Jahren das Zeitliche gesegnet hatte.
"Wat juckts mich, wenn bei den Amis ne Atombombe hochgeht", sagte sie immer. "Ham doch im Kriech selbst damit umsichgeworfen, als wär's Kamelle."
Mutter sagte dazu nie etwas.
Was aber alle im Ort mehr als brennend interessierte, war: der Armbrustmörder.
Der Armbrustmörder war nicht weit weg, nicht irgendwo bei den Amis, nicht irgendwo da, wo die Kernkraftwerke schmolzen. Nein, er war hier. Hier in unserer Stadt. Irgendwo mitten unter uns.
"Hast du von dem Pärchen gehört, das sie im Wald gefunden haben?", fragte Rudi und riss mich aus meinen konfusen Gedankengängen.
"Was?" Ich blickte ihn mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Neugier an.
Rudi rückte seine Massen näher zu mir heran. Er wies mit Sicherheit das Dreifache an Gewicht und Umfang von mir auf; okay, ich war vielleicht nicht das, was man als neutrales Vergleichsobjekt hätte hinzuziehen sollen. ("Der Jung isst viel zu wenig", sagte meine Oma mindestens einmal am Tag, wenn sie mich sah. "Nur Haut und Knochen ist er. Wie unsere Soldaten im Kriech, nachdem der Russe sie fertig gemacht hat.")
Ich konnte Rudis Schweiß riechen, als er näher an mich heranrückte. Irgendwie erinnerte er mich immer an den Geruch von ranzigem Käse. Aber es störte mich nicht weiter.
Seine speckigen Finger griffen nach einem Grashalm, rissen ihn ab und steckten ihn in den Mundwinkel, wo er heraushing wie ein grünes Schnurrhaar eines Kaninchens. "Heut früh hat's in der Zeitung gestanden. Mein Vater hat's vorgelesen."
"Was hat da gestanden?"
"Na, dass sie wieder zwei gefunden haben. Unten im Wald auf der Lichtung. Da bei der Gruselhütte, weißt du? Damit sind es inzwischen drei. Und wenn die den nicht bald fassen, dann waren das auch nicht die Letzten. Sagt mein Vater. Weißt du, was das bedeutet?"
"Wen haben sie gefunden?", heuchelte ich Interesse. Die Hitze machte mir zu schaffen. Ganz zu Schweigen von dem anderen Problem, das mich seit einiger Zeit beschäftigte. Seit jenem Tag, als ich Mutter dabei erwischte ... Seit jenem Tag, an dem Vater sich eine Kugel in den Kopf jagte.
"Die beiden Schwulen. Der Armbrustmörder hat sie erwischt. Peng! Peng!" Rudi klatschte dabei in seine dicken Hände. "Jeweils ein Schuss genau durch die Rübe. Möcht nicht wissen, was die da getrieben haben." Er steckte sich seinen Daumen in den Mund und machte eine eindeutige Bewegung. "Mensch, wenn das so weitergeht, haben wir hier bald n Serienmörder. Was hältst davon, wenn wir mal rausgehen. Vielleicht finden wir ja noch Blutreste irgendwo." Er beugte sich näher heran und die Käsewolke umgab ihn wie einen Schwarm Mücken. "Oder Gehirn ..."
Ich musste an den Tag denken, als ich Vater in seinem Arbeitszimmer fand. Schlaff sitzend in seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch. Den Kopf im Nacken. Ich wollte Rudi anschreien, ihn schütteln und ihm die Worte Weißt du, wie Blut und Hirnreste an einer Wand aussehen? Wie sie an der Fensterscheibe glänzen, wenn die Sonne draufscheint? Weißt du das? ins Gesicht spucken. Stattdessen sagte ich nur: "Nein danke."
Ich merkte, dass Rudi seine Geschichte noch etwas ausschmücken wollte, sah die hämische Fratze in seinem Mondgesicht, spürte, wie sich meine Fäuste langsam ballten, als ich diese Stimme von der anderen Seite unseres Hauses hörte.
Das Blut schoss in meinen Kopf ein, als hätte man an einem Ventil gedreht. Das Grinsen verschwand aus Rudis Gesicht. "Was is los, Alter. Du siehst aus, als wärst dem Teufel persönlich begegnet."
