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Der Brief

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28.11.2014
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Der Brief

Sie zog den Prospekt zusammen mit der Zeitung aus dem Briefkasten. Er war ein wenig aufgeweicht vom Regen, der durch den löchrigen Deckel getropft war. Wir müssten einen neuen kaufen, dachte sie. Immer, wenn die Post nass war, fiel es ihr wieder ein. Und jedes Mal schob sie den Gedanken daran zur Seite. Unter siebzehn Euro war keiner zu bekommen. Ganz schön teuer.

Sie ging in die Küche und legte die Zeitung neben Pauls Teller. Während sie einen Schluck Kaffee nahm, strich sie den welligen, feuchten Prospekt glatt und betrachtete seine Titelseite. Das Model trug einen Pullover in einem hellen, matten Rosa. ‚Hundert Prozent Cashmere!’, las sie. Sie liebte dieses Weiche und Seidige, empfand es als sanft und ruhig. Es bereitete ihr Vergnügen, sich diese leichte Wolligkeit überzustreifen, sich im Spiegel zu betrachten und sich elegant zu fühlen. Ihre Schwester sagte ihr immer, dass sie sich mit viel Geschmack kleide. Ja, wenn sie deren Geld hätte, würde sie sich nur Qualität kaufen, erste Qualität. Aber sie mussten rechnen. Besonders jetzt. Paul war ein guter Mann, hatte immer gearbeitet, aber zu oft für seinen Freund Jürgen. Der hatte Paul zu nehmen gewusst, hatte ihm stets gesagt, wie sehr er auf ihn angewiesen sei, wie sehr er ihn brauche. Hatte ihm das Geld bar auf die Hand gegeben, ihm immer einen Sechserpack dazugestellt. Nur angemeldet hatte er ihn nicht.

Auf Seite drei des Prospekts waren die Kindersachen. Auch runtergesetzt. Petra, ihre Schwiegertochter, würde es nicht gut finden, aber die Sachen waren wirklich billig. Sie stellte sich die Kleinen darin vor, freute sich auf deren Freude. Am Wochenende würden sie kommen. Sie liebte diese Wochenenden, wenn die Enkel im Garten spielten, zu ihr kamen, sich zu ihr setzten, etwas fragten und sie ihnen erzählen konnte. Dann war sie wieder die junge Mutter, die mit ihren Kindern spielte, mit ihnen herumtollte, mit ihnen sang, mit denen, die lebten.

Sie räumte ihr Geschirr weg, ging ins Wohnzimmer, öffnete das Fenster und ließ die frische Luft in den Raum. Langsam verlor sich der abgestandene Rauch. Die Weinflasche war noch halb voll. Er trank nicht viel, wenn er seine Sendungen schaute, Reiseberichte und Filme über andere Länder. Aber er rauchte zu viel. Der Aschenbecher war gefüllt mit Zigaretten, die bis zum Filter heruntergeraucht waren. Sie stellte die Flasche ins Regal, sah den Brief, den er dorthin gelegt hatte, wollte ihn nehmen. Das hat noch Zeit, dachte sie und zog ihre Hand zurück. Sie nahm den Aschenbecher und das Weinglas mit dem rot-geronnenen Rest und brachte beides in die Küche.
Später, wenn auch er wach war und seine Sachen dazu gestellt hatte, würde sie alles spülen.

Unschlüssig saß sie am Tisch, ihre Hand lag auf dem Prospekt, der sich immer noch feucht anfühlte. Sollte sie schon losfahren? Es war noch früh, erst neun, Strauss öffnete um zehn. Sie ging ins Wohnzimmer, schloss das Fenster. Der Himmel war grau, aber es regnete nicht mehr.
Sich im Wohnzimmer umschauend, überlegte sie, was sie noch tun konnte. Wieder fiel ihr Blick auf den Brief. Später, dachte sie und ging zum Flur.
Leise zog sie die Stiefel und die Regenjacke an, öffnete behutsam die Eingangstür, schlüpfte hindurch und zog sie ganz langsam hinter sich zu. Das Einrasten war kaum vernehmbar. Sie ging zum Schuppen, wo ihr Fahrrad stand.

