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- 07.02.2004
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Der Ghoul - Ueberarbeitet
Prolog
Zur schwärzesten Stunde bei Neumond gingen die 14 Männer eng aneinander gedrückt durch den undurchdringlichen Dschungel zu dem Tempel, den ihr Volk vor wenigen Tagen erst fertiggestellt hatte.
Die Luft starrte vor Kälte und die Bosheit, die sich – mit jedem Schritt, den die Männer taten – weiter ausbreitete, zog ein widerwärtiges Netz aus Niedertracht, Bösartigkeit und Blutgier um die nächtlichen Wanderer. Der Horizont schien sich zu einem Klumpen zusammenzuschnüren und die vor Furcht bebenden Männer mit aller Macht unter sich begraben zu wollen. Besorgt sah der alte Häuptling gen Himmel. „Als ob selbst die weisen Götter Angst vor denen haben, die wir heute.....“ „Schweig, mein Freund. Hier und heute Nacht haben die Schatten Ohren. Sie werden dich noch hören und alles war vergebens.“ flüsterte der Schamane seinem alten Freund zu und sah wieder nach vorn. Wie ein bedrohlicher Schatten lugte der flache Tempel nun zwischen den Urwaldbäumen hervor und der einzige Eingang verwandelte sich in der Phantasie der überreizten Männer in einen pechschwarzen Schlund der Verdammnis. Das Gebäude war ausschließlich aus rotem Sandstein erbaut worden und die Steinmetze ihres Volkes hatten die Innen- und Außenwände aufwändig mit bildhaften Fresken derer verziert, die heute Nacht hier auf ewig gefangen werden sollten. Die Männer zitterten vor Angst, doch ihr Schritt war fest. Sie wussten, was sie zu tun hatten und stellten sich der schweren Aufgabe. Sie durften nicht versagen oder das Schicksal ihres Stammes war besiegelt. Sie hatten nur einen einzigen Versuch und der Stammesschamane hatte seit über zwei Monden nichts anderes getan, als sich auf diese eine besondere Nacht vorzubereiten.
Und heute war es soweit.
Die eisige Bösartigkeit, die während der ganzen Wanderung zum Tempel in der Luft gelegen hatte, erreichte jetzt einen neuerlichen Höhepunkt.
Den verängstigten Männern stellten sich die Nackenhaare auf und ein ekelerregend scharfer Wind fuhr ihnen wie messerscharf gewetzte Klauen über die Haut und ließ die Krieger vor Angst zittern und beben. Tod lag in der Luft. Das Böse war erschienen und strich mit schauerlichen Jammern und Stöhnen zwischen den Männern
– reißen, zerfetzen, töten –
und nährte sich von deren Entsetzen. Panik drohte auszubrechen.
– töten, wir wollen euer Blut trinken –
Was getan werden musste, musste schnell getan werden oder es war zu spät. Das Böse spürte ihre Angst und lachte vor diabolischem Vergnügen.
Als sie nach einer schier ewigen Wanderung durch die bedrohliche Finsternis den Eingang zum Tempel erreichten, prüfte der Schamane noch mal die Beschwörungsformeln und Warnungen, die in den Außenfresken festgehalten waren. Er nickte zufrieden, alles war ordnungsgemäß ausgeführt worden.. Es sollte, nein es musste genügen und alle Toren davon abhalten zu befreien, was heute Nacht hier für immer gebunden werden sollte.
Der Häuptling und der Schamane wechselten noch einen langen, besorgten Blick. Sie waren beide alte Männer und kannten sich schon ihr ganzes Leben lang. Sie waren sich nicht immer einig gewesen. Doch beiden lag das Wohl ihres Volkes am Herzen und jetzt war der Punkt erreicht, an dem das letzte und höchste Opfer von ihnen verlangt wurde.
Sie strafften ihre alten, schlaffen Körper, atmeten tief ein und traten gefasst Seite an Seite in den Tempel. Die beiden total entsetzten Wächter mit den zehn feindlichen Kriegern, die heute geopfert werden würden, folgten ihnen auf dem Fuße. Die bösartige Präsenz folgte ebenfalls. Sie war neugierig – und blutgierig.
Geduckt trat die Gruppe durch das schauerliche Tor in den kurzen Gang, der sie ins Innere führte.
