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Der Beobachter

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14.07.2003
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Der Beobachter

In meinem Leben ist mir nicht viel wichtig. Nur eins ist für mich von echter Bedeutung: Beobachten zu können. Ich stehe manchmal mit dem größten Vergnügen am Straßenrand und erfreue mich am hektischen und ereignisreichen Treiben das sich mir bietet. Die Luft ist zwar schlechter als draussen im Wald, dafür gibt`s dort auch nicht so viel zu sehen. Meine beiden Brüder wohnen dort, müsste man an dieser Stelle erwähnen. Ich bin mit ihnen aufgewachsen. Doch als ich das sechste Lebensjahr erreicht hatte wurde ich von meinen neuen Stiefeltern mit in die Stadt genommen. Seitdem habe ich diesen Standort, drei Meter rechts von der Parkbank gegenüber vom großen Supermarkt, einfach liebgewonnen.

Manchmal denke ich nach und frage mich wie es meinen beiden Brüdern wohl ergangen sein mag. Ich habe seitdem nie wieder etwas von ihnen gehört. Warum wurden die beiden denn nicht auch adoptiert? Darüber habe ich mich noch nie erkundigt... Wie gesagt, in meinem Leben ist mir nicht viel wichtig. Nur eines ist von Bedeutung: Beobachten zu können.

Die hochgepriesene Zivilisation würde mich wahrscheinlich einen "zwanghaften Voyeur mit Wahrnehmungsstörungen" nennen, aber wieso sollten sich die denn schon für mich interessieren, ich gehöre da nicht dazu...

Beobachtung und Wahrnehmung, ja, das ist der Motor meiner Existenz. Manche vergessen, wie wichtig die Wahrnehmung ist. Manche sehen die Wahrnehmung als selbstverständlich an. Ich nicht. Ein heftig wehender Wind ist für mich ein rauschartiges Erlebnis. Ich biege mich dann genüsslich im Wind, strecke und räkle mich in einem orkanartigen Zusammenfluss einzigartiger Gefühle. Der Regen, dem ich mich freiwillig und schamlos mitten auf der Straße hingebe, ist für mich eine Reinigung der Seele, ein Baden in der puren Energie von Mutter Natur. Und selbst Blitz und Donner genieße ich, da ich auch die Furcht in mir wertschätzen muss, sie lehrt mich die Vergänglichkeit des Lebens.

Im Großen und Ganzen sind dies die Dinge, die mein Leben erfüllen. Doch manchmal, wenn ich an meinem Stammplatz neben der Parkbank gegenüber vom Supermarkt stehe, dann fühle ich mich allein. Dann sehne ich mich nach Gesellschaft und denke wieder an meine Brüder, die sich im Wald in Gesellschaft baden. Dann will ich für einen kleinen Augenblick wieder zurück zu diesem wunderbaren Ort, der wohl langweilig aber voller netter Gesprächspartner ist.

Es ist eben nicht leicht, als Baum Freunde zu finden. Besonders dann nicht, wenn man von der Stadtverwaltung als optische Auflockerung in der Innenstadt gegenüber eines Supermarkts eingepflanzt worden ist.

 

Moin Jingles :D

Zuerst wollte ich Dir ja einen saftigen Komment hinterlassen was dieses blah Blubb soll ... aber der Schluss ist dermassen abgedreht das ich hier fast lachend vom Stuhl fiel :D

Klasse Idee :D

:lol:

 

Ich denke, dass das die Reaktion ist, auf die ich hingearbeitet habe. ;)

 

Hey mir wurde gestern erzählt das Autoren mit ihren Geschichten nichts bezwecken und schon gar nicht auf etwas hinarbeiten ... also stimmt hier irgenwas nicht :lol:

Und jetzt sag schon: Wie bist du auf die Idee gekommen? :)

 

Nette Idee, routiniert geschrieben und gelungene Überraschung am Schluss. Wobei ich ja normalerweise nicht auf Geschichten stehe, die ihre Pointe nur daraus gewinnen, dass sie dem Leser etwas wichtiges verheimlichen, in diesem Fall, wer der Erzähler ist. Zudem gibt es keinerlei Handlung (wäre bei einem Baum aber auch schwierig ;) ). Da dieser Text aber wohltuend kurz ist, sprachlich in Ordnung, und auch gar nicht mehr sein will als das, was er ist, gibt's nichts weiter zu meckern.