"So ähnlich ist es auch." Ich stand auf. "Los, komm mit."
Wir liefen zur Ecke des Hauses und ich presste meinen Körper gegen den heißen Stein. Hinter mir keuchte Rudi seinen Käsegeruch in die schwüle Luft.
"Wer ist das?", fragte er leise.
"Schhhh!", zischte ich und blickte um die Ecke herum. Und da sah ich ihn. Schwarze Anzughose, weiße Slipper und weißes Hemd. Die bunte Krawatte mit den roten und blauen Karos schien seinen schmierigen Hals abzuschnüren. Die spitze Nase ragte aus dem Gesicht hervor, wie der gekrümmte Schnabel eines Geiers.
"Was für ein wunderschöner Tag, nicht wahr, Gnä Frau?" Mit der einen Hand strich er sich die Pomade durchs Haar, in der anderen hielt er einen roten Gegenstand mit einem schwarzen Schlauch. Es war einer dieser neumodischen, mobilen Feuerlöscher.
Mutter stand im Eingang - in Trauer gekleidet - und blickte sich um. "Ja, wunderschön", sagte sie, ohne den gehetzten Blick in alle Richtungen einzustellen.
Der schmierige Kerl trat einen Schritt nach vorn, wobei er Mutter verdächtig nahe kam. "Ich wollte es mir doch nicht nehmen lassen, Ihnen unseren neuesten Verkaufsschlager vorzustellen, Gnä Frau." Jetzt wiegte er den Feuerlöscher in seinen Armen, als sei dieser ein metallisches Kind. Der schwarze Schlauch hing herunter. Mir wurde schlecht.
Mutter flüsterte irgendetwas - weiterhin gehetzt - dann fasste sie den Arm des Mannes und zog ihn in den Eingang. Die Tür wurde geschlossen.
"Was will denn der schleimige Peterson hier?", fragte Rudi und machte die Bewegung des Mannes durch seine Haare nach. "Oh, Gnä Frau ...", trällerte er mit einer hohen Fistelstimme.
"Hör auf mit dem Scheiß", zischte ich und Rudi verstummte.
"Hey, Alter, was ist denn los?"
"Der alte Scheißtyp fickt meine Mutter", sagte ich und stampfte zurück in den Garten.
Rudi schlurfte hinterher. "W... was? Der Peterson und deine Mutter? Wie kommst denn darauf?"
Ich ließ mich in das Gras fallen an genau dieselbe Stelle, an der ich zuvor gesessen hatte. Rudi tat es mir gleich.
"Das wird er büßen." Ich wusste nicht, ob ich den Satz leise ausgesprochen oder nur gedacht hatte. Wohl eher Letzteres, denn Rudi reagierte nicht.
Eine Weile schwiegen wir, während Rudi sich wieder einen Grashalm in den Mundwinkel steckte.
Ich zog das Messer, das Vater mir kurz vor seinem Tod geschnitzt hatte, aus der Schlaufe an meiner Hose. "Eigentlich sollte es ein Peter-Pan-Messer sein", sagte ich und ließ es durch die Finger gleiten.
Rudi sah mich fragend an. "Ein Peter-Pan-Messer?"
"Ja, kennst das nicht? So eins mit dickem Griff, dann ein Fingerschutz und eben ne spitz zulaufende Klinge."
"Hm ...", machte Rudi. "So sieht es echt nicht aus."
Ich betrachtete das Messer, das Vater aus einem dünnen Ast geschnitzt hatte. Es war an einem der wenigen Tage, an denen er nicht auf Montage gewesen war. Der Griff war rund und immer noch mit Rinde umzogen. Kein Fingerschutz, sondern direkt eine unbeholfene Klinge, die so stumpf war, dass man sie jemanden ins Auge hätte rammen können, ohne dass dieser auch nur hätte blinzeln müssen. "Ich war echt enttäuscht, als er es mir gab", sagte ich leise. "Aber er war so verdammt stolz drauf."
"Naja, so schlecht ist es ja nicht geworden."
Ich blickte Rudi tief in die Augen. "Ich würd's dem ollen Wichser in seine Kehle rammen, wenn es schärfer wär."
Rudis Augen wurden riesengroß. "Du meinst dem Peterson?"
"Ja."
Rudi streckte mir die Hand entgegen. "Heute Nacht?"
Ich lächelte und schlug ein.