Sofort nach Erreichen des einzigen großen Saales mit dem Opferaltar in der Mitte fing der Schamane mit den Beschwörungen an. Das Innere des Tempels schien sich in Sekundenbruchteilen in die reinste Hölle zu verwandeln. Schatten wirbelten mit schauerlichem Grauen durch den Raum und das Fauchen, Kurren und Geeifern, das ein Versprechen auf Qualen, Schmerz und Tod in sich barg, vermischte sich zu einen infernalischen Stakkato der Mordlust. Der Häuptling wies die total entsetzten Krieger an, die mit Opium ruhiggestellten Opfer an den Altar zu ketten. Als das getan war, ging der Schamane zu den Opfern und schnitt ihnen, Beschwörungen murmelnd, die Kehlen durch. Der alte Häuptling wandte sich sorgenvoll zum vor sich hin murmelnden Schamanen um. Würden sie es rechtzeitig schaffen? Was, wenn sie scheiterten? Die Angst um sein Volk schnürte ihm die Kehle zu und er hieß die Krieger sich beeilen, den Tempel zu verlassen. Der Schamane ließ das herausschießende Blut auf den Altarstein spritzen und dort vermischte sich der süße Geruch des frischen Blutes mit der schweren, vom Blütenstaub übersättigten Dschungelluft.
Angestachelt vom süßen Duft des Blutes, wurde das Toben der Schatten zu einem irrsinnigen Tanz des Bösen. Das widerliche Gelächter schwoll an und vermischte sich mit den Schreien der sterbenden Männer am Altar. Der alte Mann sah sich im Raum um und diesmal schien es ihm fast so, als ob die in die Wände eingemeißelten Fratzen ihn verhöhnen wollten, als ob sie um ihr Scheitern wissen würden. Es schauderte ihn und er verdrängte diesen unheimlichen Gedanken aus seinem Bewusstsein.
Die Kälte und die Finsternis nahmen immer weiter zu. Die Schatten verdichteten sich weiter; die Tiere des Dschungels spürten die erstarkenden Geister der Finsternis und schwiegen.. Die Stille war so laut und greifbar, das sie in den Ohren der vor Furcht und Sorgen überreizten Männer schmerzhaft dröhnte.
Der beschwörende Singsang des Schamanen wurde lauter, eindringlicher und er begann im Takt der Gesänge zu tanzen. Immer wilder zog er seine Runden weit um den Altar mit den angeketteten Opfern. Das Stampfen seiner Füße vermischte sich mit dem Schlag ihrer vom Adrenalin aufgepeitschten Herzen und die beiden alten Männer fielen in eine ekstatische Trance.
Die Schatten bildeten Gestalten aus und wurden zu schwarzschillernden, körperlichen Geisterwesen. Fast wie Menschen sahen sie aus, wenn nicht in ihren kalt funkelnden Augen die schiere Bösartigkeit lauern und mit ihrem bösartigen Knurren und Fauchen ihr wahres, finsteres Wesen verraten würden.
Als sich die hungrigen Geister über die für sie bestimmten Opfer hermachten, vermischte sich das Reißen und Zerbersten von Knochen mit den jetzt geschrienen Beschwörungen des Schamanen. Der alte Häuptling schloss die Augen und hoffte inständig, das sie Erfolg haben würden.
Die bösen Geister, die schon so viel Leid über ihr Volk gebracht hatten, durften nie wieder aus dem Tempel entkommen.
Als die Wesen ihren Hunger gestillt hatten, versuchten sie, wieder aus dem Tempel zu entkommen. Es gelang ihnen nicht, die durch die Beschwörungen des Schamanen errichtete Barriere hielt. Der Schamane und der Häuptling sahen sich triumphierend an. Sie hatten gewonnen! Die gefangenen Geister tobten vor Wut und Zorn und beide Männer wussten, das sie ihren Sieg mit dem Leben bezahlen würden. Doch es kümmerte sie nicht. Ihr Volk war gerettet und beider Nachfolge gesichert.
Das Wichtigste war nun, das keiner der 5 Geister auf die einzige Möglichkeit kam, wie die Flucht gelingen könnte.
Doch welcher Mensch wäre schon so dumm, hier freiwillig einzudringen? Die Warnungen an der Tür waren eindeutig und würden jeden daran hindern, hier einzutreten.
Der alte Häuptling lachte Tränen vor Glück, als sich die Geister wütend auf ihn stürzten. Nein, sie würden niemals mehr entkommen. Niemand würde sie hier je finden.
Der älteste und mächtigste der Geister beobachtete die beiden Männer genau und fing an zu überlegen.
Er würde die Lösung des Rätsels schon finden.