Fazit: sprachlich sauber, inhaltlich nette Unterhaltung für zwischendurch.

Uwe
:cool:

 

Am Anfang dachte ich mir: Wo ist hier die Handlung? Aber das Ende! Wirklich genial! Ich wäre nie darauf gekommen, dass es sich beim Erzähler um einen Baum handelt.

 

:bounce: Aber ich, aber ich!!!!

Okay, nicht wirklich. Ich dachte zuerst, es wäre ein Tier, irgendein Vogel oder so.

Dann dachte ich: Hey, nette Gedankensammlung eines Typen, der seine eigene Querköpfigkeit verleugnet, indem er den Rest der Menschheit als Querköpfe darstellt - die Selbstbelügung des Einzelgängers.
Und dann kam der Baum. Und ich dachte: Also doch. Cool.

:anstoss: Danke für die Erfrischung,

Artnuwo

 

Ich hätte das Ende wohl auch nie erraten! Tolle Idee, wirklich! :thumbsup:
Wie bist du da bloss draufgekommen?

Am Anfang habe ich gedacht, was der steht immer da, am gleichen Ort? Aber ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass es ein Baum sein könnte... :hmm:

 

Hi Jingles,

super Idee.
Wäre auch nie auf einen Baum gekommen, zumindest nicht beim ersten lesen.
Du hättest aus deiner Erzählung auch ein Rätsel machen können.

Schön, auch mal wieder etwas heiteres zu lesen.

glg, coleratio

 

Danke für das viele Lob!

@cooleratio
Wie hast du das gemeint, ich hätte aus der Geschichte auch ein Rätsel machen können? Ich glaube ich weiß schon was du meinst, mir würde es allerdings schon etwas nützen, wenn du mir das genauer erklärst...

 
Zuletzt bearbeitet:

na, indem du ganz einfach den Leser gebeten hättest, selber zu erkennen,
wer der Beobachter ist.
Ich glaube kleine Rätsel werden hier gerne gelöst.
Ich finde es auch immer spannend.

lg, coleratio

 

Hallo Jingles!

Wow! Ich bewundere die tolle Idee: aus einem simplen, "alltäglichen" Objekt einen gefälligen Text gezaubert. Erst dachte ich auch: Was soll das denn? - Nun aber: Einfach cool!

Schöne Grüße,
Emil

 

Die viele positive Kritik freut mich wirklich. Ich glaube, ich hatte noch nie derart viel Lob in meinem Feedback. :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Jingles,

ich bin ein großer Fan von Personifizierungen und metaphorischer Sprache, kreativen Ideen und gekonnter Umsetzung: nun, damit habe ich wohl schon charakterisiert, warum mir deine Geschichte im Großen und Ganzen gefallen hat.
Die Pointe habe ich zwar schon früh geahnt (

In meinem Leben ist mir nicht viel wichtig. Nur eins ist für mich von echter Bedeutung: Beobachten zu können. Ich stehe manchmal mit dem größten Vergnügen am Straßenrand und erfreue mich am hektischen und ereignisreichen Treiben das sich mir bietet. Die Luft ist zwar schlechter als draussen im Wald,dafür gibt`s dort auch nicht so viel zu sehen. Meine beiden Brüder wohnen dort...
), was mich aber nicht störte, sondern eher freute, als sich meine Vermutung zum Schluss bestätigte.