* * *


Es war zwei Nächte später, als zwei Jungs - einer dürr wie ein Gerippe mit einem Rucksack auf dem Rücken, der andere mit dem Umfang eines Treckerreifens und einer Plastiktüte in der Hand - um den Laden mit dem seltsamen Namen "Petersons Allerlei" herumschlichen.
Ich war beeindruckt von Rudis Enthusiasmus, dem Liebhaber meiner Mutter eins auszuwischen.
Natürlich war er nicht wirklich davon ausgegangen, dass wir Peterson das geschnitzte Messer in den Hals rammen würden; auch ich hatte lauthals gelacht, als er mich dort im Garten meiner Oma fragte: "Aber wir bringen ihn nicht in echt um, oder?"
Wir würden ihn nicht umbringen. Nein, mit Sicherheit würden wir ihn nicht umbringen. Meine Idee war da um einiges grandioser.
Wir schlichen an der Schaufensterscheibe vorbei, in der ein großes Schild mit der Abbildung einer schreienden Hausfrau vor einem Herd, auf dem ein brennender Topf stand, hing. Darunter stand in blutroten Lettern: Schützen auch Sie Ihre Familie! Mit einem Feuerlöscher von GLORIA!
Unter dem Plakat standen fünf Feuerlöscher, aufgereiht wie Soldaten beim morgendlichen Appell. Die schwarzen Schläuche hingen akkurat an der Seite herab. Wieder keimte diese unbändige Wut in mir auf und ich verdrängte die Gedanken, die diese verursachten. Es würde wohl erst vergehen, wenn alles erledigt war.
Wir schlichen weiter und ließen die vordere Seite des Gebäudes hinter uns.
"Da hinten ist eine Tür", flüsterte Rudi. In seiner Hand hielt er die Plastiktüte, deren Inhalt seinen Käsegeruch mit Leichtigkeit in den Schatten stellte. An einer Stelle der Tüte befand sich ein kleines Loch, aus dem sich der dünne Faden einer braunen Masse einen Weg nach draußen bahnte. Ich grinste.
Kurz darauf hatten wir die Rückseite erreicht und standen vor einer alten Holztür mit rostigem Griff und riesigem Schlüsselloch.
Rudi sah mich an. "Alter, wenn das Loch nur ein bisschen größer wär, dann könntest du da durchkriechen." Er presste sich die dicken Finger vor den Mund und prustete hinein.
"Sehr witzig. Irgendwie ist es kalt hier." Eine Gänsehaut überzog meine Arme, obwohl ich einen Pulli angezogen hatte. Es war die Vorfreude auf das Ereignis, das uns erwartete. Rudi lief wie gewohnt nur im T-Shirt herum und sah mein Lächeln nicht.
"Du hast nur Schiss", sagte er.
"Du bist sicher, dass er nicht da ist?"
"Kannst dich drauf verlassen. Kann von meinem Zimmer genau auf seinen Eingang gucken, und da ist er vor ner halben Stunde raus. Lass uns jetzt da rein, sonst ist bald nix mehr in der Tüte drin."
Er hob seinen Arm und ich erkannte, dass das Loch schon größer geworden war.
"Wir hätten Kuhscheiße nehmen sollen", sagte ich. "Die ist dickflüssiger."
"Ja", grinste Rudi. "Aber Schweinescheiße stinkt mehr."
Da hatte er recht. Wenn wir uns nicht beeilten, würde der Gestank bald einige Nachbarn ans Fenster locken.
"Was hast eigentlich in deinem Rucksack drin?", fragte er.
"Abwarten."
Ich blickte mich um, doch bis auf das Licht der wenigen Straßenlaternen war alles dunkel. Ich nahm den Rucksack ab, öffnete ihn und griff hinein. Kurz darauf lag Vaters schwere Taschenlampe in meiner Hand.
Etwas knackte, ich fuhr herum und knipste das Licht an. Rudi, der mit einem langen Draht in dem Schlüsselloch herumstocherte, blickte auf. "Wenn du dir gleich noch in die Hose scheißt, dann haben wir noch mehr." Er deutete auf die Tüte neben seinen dicken Beinen und lachte.
Ein weiteres Knacken, dann sprang die Tür auf. "Coole Idee mit der Lampe", sagte er. "Leuchte mal hier rein, da geht ne Treppe runter. Glaub, die führt in den Keller."