Der Ghoul
Es war ein sonniger Tag in Houston, Texas, als Jamie Johnston, genannt JayJay, die kleine Gulfstream enterte, sich auf den Pilotensitz schwang und die Triebwerke startete. Sein Co-Pilot Freddie Coltrane war wie immer schon früh da gewesen und hatte die Systeme durchgecheckt. Freddie und JayJay arbeiteten schon seit vielen Jahren gemeinsam bei Stardust Inc., einer kleinen Firma, die Jets aller Größen und Ausstattungen an Schauspieler, Bands und andere berühmte Persönlichkeiten vermietete. Sie waren ein eingespieltes Team und beherrschten ihr Handwerk im Schlaf. JayJay lächelte versonnen vor sich hin. Diesmal würde es eine herrliche Flugstrecke werden. Von Houston aus würden sie bis hinunter nach Rio de Janeiro fliegen und einen kleinen Zwischenstop in Santarem einlegen. Na ja, was heißt klein? Drei Tage im tiefen Dschungel des Amazonas waren von Timothy Brown, dem Bandmanager geplant. Drei Tage, in denen die Band, die Freddie und er runterfliegen sollten, dazu benutzen würden, einen Videoclip zu drehen.
Danach ginge es weiter nach Rio und dort würden sie die Band absetzen und zwei herrliche Wochen Urlaub machen. Seine Frau und Freddies Freundin würden sich dort mit ihnen treffen und er freute sich jetzt schon unbändig darauf. Das einzige Manko bei der Sache war, das sie bis dahin eine durchgeknallte Rockerband am Hals und in der Maschine haben würden. Er hoffte inständig, das die Kerle genug Hirn haben würden, um nicht hinter die Sitze zu scheißen. Man hörte ja die unglaublichsten Dinge über diese Verrückten.
Er seufzte. Es half nichts. Draußen stieg die Sonne immer höher und ein kurzer Blick auf die Uhr bestätigte ihm, das die Passagiere in Kürze hier eintreffen würden. Er straffte sich, verbannte die Sorgen um seine Maschine aus seinem Kopf und begann mit den Startvorbereitungen.
*
Ray und seine Bandmitglieder jubelten. Sie hatten es geschafft! Es war wie ein Traum. Nach drei Jahren harter Arbeit und Mühen war ihnen mit ihrem neuen Song „The seeds of darkness“ der Durchbruch gelungen und jetzt hatten sie einen Manager, Timothy Brown, der ihnen nicht nur eine Tournee organisiert hatte, sondern auch einen Dreh für ihren Song im tiefsten Dschungel Brasiliens. Ray war wie berauscht und nicht eine Sekunde dachte er daran, das sich seine Freundin Clarice garantiert nicht darüber freuen würde. Die ganze Nacht hindurch hatten sie lautstark und feuchtfröhlich in ihrer Lieblingskneipe ihren Erfolg gefeiert und bis auf Sonny, der sich nichts aus Groupies machte, hatten sie alle ihren Spaß mit Mädchen gehabt. Sonny hatte lieber seine langjährige Freundin Fay mitgebracht. Was sein bester Freund an diesem langweiligen, völlig durchschnittlichen Mädchen fand, würde er nie verstehen. Aber Ray zog Sonny deswegen nur sehr selten auf, da sein Freund äußerst allergisch auf Kritik an seiner Liebsten reagierte und ihm lag viel an ihrer Freundschaft.
Sonny war nicht nur Rays bester Freund sondern auch sein einziger. Ray war bestenfalls schwierig und Sonny der einzige, der es mit ihm aushielt. Deshalb zügelte er seine Boshaftigkeit und nahm Rücksicht auf Sonnys Gefühle.
Doch jetzt war es endlich Morgen und der Flieger wartete.
Die Jungs hatten sich mit dem Packen beeilt und nun fuhren sie mit dem extra gecharterten Bus, der sie einen nach dem Anderem eingesammelt hatte, rüber zum Flughafen. Ray war als Frontmann der Boss der Gruppe und er und Sonny, der Gitarrist hatten die Gothic-Band „Devilish“ gemeinsam gegründet. Jason, der Drummer, Keith, der Bassist und Kevin, der Keyboarder waren erst später dazugestoßen. Doch sie verstanden sich prima und grade Keith hatte mit seiner grade zu diabolischen Begabung maßgeblich zum Erfolg ihres neuen Songs beigetragen.
Er sprühte nur so vor Ideen und sein enormer Arbeitseifer wurde nur noch von seinem Bestreben, junge Mädchen zu entjungfern übertroffen.
