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Der Beweis
Manela ging mit unruhigen Schritten auf die Tür ihres Elternhauses zu. Sie stand vor dem massiven Ding aus Holz und Metall, umfasste die Türklinke mit zitternder Hand und öffnete sie. Kurz bevor Manela aus dem Haus auf die alte Veranda hinaustrat umfasste sie eine Hand, zärtlich und wohlbekannt, an der linken Schulter. Sie drehte sich um und blickte in Vanessas Gesicht hinein wie in einen schrecklichen Zerrspiegel. Plötzlich blitzten grundlos Bilder aus ihrer Jugend in Manela auf und sie sah sich selbst und ihre Schwester lachend durch die vielen Hügel auf der dem Wald abgewandten Seite laufen. Vanessas Gesicht sah jetzt, im krassen Kontrast zu damals, zusammengefallen und schmerzverzerrt aus. Manela hätte ihr am liebsten eine gescheuert um jenen Gesichtsausdruck nicht mehr zu sehen, der sie so stark an ihre eigene Verzweiflung und ihren Schmerz erinnerte.
„Wohin willst du?“, fragte Vanessa mit abgehackter Stimme, als ließe sie das Weinen nicht mehr die Worte richtig aussprechen. „Auf die Veranda“, sagte Manela. „Ich halte es nicht aus, wenn soviel Menschen durch das Haus laufen. Die sind alle zu mir gekommen und haben mir die Hand geschüttelt und irgendwie wurde ich nie das Gefühl los, als ob sie alle Dämonen wären, die mich am Boden sehen wollen. Ich muss hier raus, sonst dreh ich durch.“ Vanessa nickte und löste den Griff. Vielleicht wollte sie mit auf die Veranda kommen. Bestimmt wollte sie das, dachte sich Manela. Doch es war einer jener Augenblicke zwischen den beiden Schwestern, die schon so oft vorgeherrscht hatten. Sie sahen sich an und sie wussten, was die andere dachte. Vanessa war es zweifellos bewusst, dass ihre Schwester alleine sein wollte, nur für ein paar Augenblicke. Deswegen sagte sie nichts mehr und drehte sich um. Manela drehte ebenfalls ihren Körper in Richtung Veranda und eine einsame Träne schoss ihr Gesicht herunter; sie zerplatzte auf dem Boden und schimmerte leicht in dem fahlen Licht einer Petroleumlampe, die einmal, vor vielen Jahren noch, auf der Veranda gebrannt hatte.
Sie ging hinaus und roch den seltsam einprägsamen Geruch jener Petroleumlampe, spürte die laue Sommernacht auf ihrer Haut und hörte irgendwo im Wald einen Vogel zwitschern. „Aber es ist schon fast Nacht“, dachte sie. „Müssen die nicht schlafen gehen?“ Sie sah die Welt wieder mit den Augen eines Mädchens. Alles schien größer zu sein als sie selbst. Am allergrößten sah zweifellos ihre Mutter aus. Sie saß auf einem mit Fell überzogenen Schaukelstuhl, wie eine wunderschöne Königin auf ihrem Thron, und strickte gerade einen Pullover für…
Manelas Gedanken erstarrten. Der Zeitfluss versiegte; sie ging mit ruhigen Schritten auf ihre Mutter zu und setzte sich mit gesenktem Kopf vor ihr auf dem Boden, natürlich im Schneidersitz, so wie früher auch. Dann hob sie den Kopf und sah sie aus der Perspektive an, die ihr so bekannt und vertraut vorkam. „Es tut mir so leid“, sagte sie mit zittriger Stimme. Ihr Gesicht hatte nun starke Ähnlichkeiten mit Vanessas, zusammengefallen und mit abgrundtiefer Traurigkeit erfüllt. Sie sprach mit der Endgültigkeit, die ihr Schmerzen so tief werden ließ. „Ich weiß, ich habe dich sehr vernachlässigt und es tut mir so schrecklich leid. Vielleicht bemerktest du mein Fortbleiben nicht; ganz alleine warst du ja nie mit Vanessa an deiner Seite; doch ich denke, du weintest viele Nächte um mich und mein Verhalten und fragtest dich oft wieso.“ Manela sah wieder auf dem Boden als schämte sie sich, ihrer Mutter geradeaus zu sagen, was ihr so schwer auf dem Herzen lag, welche Torheit sie zu ihrem Verhalten trieb. „Unser Verhältnis war immer ein ganz Normales. Du warst die Mutter, ich die Tochter, du sagtest und ich folgte. Daran hatte sich kaum jemals etwas geändert, bis eines Tages vor etwa fünf Jahren wir wieder hier auf der Veranda saßen und dir zugehört hatten, wie du von Vater sprachst. Ich weiß es noch ganz genau. Es war ein lauer Sommerabend, die Lampe brannte, du stricktest einen Pullover und wir saßen zu deinen Füßen auf dem Boden, so wie wir das am liebsten taten. Wir, ich und Vanessa, hörten dir immer gerne zu wenn du vom Vater sprachst, denn dein Reden über ihn war sehr poetisch und anreizend. Du beschriebst den Vater immer als herausragende Persönlichkeit, als hübsch und gebildet und immer lustig. Mir und Vanessa schmeichelte solch Reden, denn wir schlossen daraus auf uns selbst. Was du ganz besonders hervortatst war der Ausspruch, er sei so ungewöhnlich gut zu dir gewesen, mehr als zu jener Zeit üblich. Er habe dich geachtet, sagtest du uns, und du ihn.“ Manela fing an zu weinen und strich mit zitternder Hand über ihr Gesicht, um die Tränen wegzuwischen, die ihr dick und erbarmungslos im Gesicht standen.