* * *

Fünf Minuten später hatten wir den Keller verlassen und standen in einem Raum vor einer Treppe, die in den ersten Stock führte. Hinter uns befand sich die Haustür, durch deren kleines Fenster der Lichtschein der Straßenlaterne fiel.
Rudi sah mich an und irgendwie schien sämtlicher Enthusiasmus aus seinem Gesicht verschwunden zu sein. Schweiß perlte auf seinem Gesicht.
"Scheiße", keuchte er. "Irgendwie ist mir das Ganze hier doch nicht geheuer. Was machen wir eigentlich, wenn er jetzt zur Tür reinkommt?"
Ich hielt das Holzmesser hoch. "Na, wer scheißt sich jetzt in die Hose?" Dann leuchtete ich ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht, sodass er die Augen zukniff und aussah wie ein zerdrückter Teigklumpen.
"Lass den Mist und komm!" Er stampfte die Treppe hinauf, wobei die Plastiktüte ihren Inhalt in Form einer dünnen Spur auf den Stufen hinterließ.
Als ich ebenfalls die erste Stufe erreicht hatte, fiel mein Blick durch eine weitere Tür, die sich neben der Treppe befand. Es war der Verkaufsraum, in dem sich Petersons Allerlei befand. Einige Regale waren im Licht der Straßenlaterne zu erkennen. Werkzeuge lagen darin, das wusste ich. Die Schatten der Feuerlöscher zogen sich über den Holzboden bis in den hinteren Bereich des Raumes, wo sich die Ständer mit den Anzügen und Kleidern befanden.
Eine Explosion in meinem Inneren wollte mich auseinanderreißen, ließ meine Adern am Hals und auf der Stirn bedrohlich anschwellen. Ich versuchte, ruhiger zu atmen.
Genau hinter einem dieser Kleiderständer hatten sie es getrieben. Mutter hatte sich wie ein Hund von hinten nehmen lassen, während ihr der schmierige Typ mit heruntergelassenen Hosen bei jedem Stoß mit dem Feuerlöscherschlauch auf den Arsch geschlagen hatte. Ruhiger atmen!
Durch das Schaufenster hindurch hatte ich sie gesehen, ein ekelerregender Stummfilm, der sich auf ewig in mein Gehirn gebrannt hatte. Und während sie es im hinteren Teil des Ladens trieben, schaukelte das Geschlossen-Schild im Schaufenster sanft hin und her. Atme ruhiger. Du kannst es doch. Nur ganz ruhig atmen.
Er würde dafür bezahlen. Heute Nacht.
"Hey, was ist los? Soll ich das alleine durchziehen?" Rudi stand am oberen Ende der Treppe und blickte herunter.
Ich schluckte und stieg langsam zu meinem dicken Freund hinauf, während der Rucksack auf meinem Rücken immer schwerer wurde. Ich blickte nach unten, sah meine Füße, die mühsam Stufe um Stufe erklommen. Ich wollte Rudi nicht dort oben stehen sehen.
Als ich oben ankam, hob ich meinen Blick. Rudis Gesicht war schneeweiß.
"Was hast du?", fragte ich leise. Ich sah, wie er schluckte.
"Scheiße ..." Er keuchte.
"Was ist?"