Kurz bevor Ray in den Bus gestiegen war, hatte seine Freundin versucht, ihn zur Rede zu stellen. Sie meinte, es sei wichtig. Ray schnaubte verächtlich bei der Erinnerung an diese Szene. Wichtig! Pah. Bei Clarice war immer alles wichtig. Sie war zwar bildhübsch, hatte aber den Intellekt einer Seekuh. Sie war ihm fürchterlich auf die Nerven gegangen und er hatte sie zuletzt einfach stehen lassen. Wenn er ehrlich war, hatte es ihn noch nie interessiert, was in ihr vorging. Er brauchte sie zum Vorzeigen und fürs Bett, sonst nichts.
Für mehr waren Frauen seiner Meinung nach eh nicht nütze.
Er verdrängte die Erinnerung daran und wandte sich wieder den aktuellen Ereignissen zu, sprich ihrer Ankunft am Flughafen. Grade bog der Bus rechts ab zum Stellplatz ihrer Maschine. Ausnahmslos klebten die 22- 24 jährigen Jungs an den Scheiben und begafften begeistert die kleine Gulfstream, die ihr Manager extra für sie gechartert hatte.
Ray strich sich einige seiner langen, rötlichbraunen Locken aus dem schmalen, markanten Gesicht und lächelte.
Als der Bus dann endlich zum Stehen kam, stürmten die Jungs raus und enterten mit begeisterten Rufen die Maschine, aus der heraus die Groupies die Jungs lachend willkommen hießen. Sonny und Ray blieben einen Moment davor stehen und grinsten sich dann gegenseitig an.
Der schlanke, drahtige und charismatische Ray mit den langen, glänzenden Locken und den rauchgrauen schrägen Augen einer Wildkatze und der dicke, blonde Sonny mit den blauen Augen und dem immerwährenden Lächeln auf dem Gesicht bildeten auch rein äußerlich ein ungewöhnliches Gespann. Obwohl Sonny normalerweise ein recht gutes Gespür für Katastrophen hatte, ahnte auch er nichts von dem, was der Tag noch für sie alle bereithalten würde.
Ray warf noch einen letzten prüfenden Blick auf den schnittigen Flieger, dessen silbriger Rumpf im Licht der aufgehenden Sonne funkelte und gleißte und stieg dann genüsslich die kleine Gangway hinauf. Der leichte, heiße Sommerwind spielte in Rays langen Haaren und strich ihm fast zärtlich über die nackte Haut an seinem Oberkörper. Sonny betrachtete Rays Körper und plötzlich fuhr es ihm wie ein heißer Schmerz durchs Bewusstsein.
Hetzen – Reißen - Fauchen
Er hörte ein widerliches und endgültiges Knurren und Fauchen, das ihm kribbelnd über die ganze Haut fuhr, wie tausend Spinnen, die auf ihm herumkrabbelten.
Was für ein Geräusch machen Knochen, wenn sie unter gnadenlosen Reißzähnen zerbersten?
Am ganzen Leib erstarrt und schweißgebadet hatte er das Gefühl, als würden mörderische Klauen seinen Rücken zerfetzen, spürte eine geradezu unnatürliche Todesangst und hörte sich selbst innerlich schreien. Seine Nackenhaare stellten sich auf und er widerstand nur grade eben dem fast übermächtigen Drang, vor seinem Freund davonzulaufen.
Ich werde dich töten!
Fassungslos starrte der junge Mann seinem Freund einen Augenblick entsetzt an, dessen vertrauter Anblick eine solch merkwürdige Reaktion bei ihm hervorrief und folgte ihm dann zögernd in die Maschine.
*
Er war schweißgebadet. Die Triebwerke liefen im Leerlauf und röhrten leise vor sich hin, während die Gangway eingeklappt wurde.
„Also dann, Freddie, jetzt gilt´s. Lass uns diese Verrückten so schnell wie möglich wieder loswerden.“ Freddie lachte übermütig, als er die lächelnd ausgesprochenen Worte JayJays hörte.
„Aye Aye Kaptäin. Bringen wir es hinter uns.“
Als dann endlich die Türen verschlossen waren, ließ JayJay die Triebwerke aufheulen und steuerte mit lässiger Hand die kleine Maschine zur Startbahn.
Der Busfahrer – der nur zu froh war, diese Verrückten wieder los zu sein – hatte Freddie geholfen, das Gepäck der Jungs zu verladen und warf dem Piloten einen mitfühlenden Blick zu. Sie würden keinen ruhigen Flug haben mit dieser Meute an Bord. Dann stieg er wieder in seinen Bus ein und startete den 300 PS-Motor. Er sollte in einer halben Stunde an der Junior High School eine kleine Reisegruppe abholen und vorher noch schnell den Bus reinigen. Der hatte es nötig und er fluchte leise vor sich hin. Es würde verdammt knapp werden und er würde sich von seinem Boss einen Anschiss kassieren, weil er nicht rechtzeitig am vereinbarten Treffpunkt ankommen würde.