Nachfolgend möchte ich eine kleine Analyse starten:

Abschnitt 1
Im ersten Abschnitt erfährt der Leser etwas über die Vergangenheit (Prämissen) und die gegenwärtige Situation des Baumes. Er wuchs im Wald auf und erlitt in seiner Kindheit eine Entwurzelung, indem er umgesiedelt wurde. So manch einer würde da ein Kindheitstrauma von bekommen, nicht aber dieser Baum: Er wägt die Umweltbedingungen (schlechtere Luft) seines neuen Standortes gegen den Unterhaltungsfaktor ab und kommt zu dem Ergebnis, dass es ihm in der Innenstadt ganz gut gefällt, weil er hier mehr beobachten kann als im Wald - das nenne ich erstmal eine positive Grundeinstellung. Wir haben es also mit einem personifizierten Baum zu tun, der Freude hat, seine Umwelt zu beobachten. Manch einer könnte ihm so voyeuristische Züge bescheinigen, aber mal im Ernst: was soll ein Baum auch anderes gegen die Langeweile machen als "dastehn und zusehn"? ;)

Fehlerliste Abschnitt 1:

Ich stehe manchmal mit dem größten Vergnügen am Straßenrand und erfreue mich am hektischen und ereignisreichen Treiben, das sich mir bietet.

als draussen
...als draußen...

Meine beiden Brüder wohnen dort, müsste man an dieser Stelle erwähnen.
stilistisch vielleicht besser: Man müsste hier/jetzt erwähnen, dass meine beiden Brüder dort wohnen.

Doch als ich das sechste Lebensjahr erreicht hatte, wurde ich von meinen neuen Stiefeltern mit in die Stadt genommen.

Seitdem habe ich diesen Standort
Klingt schief, besser: Seitdem stehe/wohne/beobachte ich hier...


Abschnitt 2
In diesem Abschnitt reflektiert der Baum über seine Familie (Brüder) und stellt eine Frage, wie sie wohl auch ein Kind stellen würde, wenn es davon erfahren hätte, dass es zwar Geschwister hat, diese aber im heimischen Wald sind. Der Baum hat also Erinnerung und Gefühl, Merkmale der Personifizierung.
Unnötig hingegen ist die Wiederholung:
Wie gesagt, in meinem Leben ist mir nicht viel wichtig. Nur eines ist von Bedeutung: Beobachten zu können.
Sie kann weggelassen werden. Wenn du sie beibehalten willst, versuche sie in andere Worte zu kleiden als diese, welche du ja im ersten Abschnitt schon benutzt hast.

Fehlerliste Abschnitt 2:

Manchmal denke ich nach und frage mich, wie es meinen beiden Brüdern wohl ergangen sein mag.
schön finde ich den Konjunktiv "...ergangen sein mag": trifft man heute nicht mehr oft an, ist aber für mich ein sprachlicher Diamant... :)

Abschnitt 3
Die hochgepriesene Zivilisation würde mich wahrscheinlich einen "zwanghaften Voyeur mit Wahrnehmungsstörungen" nennen, aber wieso sollten sich die denn schon für mich interessieren, ich gehöre da nicht dazu...
Hier versuchst du, Gesellschaftskritik zu üben. Passt aber nicht ganz in den Verlauf, denn wo bitte schön hast du eine Wahrnehmungsstörung des Beobachters beschrieben? Dass er beobachtet, kann ja nicht die Störung sein. Und dass er das Leben in der Innenstadt interessanter findet als jenes im Wald ist wohl auch nachvollziehbar. Bitte um Aufklärung.
Außerdem passt sein Ton nicht: er kommt selbstmitleidig rüber - "...aber wieso sollten sich die denn schon für mich interessieren, ich gehöre da nicht dazu..."
Die Außenseiter-Position brauchst du hier mMn nicht explizit zu kennzeichnen. Sicherlich sind sensible und beobachtende Bäume keine Massenbäume, wenn du verstehst, was ich meine...;)

Abschnitt 4
Eine schöne Beschreibung der Empfindungen des Baumes (Personifizierung), wie die Natur auf ihn wirkt, die er durch seine Sinne wahrnimmt, also nicht nur der Beobachtung.
Hier verwendest du die von mir so geliebte metaphorische Sprache sicher und ausdrucksstark! Beispiele, die mir sehr gefallen haben:
Ein heftig wehender Wind ist für mich ein rauschartiges Erlebnis.
Und selbst Blitz und Donner genieße ich, da ich auch die Furcht in mir wertschätzen muss, sie lehrt mich die Vergänglichkeit des Lebens.