"Ich weiß, wo er ist." Noch immer keuchte er und ich befürchtete, dass er gleich hier oben am Treppenansatz zusammenbrechen würde.
"Wie meinst du das, du weißt, wo er ist? Du meinst Peterson?"
Jetzt wurde Rudi hektisch. "Ja! Peterson! Mensch, Alter, denk doch mal nach. Seit wann hat er seinen Laden hier?"
Ich überlegte. "Vielleicht seit nem Jahr."
Rudi sah mich mit großen Augen an. "Seit knapp nem Jahr."
"Und?", fragte ich leise, obwohl mir langsam dämmerte, worauf er hinaus wollte.
"Kapierst du es immer noch nicht? Wann hat der Armbrustmörder das erste Mal zugeschlagen?"
"Keine Ahnung. Vor ein paar Monaten?"
"Es war Anfang Februar!", sagte er. "Weißt du das denn nicht mehr? Jetzt haben wir Ende Mai. Das sind vier Monate! Kapierst du? Er hat sich erst ein bisschen eingelebt hier. Damit's nicht auffällt." Jetzt kam er wieder ganz nahe an mich heran und seine Stimme klang so, als würde er gleich losheulen. "Alter, wir sind im Haus des Armbrustmörders!" Ich mochte seinen Geruch.
Sein gesamter Körper zitterte. Er tat mir leid.
"Hey, findest du nicht, das ist arg an den Haaren herbeigezogen?" Meine Stimme war ganz ruhig. Meine Atmung ebenfalls. "Und außerdem, wenn Peterson der Armbrustmörder wäre, meinst du nicht, die Polizei hätte das schon längst rausgefunden?"
"Wie denn?" Rudi kreischte hysterisch. "Er hinterlässt doch keine Spuren! Hier im Ort ist nie was passiert. Nie sowas wie n Mord. Nie! Und jetzt, seit Peterson hier wohnt, da passiert auf einmal sowas. Drei Tote!"
Ich sah ihm tief in die Augen, wusste aber nicht genau, was ich darauf erwidern sollte.
"Und genau jetzt ist er wieder auf Beutezug! Nach heute Nacht sind's vier! Oh mein Gott, Alter. Warum sind wir nicht schon vorher darauf gekommen? Oh mein Gott! Wenn er jetzt wiederkommt ... Da ... da unten durch die Tür!"
Ich berührte seine bebende Schulter, spürte die Nässe seines Shirts. "Schhhh."
Er riss sich los und ließ die Tüte mit dem Schweinekot fallen. "Wie kannst du nur so ruhig dabei bleiben? Wir müssen hier raus!" Wie ein Berserker stieß er mich zur Seite und stampfte die Stufen hinunter. Ich schloss die Augen.
Es war soweit.
Langsam nahm ich den Rucksack ab, griff hinein und holte den Gegenstand heraus, der sich darin befand. Dann stellte ich mich an den oberen Rand der Treppe, spannte den Bogen und legte den Pfeil auf den Sehnenweg.
"Rudi." Er muss an meiner Stimme erkannt haben, dass etwas nicht stimmte. Und ich glaube im Nachhinein, dass er damals, in genau diesem Moment, gewusst hatte, dass er mit seiner These, Peterson sei der Armbrustmörder, falsch gelegen hatte.
"Es tut mir leid", sagte ich so leise, dass ich mir nicht einmal sicher war, ob er es überhaupt gehört hatte.