Als er mit dem Bus am Tor um die Ecke bog, hätte er beinahe ein kleines Auto gerammt, das versteckt hinter der Einfahrt stand. Er bremste scharf, fluchte wild und manövrierte dann sein sperriges Gefährt um den klapprigen Kleinwagen herum.
Die Fahrerin des Wagens stieg aus und ging wie in Trance zu dem Platz, an dem das Flugzeug sich grade zum Starten bereitmachte. Grade wurde die Gangway eingefahren und die Tür geschlossen. Die junge Frau blieb stehen und beobachtete stumm, wie die Triebwerke aufheulten und sich die kleine Maschine in Richtung Startbahn in Bewegung setzte.
Still und Stumm stand sie da. Nur die Tränen konnte sie nicht aufhalten, die langsam über ihre Wangen liefen. Der sachte Sommerwind umspielte sie und ließ ihr selbstgenähtes hellblaues Sommerkleid flattern. Sie wischte die Tränen fort und dachte unentwegt daran, was sie unter dem Herzen trug und daran, das der Vater es nicht einmal wusste. Er hatte gestern Abend nicht zuhören wollen. Sacht und zart strich sie sich über den schon leicht geschwollenen Bauch, in dem ihr Kind wuchs.
Als sie kurz darauf das Flugzeug abheben und in den leuchtend tiefblauen Himmel aufsteigen sah, wusste sie, was sie zu tun hatte.
Voller Energie und erfüllt mit einem eisernen Willen, den sie schon längst verloren geglaubt hatte, straffte sie ihre schmalen Schultern, drehte sich um und ging festen Schrittes zurück zu ihrem Auto.
Den Blick und alle Gedanken auf ihre Zukunft gerichtet warf sie keinen Blick zurück.
Sollte er doch im Dschungel verrotten – sie würde es nun nicht mehr interessieren.
In diesem Moment ahnte sie noch nicht, wie recht sie damit behalten würde.
*
Ruhig und gleichmäßig zog die Gulfstream über den tiefblauen Himmel in Richtung Rio.
Das Wetter war herrlich und der Wetterbericht für Südamerika ließ keine Verschlechterung erwarten.
JayJay und Freddie waren zufrieden.
Sie lehnten sich entspannt zurück und genossen die wunderschöne Aussicht auf das Land, das sich ihnen aus der Vogelperspektive darbot. Die friedliche Reise wurde nur durch den ohrenbetäubenden Lärm gestört, der von hinten vor bis ins Cockpit drang. Grauenvolles Geplärre – nannten die das wirklich Musik?? – durchbrochen von Schreien, Flüchen, Gepolter und lautem Gelächter vermischte sich zu einer nervenaufreibenden Kakophonie und die beiden Piloten waren nur zu angetan von der Aussicht, diese durchgeknallten Kerle bald wieder loswerden zu können.
Freddie seufzte tief, sah mit rollenden Augen zum Fenster hinaus und warf dann seinem Kollegen einen flehenden Blick zu. JayJay grinste und legte eine CD in den kleinen, tragbaren CD-Player, den er immer mitschleppte. Sie grinsten sich an und seufzten wohlig auf, als die vertrauten Klänge von Hank Snow das Cockpit erfüllten und den Lärm von hinten übertönten.
Nur einmal – als es hinten besonders laut schepperte, zuckten die beiden kurz zusammen und hofften, das ihr Flugzeug den Flug bis nach Rio heil überstehen würde.
Ein paar Stunden später über Mexiko fingen sie eine angeregte Unterhaltung an und zum ersten Mal in ihrer Laufbahn vergaßen beide, auf die Instrumente zu achten.
*
Hinten in der Maschine war die Party in vollem Gange.
Der Alkohol floss in Strömen und Ray tanzte halbnackt nur mit seiner Lieblingslederhose – die enge Schwarze mit den Schnüren an den Seiten – bekleidet volltrunken durch das Flugzeug. Wild mit Katie flirtend, einem der Groupies, die ihr Manager in weiser Voraussicht an Bord gebracht hatte, näherte er sich ihr und genoss ihre bewundernden Blicke auf seinem Körper. Sie strahlte ihn an und es bestand absolut kein Zweifel daran, das er sie flachlegen würde. Er verzog seinen Mund zu einem kleinen berechnenden Lächeln und nahm noch einen Schluck aus der Pulle. Keith war schon schwer mit einer kleinen Rothaarigen – wie hieß sie noch mal? – beschäftigt während sich Kevin auf dem Klo geräuschvoll übergab. Jason, der Bandjunkie, kicherte hysterisch unter dem Einfluss von Haschisch. „War wohl wieder `ne Tüte zuviel, Jase! Du kiffst dich noch mal zu Tode.“ röhrte Ray mit tiefer, volltönender Stimme quer durch die Maschine.