Das Haus, in dem sie wohnten, lag am Ende der Stadt, nahe am freien Feld. Sie bog ein in die Straße, die ins Zentrum führte. Hier war alles noch ruhig, es gab keine Geschäfte, nur schmale Wohnhäuser mit grauroten Klinkern. Dieses Viertel war gleich nach dem Krieg wieder aufgebaut worden, man hatte die Steine der zerbombten Häuser verwendet. Und auch für die Friedhofsmauer, an der sie jetzt entlangfuhr, hatte man sie genommen. Im Gegensatz zu den Häusern, die sie ärmlich aussehen ließen, gaben die Steine dem Friedhof etwas Ehrwürdiges, fast so, als gebe es ihn schon seit Jahrhunderten.
Ob das Tor noch geschlossen war?
Greta stellte das Fahrrad gegen die Wand, nahm ihre Tasche und drückte mit der Hand gegen das Tor, das sich öffnete. Sie könnte den Primeln Wasser geben, ging es ihr durch den Kopf. Eigentlich war es ja noch nicht nötig nach zwei Tagen. Und dann hatte es ja auch geregnet. Aber besser, sie schaute mal nach.
Die kleinen Gräber waren die ersten, die man sehen konnte, wenn man durch das Tor trat. Links und rechts säumten sie den Weg. Kleine Gräber mit kleinen Tafeln. Jojos war das sechste auf der rechten Seite. Man sah es schon von weitem. Der kleine Wacholder, den sie vor fünfundzwanzig Jahren gepflanzt hatten, war groß geworden. So groß, dass das Grab aussah, als wäre es nur für ihn angelegt worden. An der Seite waren kleine, schräg angeordnete Steinplatten in den Boden eingelassen. Ein paar hatten sich gelöst, drohten zur Seite zu rutschen und gaben dem Grab etwas Unordentliches. Sie würde Paul bitten, sie wieder zu befestigen. Er würde nicht gerne mitkommen, das wusste sie.

Das kleine weiße Schildchen war hinter dem Wacholder kaum noch zu erkennen. Jonas Johannsen. Ihre Schwester hatte gescherzt, dass man ihn in der Schule sicher Jojo rufen würde. Jojo. Die Primeln waren noch frisch, sie brauchten kein neues Wasser. Sie bückte sich, sammelte ein paar welke Blätter auf und strich über die feuchte Erde zwischen den Pflanzen und dem Wacholder. Das Grab nebenan war wieder frei. Man hatte nicht verlängert und die kleine Tafel war weggenommen worden. Das kleine Mädchen war schon dort gewesen, als Jonas kam. Es hatte früh zu schneien begonnen in jenem Jahr und sie hatten sich auf eine weiße Weihnacht gefreut, seine erste Weihnacht.

Ihre Hand wischte immer noch über die Erde.
Wäre sie nicht aus dem Zimmer gegangen, wäre alles nicht passiert, wäre er nicht gefallen, so unglücklich gefallen, dass nichts mehr zu tun blieb. Irgendwo in seinem kleinen Gehirn hatte es angefangen zu bluten. Sie starrte auf ihre Hand, die hin- und herfuhr und die kleinen klebrigen Bröckchen der Erde immer aufs Neue verteilte. Und jetzt der Brief.

Sie richtete sich auf und rieb mit einem Taschentuch die Erdreste von ihren Fingern. Es hatte ganz leicht zu nieseln begonnen. Sie zog die Kapuze ihres Anoraks über den Kopf und ging zurück zum Fahrrad.