* * *


Noch in der selben Nacht verständigte Frau Matthiesen, die direkt gegenüber von Petersons Allerlei wohnte und wegen ihres hohen Alters nur einen leichten Schlaf hatte, die Polizei. Sie habe gehört, wie Peterson schreiend aus seinem Haus gerannt sei. Er sei es nicht gewesen, hätte er in einer Tour in die Nacht hinaus gekreischt.
Oberwachtmeister Mertineit hatte ihn wenig später festgenommen, nachdem man Rudis Leichnam mit durchbohrtem Hirn in Petersons Haus gefunden hatte. Selbst die Tatwaffe hatte sich noch am Ort des Geschehens befunden.
Bereits am nächsten Tag waren die Zeitungen voll vom grandiosen Erfolg der hiesigen Polizei. In einem der Artikel stand sogar der Satz eines hochrangigen Polizeibeamten, man habe schon länger vermutet, dass Peterson der Armbrustmörder sei, doch hätten bislang stichhaltige Beweise gefehlt. Den traurigen Verlust des jungen Rüdiger bedaure man zutiefst.

* * *


Heute, knapp zwanzig Jahre nach Petersons Tod - er war bereits kurz nach der Festnahme auf dem Weg zum Gefängnishof von einem Mitgefangenen mit einem mobilen Feuerlöscher erschlagen worden (auch davon waren die Zeitungen voll, denn Peterson hatte keine zwei Wochen zuvor das Gefängnis mit den Löschern versorgt) - hocke ich hier, wie so oft, an Vaters Grab und denke an die Zeit zurück, als er mir mit glänzenden Augen das geschnitzte Messer überreichte.
Er muss wohl damals die Enttäuschung in meinen Augen erkannt haben (hatte dieses geschnitzte Etwas doch nicht im Entferntesten Ähnlichkeit mit dem Messer von Peter Pan), denn noch am gleichen Abend holte er mich zu sich ins Arbeitszimmer und öffnete die große Holztruhe, die neben seinem Schreibtisch stand. "Die hier ist für dich, Junge. Und bitte verzeih, dass ich handwerklich nicht so geschickt bin. Das olle Messer kannst du wegschmeißen."
Ich hatte die Armbrust entgegengenommen und ich glaube, diesmal hat er den Stolz in meinen Augen erkannt.
Neben der Armbrust besaß Vater viele Waffen, die er nie benutzt hatte. Bis auf das alte Jagdgewehr, mit dem er sich zwei Wochen später in den Mund geschossen, nachdem er das mit Peterson und meiner Mutter erfahren hatte.
Und wenn ich heute daran zurückdenke, so bin ich überzeugt davon, dass das die Geburtsstunde des Armbrustmörders war. Meine Güte, wie lange hatte ich an dem Plan gefeilt? Taten mir die Tiere und später die Personen leid, die für meinen Plan herhalten mussten? Ich kann es nicht sagen.
Was ich aber sagen kann, ist, dass ich damals verdammtes Glück gehabt habe, denn trotz aller Planung hatte ich einen wesentlichen Aspekt außer Acht gelassen. Was wäre passiert, wenn Peterson für besagte Nacht ein Alibi gehabt hätte?
Ich stehe auf und gehe zwei Reihen weiter. Vor einem kleinen, gepflegten Grab bleibe ich stehen. Geliebter Sohn, steht auf dem Grabstein, viel zu früh wurdest du uns genommen. Darunter ein in Stein gemeißeltes Bild meines dicken Freundes Rudi.
Ich knie nieder und greife in meine Tasche. In meiner Hand halte ich das alte Holzmesser, dessen Rinde inzwischen zum größten Teil abgeblättert ist.
"Schatz, kommst du?" Hinten am Ende des Weges steht meine Frau mit den beiden Kindern.
"Danke für alles", sage ich an Rudis Grab gewandt, lege das Messer unter sein Bild und bedecke es mit Erde.

 

Moin Salem,

der seichte Wind
Hab ich gerade neulich nochmal irgendwo gelesen; für mich passt das nicht. Wasser kann seicht sein, aber Wind ...? Erzeugt bei mir ein komisches Bild, aber vielleicht liegt das auch nur an mir.

nicht stark genug beim Durchstreifen der Baumwipfel
genug, beim

Wenig später hatten die Männer die Lichtung erreicht und der Hagere der Beiden
Find ich etwas umständlich. Warum nicht: Wenig später hatten die beiden Männer die Lichtung erreicht und der Hagere ...