Doch er bekam keine Antwort. Der Angesprochene verdrehte nur dämlich grinsend die Augen und zog genüsslich ein weiteres Mal am Joint. Einzig Sonny hatte sich in einen der abgetrennten Räume zurückgezogen und schlief dort unruhig unter den Nachwehen seines Albtraumes. Sie alle hatten Grund zum Feiern – obwohl sie nie einen Grund brauchten – und Ray war bester Laune. Wieder stierte er die süße Katie lüstern an. Sie kicherte und fing an, mit ihm zu tanzen.
Mann war die Kleine heiß!
Als sie sich neckisch an ihn drückte und ihm zwischen die Beine griff, sog er heftig die Luft ein, zerrte sie in eine Ecke zwischen den Sitzen und fing wild an, mit ihr zu knutschen und zu fummeln.
„Hey Ray, nicht so laut da hinten!“ lallte es von weiter vorn.
Ray´s Kopf kam hinter den Sitzen hoch. Er keuchte schwer und grinste. „Schnauze Jason. Mach´ doch die Musik lauter, wenn´s dich stört.“
Jason nahm die Order wörtlich und drehte die Anlage auf volle Lautstärke.
Ray sah und hörte nichts mehr. Voller Lust zog er dem Mädchen das Höschen runter und öffnete seine Hose.
`Was bin ich doch für ein Hengst` dachte er und küsste sie wild.
Ohrenbetäubender Lärm pulsierte daraufhin durch das kleine Flugzeug und übertönte Rays Liebesgeräusche – und auch das Stottern der aussetzenden Triebwerke.
Dann brach die Hölle los.
JayJay und Freddie versuchten in wilder, verzweifelter Panik die wild schlingernde Maschine unter Kontrolle zu bringen.
“Mayday Mayday. Wir stürzen ab. Hört uns jemand? Mayday.“ Freddie schrie laut ins Mikro und schaltete wild und hektisch durch alle Notrufkanäle, während JayJay mit allen Kräften versuchte, das Flugzeug wieder unter Kontrolle zu bekommen. Doch sie bekamen sie keine Antwort. Der diensthabende Fluglotse im nahegelegenen Manaus war grade in der Mittagspause und hörte die Notrufsignale nicht.
Die Passagiere an Bord wurden wild durchge-schüttelt und als sich die abstürzende Maschine auf den Kopf drehte und trudelnd dem brasilianischen Dschungel entgegenstürzte, wurde Ray erst gegen die Flugzeugdecke geschleudert und fiel dann hilflos und schreiend quer durch den Gang.
Seine Schreie vermischten sich mit den Schreien seiner Freunde und er fiel in Ohnmacht noch bevor die Maschine in die Wipfel der Urwaldriesen stürzte und gebremst von den Ästen durch das Gewirr der Bäume dem Boden entgegenfiel. Wie durch eine glückliche Fügung des Schicksals erreichte der Rumpf der Maschine den Urwaldboden in einem Stück, nur die Flügel und das Ruder wurden abgerissen. Die Außenwände wurden durch die Wucht der Äste zerfetzt und zum großen Teil abgerissen.
*
Sonny kam als erster zu sich. Vorsichtig schlug er die Augen auf. Es war still um ihn herum und zuerst konnte er die Illusion aufrechterhalten, das das alles nicht passiert war. Doch nach und nach begann er die Laute des Urwaldes zu hören. Das Zirpen, Gackern und Kreischen vermischte sich mit dem Ticken und Zischen aus den Trümmern dessen, was einstmals ein Flugzeug gewesen war. Er sah sich staunend um und betrachtete die Trümmer mit der Neugier eines Kindes, bis ihn urplötzlich der Schock überwältigte. Er schluchzte auf und begann am ganzen Körper zu zittern. Unsicher rappelte er sich auf, kroch hinaus in aus dem Wrack und übergab sich heftig. Zu seinem grenzenlosen Erstaunen hatte er sich während des Absturzes zwischen Bett und Couch verkeilt und hatte den Aufprall daher nur mit ein paar bösen Prellungen und Schürfwunden überstanden.