Allerdings hätte ich mir an dieser Stelle noch einige Eindrücke aus der zivilisierten Umgebung gewünscht, etwa wie er auf rasende Autos oder Liebespaare reagiert (auch ein Baum sucht nach Liebe, glaube ich :)) So hättest du den Sehnsuchtsgedanken nach saubererer Luft und Liebe und/oder Freundschaft einfließen lassen können.

Was mir nicht gefallen hat ist die Verwendung der Metapher "Motor" im ersten Satz. Ein Motor kommt aus dem technischen Wortfeld und hat nichts mit dem Leben eines Baumes zu tun. Treffend würde man hier von einem "Kreislauf" sprechen, da der Baum ja beobachtend wahrnimmt und wahrnehmend beobachtet.

Abschnitt 5
In diesem Abschnitt spricht der Baum von jenen sehnsuchtsvollen Gefühlen, die er verspürt. Der Preis seines durch Beobachtung bereicherten Lebens ist diese Einsamkeit. Manch ein Baum zerbricht daran, wenngleich sie nicht selten ist für diese Lebensart.

Fehlerliste:

Doch manchmal, wenn ich an meinem Stammplatz neben der Parkbank gegenüber vom Supermarkt stehe, dann fühle ich mich allein.
Das "manchmal" muss hinter "...ich mich..." stehen, da du sonst sagst, dass er halt nur manchmal an seinem Platz steht, was für einen verwurzelten Baum durchaus selten zutrifft. ;)
...die sich im Wald in Gesellschaft baden.
Klingt unglücklich formuliert. Besser: sich im Wald der Gesellschaft erfreuen.
Dann will ich für einen kleinen Augenblick wieder zurück zu diesem wunderbaren Ort, der wohl langweilig, aber voller netter Gesprächspartner ist.

Abschnitt 6
Hier bringst du knapp und locker die Pointe ein. Fein: kein Geschwafel, sondern kernig! Gefällt mir.


So, nun bin ich mit meiner kleinen Analyse ferig.

Gute Nacht noch
Gruß Jan

P.s.: Zu Leben und Lernen hat mich meine Abivorbereitung inspiriert... solls geben ;)

 

Wow. Ich denke, du weißt mehr über meine Geschichte als ich selbst. :)

Ich werde mir die Verbesserungsvorschläge natürlich durch den Kopf gehen lassen, einige davon sind es wert, umgesetzt zu werden.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Jingles

Als erstes einmal:
Ne wirklich kleine feine Geschichte, an der ich gar nicht weiter rumkritisieren will. JBKs Analyse scheint mir dazu auch mehr als ausreichend. ;)

Ähnlich wie er, habe ich aber die Pointe schon sehr früh geahnt. Dies mag daran liegen, dass ich selbst gern derartige Pointen orientierte Geschichten verfasse (wie sie von Uwe nicht gemocht werden) und dummerweise etwas ähnliches im Schubfach zu liegen habe (auch wenn es sich dabei nicht um einen Baum handelt).

Aber da du mir jetzt damit zuvor gekommen bist, werd ich sie noch ein bisschen ruhen lassen.

Wer zuerst kommt, malt halt auch zuerst :)

Noch ne kurze Frage.
Hast du auch so überlegt wegen der Wahl der richtigen Kategorie? Ich meine, de einzige seltsame Aspekt ist im Prinzip ja nur die Erzählerperspektive.

mfg Hagen

 

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