* * *

Es war mehr geworden, als sie vorgehabt hatte. Die beiden kleineren Tragetaschen konnte sie vorne im Korb verstauen, die größere mit den beiden Pullovern hängte sie an den Lenker. Heute war ein besonderer Tag bei Strauss: Viele Artikel waren noch billiger als im Prospekt - aber nur heute. Die Kinder würden sich über die neuen Sachen freuen.
Sie stellte die Tragetaschen leise neben den Garderobenschrank und ging durch die offene Tür in die Küche.
Paul hatte das Geschirr abgewaschen und war dabei, die Kartoffeln zu schälen.
Er gab ihr einen flüchtigen Kuss und schaute wieder auf die Kartoffel in seiner Hand.
„Du musst das zurückbringen. … Es geht nicht. Wir kommen sonst nicht aus.“
Sie betrachtete die grauen Platten des Küchenbodens, schämte sich und wusste, dass er Recht hatte.
„Die Pullover waren wirklich günstig. Zwanzig Euro billiger.“
„Glaub mir, es geht nicht. Wir sind am Monatsanfang.“
Sie wusste, dass das, was er sagte, richtig war, dass es nicht anders ging.
„Ja, am Nachmittag bringe ich alles zurück.“ Ihr kam eine Idee: „Aber vielleicht können wir die Sachen für die Kleinen behalten? Das war nicht viel.“
„Du weißt, was Petra sagen wird. Sie möchte nicht, dass du ihnen immer wieder etwas kaufst. Sei vernünftig. Es geht nicht anders.“
Die Platten waren grau mit kleinen Sprenkeln; in ihr stiegen die Tränen auf.
Er hörte, wie sie die Nase hochzog, ließ die Kartoffeln stehen, kam zu ihr und gab ihr ein Taschentuch. „Sei vernünftig. Es ist doch nichts passiert. Du bringst alles zurück und alles wird gut.“
Er nahm sie in den Arm und drückte sie an sich, sah über ihre Schulter.
Alles wird gut, hallten seine Worte in ihm wider. Nichts war wirklich gut geworden. Auch nach fünfundzwanzig Jahren nicht. Er wusste, dass es der Brief war, der alles wieder nach vorne geholt hatte. „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Aber die Narben blieben. Manchmal überdeckte sie ihre Narben mit kleinen, unsinnigen Einkäufen. Er wünschte, er könnte sie gewähren lassen. Es würde ihr helfen, ein bisschen zumindest – für ein paar Glücksmomente.

Während er sie streichelte und darauf wartete, dass sie ruhiger wurde, dachte er an den Brief. Morgen würde er ihn beantworten. Das kleine Grab musste bleiben – für sie.

 

Lieber Freegrazer,
schön wieder etwas von dir zu hören. Ich freue mich über deinen Kommentar und deine Ausführungen und möchte gerne gleich darauf eingehen:

Er war ein wenig aufgeweicht vom Regen, der durch den löchrigen Deckel getropft war. Wir müssten einen neuen kaufen, dachte sie.
Das Subjekt des ersten Satzes ist „er“ – der Briefkasten. Deshalb schien es mir klar zu sein. Theoretisch könnte sich der zweite Satz natürlich auf den Deckel beziehen, aber das macht doch so richtig keinen Sinn. Ich glaube, ich lasse es mal so, weil ich sonst auch noch einmal dieses sperrige Wort „Briefkasten“ einfügen müsste.

Den Satz mit der Freude werde ich mir noch mal überlegen. Vielleicht fällt mir ein besserer ein.

Dritte Sache ist geändert.

Bei der vierten von dir angemerkten Sache, überlege ich auch noch. Dieser Satz bezieht sich ja auf etwas, was schon vorher auftaucht. Ich werde ihn deshalb vielleicht darauf beziehen. Mal sehen.

Danke für dein sorgfältiges Lesen.

Ich wünsche dir ein schönes, sonniges Wochenende.
Liebe Grüße
barnhelm

 

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