Sonny atmete tief durch und begann wie wild in den noch rauchenden Trümmerteilen nach den Anderen zu suchen. Da die Tür zum Cockpit sich nicht öffnen ließ und auf sein Rufen und Hämmern niemand reagierte, wandte er sich wieder der Suche nach seinen Freunden zu. Einige Zeit später hatte er die Gewissheit, das Jason, Keith und Kevin tot waren. Auch von den Mädchen war keines mehr am Leben. Doch wo zur Hölle steckte Ray? Es war keine Spur von ihm zu finden und Sonny verlor langsam aber sicher die Nerven.
Er rannte schließlich Hals über Kopf weg vom Wrack, hinein in den undurchdringlichen Dschungel und entdeckte zu seiner Verblüffung nur wenige Meter von der Absturzstelle zwischen den dicken Stämmen uralter Urwaldriesen den uralten, total überwucherten Teil eines flachen, steinernen Gebäudes. Er staunte nicht schlecht, als er am Eingang zu dem verfallenen Gebäude frische Blutspuren entdeckte. Vielleicht war Ray ja hier drin? Tief durchatmend betrat Sonny zögernd das Gebäude.
Die dämonenartigen steinernen Fratzen links und rechts von der Tür sah er nicht – und auch nicht die Warnungen, welche die Erbauer vor unendlich langer Zeit in den Stein gemeißelt hatten. Was hätte es auch genützt? Sonny hätte sie eh nicht lesen können.
Eiskalt und düster war es drinnen. Von den üblichen Geräuschen Draußen war hier drinnen kaum was zu hören. Der junge Mann erschauerte und seine Nackenhaare stellten sich auf. Ein niedriger, schmaler Gang führte zu einem weiten, rechteckigem Raum, in dessen Mitte ein großer Steinblock stand.
Durch Öffnungen in der Decke fiel grade genug Tageslicht ein, um etwas erkennen zu können. Das Innere war erstaunlich gut erhalten und weder Pflanze noch Tier hatten sich hier breitgemacht, nicht einmal die Spinnen hatten es gewagt. Die steinernen Wände waren über und über mit merkwürdigen Ornamenten bedeckt, die im fahlen Sonnenlicht merkwürdig verzerrt aussahen. Es schien fast so, als wären die Erbauer noch hier und würden jeden Moment zurückkehren. Und doch war der Tempel außen vollständig überwuchert. Es war unerklärlich. Sonny erschauerte. Ein leises Stöhnen und eine kleine Bewegung vor dem Steinblock machte ihn auf den am Boden liegenden Ray aufmerksam. Erleichtert rannte er zu seinem Freund und drehte ihn um.
Ray war ganz offensichtlich schwer verletzt. Er hatte zahlreiche schon fast schwärzlich verfärbte Prellungen, Schürf- und Schnittwunden und mehrere gebrochene Knochen. Eine böse Platzwunde am Kopf war mit kleinen weißen Knochensplittern übersät. Das Haar war unrettbar mit Blut verklebt. Ein Rinnsal aus Blut lief ihm aus dem Mund übers Kinn und sogar jedes Kind hätte unschwer erkennen können, das Ray diese Verletzungen nicht lange überleben würde. Sonny wunderte sich komischerweise darüber, wie es sein so übel zugerichteter Freund nur bis hierher geschafft hatte. “Ray, hey Ray, kannst du mich hören? Sag doch was, bitte.“ doch Ray war nicht ansprechbar. „Oh Mann, was für eine Sauerei! Wir müssen unbedingt etwas gegen diese Blutung tun. Halte durch, Kumpel, okay?“ Er kniete neben seinem Freund und versuchte, die Blutungen zu stoppen, während sich dessen Haut langsam grau färbte und kleine, kalte Schweißtropfen den nahenden Tod ankündigten. Sonny weinte still vor sich hin.
Die Nacht senkte sich herab auf die beiden jungen Männer, die im Dschungel gefangen waren. Noch immer hielt Sonny Wache bei seinem Freund und versuchte, nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn man sie nicht fand. Er redete, um den im Delirium unruhig zuckenden Ray zu beruhigen, doch wenn er ehrlich war, redete er hauptsächlich, um sich reden zu hören. Der Klang einer menschlichen Stimme – und wenn es nur die Eigene war – hatte etwas tröstliches in dieser Einsamkeit.
Ob man sie schon vermisste? Sonny wusste es nicht.
Doch dann begann es.
Es war in diesem besonderen Augenblick, der Moment in dem die Nacht die Erde umschließt und ihren dunklen Schleier auf die Welt herabsenkt und die Finsternis die Herrschaft übernimmt. Es war dieser eine Augenblick, als die Schatten stärker wurden im Inneren des vergessenen Tempels und sich alle Konturen auflösten.
