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Der dritte Flügel
Versonnen betrachtete ich das metallisch glänzende Ding, wog es in meiner Hand und wendete es hin und her. Wie und warum mochte es entstanden sein? Welcher sonderbaren Laune des Zufalls verdankte es seine Existenz? Oder war es ihm vom Schicksal vorherbestimmt, so und nicht anders auszusehen, um irgendeinen verborgenen Zweck zu erfüllen? Wie von selbst entstanden Bilder in meinem Kopf. Ich sah ...
... einen Frosch, der über eine saftige Wiese hüpfte und noch etwas zum Abendbrot suchte. Da erblickte er auf der Spitze eines Grashalmes vor sich eine Mücke. Der Abendwind umspielte ihre zarte Gestalt. Das ist es, dachte der Frosch. Ziel anvisiert, Zunge startklar gemacht und l... Doch er kam nicht dazu sein Vorhaben auszuführen. Ein Storch, der zufällig vorbeikam, verhaftete ihn wegen unerlaubten Betretens seiner Wiese. Ohne dem Delinquenten seine Rechte zu verlesen, wollte der Storch der Tat die Strafe auf dem Fuße folgen lassen. Der Frosch aber ließ den Mut nicht sinken und sprach:
„Haltet ein, Herr Storch. Wenn ich schon zum Tode verurteilt bin, so habe ich doch wenigstens das Recht auf ein letztes Wort. Also lasst mich noch eine Geschichte erzählen.“
Der Storch wollte etwas entgegnen, besann sich aber und nickte gewährend.
Und der Frosch begann mit seiner Geschichte:
„Es begab sich, dass ein junger Drache über das Land flog. Seine Flügel zerteilten die Luft mit mächtigem Schwung, doch besaß er drei davon und so mangelte es seinem Flug an Eleganz. Er wirkte wie ein Betrunkener, der dahin taumelt, und nicht wie ein stolzer Drache, ein Herrscher der Lüfte.
Das Herz des Drachen war schwer vor Kummer. Ach gäbe es doch jemanden, mit dem er reden, der ihm Trost spenden könnte. Im selben Moment, als er dies dachte, erblickte er auf der Wiese, die im Licht der Abendsonne so lieblich unter ihm lag, etwas Weißes ...“
Hier wurden sie von einem pfeifenden Geräusch und einem Schatten, der auf sie fiel, unterbrochen.
Der Frosch und der Storch schauten nach oben und erblickten über sich einen Drachen, neunköpfig und grüngesprenkelt, unglaublich groß und – mit drei Flügeln. Ehe sie es sich versahen, landete das Ungetüm schon unbeholfen vor ihnen und neunstimmig hallte es über die Wiese:
„Endlich habe ich jemanden gefunden, mit dem ich reden kann. So hört denn meine Geschichte:
Ich stamme aus dem Land hinter den Smaragdbergen, etwa neunzig Flugstunden südlich von hier, jenseits der großen Salzwüste. Meine Eltern herrschen dort über das Königreich Zahnir ...
Unter der weisen Regentschaft von Balthus II erblühte das Land und seine Untertanen lebten zufrieden und in Wohlstand. Weit über die Grenzen seines Reiches hinaus wurde Balthus geachtet und der Respekt der Menschen vor ihm war so groß, dass sie ihm als Zeichen ihrer Wertschätzung jedes Jahr eine schöne Jungfrau zuführten. Seine Gemahlin Zalintha, die Erste unter den Drachenfrauen, entstammte wie Balthus einem uralten Fürstengeschlecht. Beide konnten sich im Glanz der Liebe ihrer Untertanen sonnen und so vergingen die Tage für König Balthus und seine Gemahlin in Frieden und Harmonie. Nur etwas fehlte ihnen zu ihrem Glück und lag wie ein Schatten auf ihren Herzen.
Und manchmal, des Abends, wenn die Strahlen der untergehenden Sonne die beiden streichelten, die mit ihren Hälsen auf’s Innigste ineinander verschlungen auf der Terrasse vor ihrer Palasthöhle standen, konnte es wohl geschehen, dass Zalintha seufzte:
„Ach mein Gemahl!“
Und Balthus neigte dann seine Köpfe kummervoll, wusste er doch, was seine Gemahlin bedrückte.