„Nach seinem tragischen Tod wolltest du nicht mehr heiraten. Du hast immer gesagt, eine neue Heirat würde das unabschätzbare Risiko einer Sklaverei mit sich bringen, für dich und für uns. Du wolltest uns alle nicht hinter einem Mann in Ketten laufen sehen, das sagtest du so oft, vor allem zu mir als Ältere deiner beiden Töchter, denn eine mögliche Heirat war bei mir nicht mehr lange hin. Da ich dich sehr achtete, glaubte und verinnerlichte ich irgendwann das alles. Doch eines Tages, nachdem ich Erich kennen lernte und er um meine Hand anhielt und ich dir erschrocken und verwirrt davon erzählte, hast du mir geraten ihn zu heiraten um ein bequemeres Leben als du führen zu können, ohne materielle Sorgen. Ich fragte dich was mit der Sklaverei sei und du meintest, es wäre für mich leichter und vor allem realistischer, eine Ehe in Sklaverei zu bewältigen als ein Leben auf mich alleine gestellt. Du sagtest, du wollest nicht aus dem Himmel heraus sehen, wie eine deiner Töchter einsam zugrunde ginge.“
Manela stand auf und wischte sich die Tränen aus ihrem Gesicht. Sie sah noch einmal ihre Mutter an, drehte sich dem dunklen Wald links von sich zu und begann, immer schneller werdend und bald in panischem Laufen verfallend, zu ihm hinzurennen. Die Bäume vor ihr, die wie Wände aufgereiht zu sein schienen, drohten ihr sie zu verschlingen, wenn sie näher käme und alles zitterte, als sie mit jedem Schritt hart auf dem Boden aufkam und die Erschütterungen durch den ganzen Körper gingen.
Plötzlich hörte sie hinter sich Vanessa rufen, doch nicht mit der Stimme einer Frau sondern mit der Stimme eines jungen Mädchens. „Manela“, schrie sie aus voller Kehle. „Warte, Manela, lauf da nicht rein, halt“; doch sie hörte nicht auf ihre Bitten. Wut kam in ihr auf und sie wollte nur noch durch das kleine, in den Zaun geschnittene Tor rennen, es hinter sich zuknallen und inmitten des Waldes ihre Wut herausschreien. Sie hörte noch Vanessa rufen: „Sie hat das doch nicht böse gemeint“. Aber Manela war da anderer Meinung. Sie hatte es böse gemeint. Und damals wollte sie ihr beweisen, dass sie Unrecht hatte.
Als sie vor dem Wald stand überkam sie eine so große Furcht vor dem Dunkel, dass sie auf die Knie fiel und anfing bitter zu weinen; teils über die erlittene Niederlage, teils über ihre Angst, dass sie unfähig war auch nur den Kopf zu heben und dem Wald entgegenzusehen. Vanessa kam mit großen Schritten, so schnell sie eben konnte, auf sie zugestürmt und fiel ebenfalls neben ihr auf die Knie. Sie keuchte, legte ihren linken Arm um ihre Schultern und sah sie an; Manela wusste, was sie ihr mitzuteilen versuchte. Sie hat das wirklich nicht böse gemeint, sie will doch nur das Beste für uns.
Aber Manela konnte in den folgenden Wochen und Monaten nicht mehr recht mit ihrer Mutter und ihrer Schwester unter einem Dach leben, und so strickte sie sich eine Lüge zusammen, unter deren Deckmantel sie sich einigelte. Sie zog zum Studieren nach Freiburg, so weit vom elterlichen Haus entfernt wie irgend möglich. Erich hatte sie unmissverständlich klargemacht, dass sie nichts von einer Heirat mit ihm hielt, obwohl sie ihn doch sehr gerne hatte.
Manela lief davon. Sie war zu feige um sich ihre Niederlage einzugestehen und zu kindisch, um mit ihr gut umzugehen. Sie machte sich alles kaputt und erhoffte sich daraus vielleicht tröstliche Worte jener Person, der gegenüber sie sich geschlagen glaubte, ihrer Mutter. Doch der Trost blieb aus. Wie sollte das auch anders sein? Ihre Mutter wusste nichts von einer Niederlage, sie ahnte nie, welche Gefühle ihre Tochter ihr gegenüber hegte. Sie fragte nach und wunderte sich, war verzweifelt und ratlos über die Entscheidungen Manelas. Da diese ihr gegenüber plötzlich sehr verschlossen wurde und sich viele Jahre lang nicht meldete, gab die Mutter den Gedanken auf, jemals wieder etwas von ihr zu hören. Sie starb in der scheinbaren Gewissheit, ihrer Tochter sei nichts mehr an ihr gelegen. Wenn sie gewusst hätte was in jener Nacht vor dem Gartentor passierte, wäre alles sicherlich anders gekommen.
Manela stand auf. Sie starrte das Tor an, dann den Wald, dann wieder das Tor. Entweder sie würde es tun oder den Rest ihres Lebens davonlaufen wie bisher. Da es erst den Tod ihrer Mutter erforderte um sie wieder vor das Tor zu bringen, fühlte sie sich dazu verpflichtet, den Beweis nun zu vollbringen. Sie drückte, wie anfangs die Türklinke im Elternhaus, die Klinke des Gartentores nach unten und machte es auf. Doch dieses Mal war keine Hand da, die sich sorgte; sie war auf sich alleine gestellt. Sie trat durch das Tor, machte es zu und fing an in den Wald zu rennen, bis das Licht des Hauses nicht mehr zu sehen war.