Wenig später lehnte sich der Mann mit dem Namen Erik an das raue Holz und zog den anderen an seine Brust. Er küsste ihn ungestüm.
Maik ging in die Hocke, öffnete Eriks Hose.
Das Fette würde ich kicken. Wenn, müsstest du's auch für Maik machen, dann wären die Namen der beiden nochmal durch so ne Zwischenstufe eingeführt, machst du aber nicht, und ist im Grunde auch überflüssig.

sahen sie den kleinen Schatten, der sich lediglich durch seine geringere Größe von den übrigen Schatten abhob.
Das ist doppelt gemoppelt. Streich doch das "kleinen".

Ein heißer Schmerz klatschte gegen seinen Handrücken und nagelte diese an die Holzwand.
Man weiß, dass du die Hand meinst, die Beziehung stimmt dennoch nicht.

wunderschön", sagte sie ohne den gehetzten Blick in alle Richtungen einzustellen.
sie, ohne

Bis auf das alte Jagdtgewehr,
Jagdgewehr

So. Den ersten Part fand ich irgendwie holprig, da dachte ich: Was ist denn mit dem Salem los?
Als es dann aber mit den beiden Jungs losging, hat's mir viel besser gefallen. Ich mag diese Jugendgeschichten, bin jedoch nicht soo der Krimifreund, aber hier fand ich's okay (Kompliment).
Ich hätte mir gewünscht, noch mehr über die Beziehung des Prots zu seinem Vater zu hören, der sich umgebracht hat (und die Auswirkungen; warum der Prot so wurde, wie er ist). Aber das ist ja auch schwer, sich das auszumalen und da hineinzuversetzen, und wär wohl für den Plot auch nicht so wichtig.

Kleiner Kritikpunkt: dass Rudi plötzlich diese Theorie über den Armbrustmörder raushaut, kam sehr aus dem Nichts, da hätte ich mir irgendeinen Auslöser für gewünscht, dass er vielleicht einen Gegenstand in dem Haus sieht und dadurch darauf kommt, so war mir das etwas unverständlich.

Gern gelesen.

Viele Grüße,
Maeuser

 
Zuletzt bearbeitet:

Ahoi Maeuser.

der seichte Wind
Also für mich ist das ganz gewöhnlicher Sprachgebrauch :)

Wenig später lehnte sich der Mann mit dem Namen Erik
Das möchte ich im Moment noch drin lassen, da ich die Sicht so ein klein wenig auf Maik lenken wollte (naja, er lebt ja schließlich auch länger)
sahen sie den kleinen Schatten, der sich lediglich durch seine geringere Größe von den übrigen Schatten abhob.
ebenso dieses. MMn ist die Erwähnung des kleinen Schattens hier wichtig, um den Schatten als klein zu charakterisieren. Der Nebensatz soll noch einmal den Vergleich zu den anderen Schatten zeigen.
Den ersten Part fand ich irgendwie holprig, da dachte ich: Was ist denn mit dem Salem los?
:D Da hättest du den mal vorher lesen sollen ...
Ne, ich habe mich da echt schwer getan, weil ich wirklich versucht habe, nur von ganz oben auf die Personen zu blicken. In einer der ersten Fassungen hatten die noch nicht einmal Namen; das war heftig ...

Aber das ist ja auch schwer, sich das auszumalen und da hineinzuversetzen
Werter Herr Maeuser, jetzt machen Sie sich hier aber bloß nicht unbeliebt ... ;)

und wär wohl für den Plot auch nicht so wichtig
na da hast du ja nochmal die Kurve gekriegt :D
Kleiner Kritikpunkt: dass Rudi plötzlich ...
Das ist wirklich ein sehr guter Einwand. Du hast recht, ich werde Entsprechendes einbauen.

So, ich habe mich sehr über deine Kritik gefreut. Alles hier nicht Erwähnte, habe ich natürlich übernommen. Vielen Dank für deine Zeit.

Gruß! Salem

 

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