Eines Abends, als sie wieder so beieinander standen, war es anders. Der Himmel war mit düsteren Wolken bedeckt, der Wind war eingeschlafen und selbst die Grillen waren verstummt. Daran mochte es liegen, dass der sonst nur unbedeutende Schatten wie ein schwarzes Tuch auf beider Seelen lag.
Und als Zalintha sagte: „Ach mein Gemahl, ich hätte so gern ein Kind, ein süßes kleines Drachenbaby“, da hielt es Balthus nicht mehr aus.
„Zalintha, mein Weib“, stieß er hervor. „Meinen rechten Flügel würde ich dafür geben, ginge dein Wunsch in Erfüllung!“
Die Worte Balthus‘ waren noch nicht ganz verklungen, da durchzuckte ein gleißender Blitz mit tausend Verästelungen den Abendhimmel und wenige Augenblicke später dröhnte ein gewaltiger Donnerschlag durch die Stille. Ein plötzlicher Windstoß kam auf und wuchs sich zu einem Sturm aus, den die Drachen in dieser Gegend schon seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatten.
Der rechte Flügel von König Balthus war verschwunden ...
Wenig später kam ich zur Welt, ein Scheusal, eine grässliche Laune der Natur mit meinen drei Flügeln. In einer vertrauten Stunde erzählte mir meine Mutter von den Ereignissen jenes Abends.
Meine Eltern versuchten, sich nichts anmerken zu lassen. Doch ich konnte es in ihren Augen lesen, wenn sie mich ansahen. In ihnen spiegelte sich ein Krüppel, der schuld an dem kläglichen Zustand von Balthus war.
Ich hielt es zu Hause nicht mehr aus. Sobald ich fliegen konnte, beschloss ich mein Glück in der Fremde zu suchen.“
Als der junge Drache geendet hatte, herrschte eine Zeitlang bedrücktes Schweigen. Dann ergriff der Frosch, der immer noch im Schnabel des Storches steckte, das Wort.
„Nun, Drache, das war eine traurige Geschichte, eine der traurigsten, die ich je gehört habe, quaak. Doch glaube mir, du bist nicht der einzige, der Grund zur Klage hat. Schau mich an, ich bin wegen Wiesenfrevel zum Tode verurteilt. Aber sei unverzagt, mein junger Freund.
Ich weiß einen Weg uns beiden zu helfen. Kennt ihr denn in eurem Land die Große Flügelmutter nicht? Nach allem was du erzählt hast, kann nur sie es gewesen sein, die das Opfer deines Vaters angenommen hat. Und als besonderen Beweis ihrer Gunst trägst du ein Geschenk von ihr – einen Wunschflügel. Ja, ich bin davon überzeugt – das, was du für ein Unglück hältst, ist eine besondere Gnade!“
„Was?... Ja aber ... wie kann das sein ...“, stotterte der Drache, während der Storch langsam misstrauisch wurde. Er begann hektisch mit dem Kopf zu rucken, um den Frosch tiefer in seinen Schnabel zu bugsieren.
„Schnell du Narr!“, schrie der Frosch. „Sprich mir nach: Ich gäbe meinen dritten Flügel ...“
„Ich ... ich verstehe nicht ...“
Der Storch verdoppelte seine Anstrengungen. Nur noch der Kopf des Frosches war zu sehen. Aus ihm kam es ächzend: „Brauchst ... du auch nicht. Sag‘s einfach.“
„Also gut. Ich gäbe meinen dritten Flügel ...“
Der Storch reckte seinen Schabel nach oben und machte Anstalten, den Frosch zu verschlucken.
„... wenn der Storch ein Kalif wäre.“
„... wenn der Storch ein Kalif wäre“, echote der Drache gehorsam.
Angewidert spuckte der Kalif den Frosch aus, der, bevor er im Gras verschwand, noch rasch dem Drachen zurief: „Na, was habe ich dir gesagt. Dein dritter Flügel ist jetzt wieder bei der Großen Flügelmutter.“
... Ja, so könnte es gewesen sein, dachte ich, und legte die dreiflüglige Mutter behutsam zurück in den Sand.