In diesem Moment hörten alle Geräusche auf zu existieren und eine unnatürliche Stille legte sich wie ein Leichentuch auf den Dschungel ringsherum.
Diese plötzliche Stille war so bedrohlich, das sie sogar den sterbenden Ray zu Bewusstsein brachte und dieser die Augen aufschlug und sich mit trüben Augen verwundert umsah. Auch Sonny suchte verzweifelt nach dem Grund für diese entsetzliche Stille und hoffte doch innerlich, er würde es nie erfahren müssen. Es musste etwas entsetzliches sein, das es den Urwald und all seine Bewohner zum Schweigen bringen konnte.
In diesem Moment raschelte es im Eingang. Die panischen Jungs starrten erst einander an und dann in Richtung Tür.
Eine alte, verhutzelte Indiofrau kam hereingestürzt. Mit den Armen wild wedelnd stürmte sie in den Raum, sah die Zwei an, schrie irgendetwas in einer nicht verständlichen Sprache, deutete heftig in Richtung Ausgang, wandte sich wieder um und rannte genauso schnell wieder davon, wie sie gekommen war.
Sonny begann zu schreien.
„Warten Sie, wer sind Sie? Bitte helfen Sie uns. Bitte!!!“
Voller Angst und Verzweiflung ließ Sonny Ray liegen und rannte hinter der alten Frau her. Doch als er die Ruine verließ, war von der Alten keine Spur mehr zu finden. Der schweigende Urwald hatte sie vollständig verschluckt.
Es war unheimlich draußen, doch er blieb noch eine Weile dort stehen und hoffte irgendwie, das die Alte doch noch mal wiederkommen würde. Doch sie kam nicht wieder.
Ein Singen und Flüstern hob an im Inneren des Tempels.
Unirdische Stimmen, unendlich süß und unendlich böse hauchten Worte in einer uralten Sprache durch den Saal. Wie ein Wind zogen sie leise in weiten Kreisen um den Altar und näherten sich dem sterbenden jungen Mann.
Ray lag jetzt auf dem Rücken ausgestreckt auf dem Steinquader in der Mitte des Raumes. Er hatte die Augen geschlossen und atmete kaum noch. Das Blut floss jetzt stärker aus seinem Mundwinkel und schlug schaumige Blasen. Die Schatten im Raum zogen sich zusammen und bildeten einen Kreis um den sterbenden jungen Mann. Die Luft war jetzt bitterkalt. Die leisen Gesänge wurden lauter und schaurig waberten die Klagegesänge durch die Dunkelheit.
Die Schatten bildeten jetzt festere Konturen aus und verdichteten sich weiter. Es wurden Gestalten sichtbar. Fünf Schemen, die sich unaufhaltsam weiter verdichteten bis sie die Formen von Menschen annahmen. Dann standen da schlussendlich fünf Männer, absolut identische
Wesen, sogar die Kleidung, die sie ausgebildet hatten, war dieselbe.
Die Wesen näherten sich jetzt Ray und begutachteten ihn wie neugierige Kinder.
Da geschah etwas unerwartetes: Einer der Geister fauchte die anderen an und trieb sie zurück. Er knurrte und besah sich den leblos daliegenden Körper auf dem Altar näher an. Dann begann er, ihn zu beschnuppern.
Die wartenden Geister begannen unruhig zu knurren aber ein giftiger Blick des Neugierigen brachte sie zur Ruhe.
Er besah sich den Blutfluss aus Ray´s Mund und berührte das Blut mit dem Zeigefinger und roch daran.
Dann ging alles ganz schnell.
Der Geist richtete sich auf und stieß ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus. Er zerstieb in tausend Schattenstücke und schillerte kurz im Raum wie ein Schwarm aus abertausend kleinen Mücken. Dann stürzte sich der Schatten auf den wehrlos daliegenden Körper und drang durch den Mund in Ray ein. Ray bäumte sich auf, riss die Augen weit auf und öffnete den Mund zu einen lautlosen Schrei. Wild zuckend wand er sich auf dem Altar, schlug um sich und schwebte einen Moment lang über dem Stein. Dann sackte er in sich zusammen, fiel mit einem dumpfen Laut zurück auf den Altar und blieb dort bewegungslos liegen.
Die anderen Wesen schrieen vor Wut und Frustration auf und verschwanden.
Die Kälte verschwand, doch die Stille blieb.
Sonny kam wenig später wieder herein und bemerkte sofort, das sich irgendetwas verändert hatte. Er näherte sich vorsichtig und aufs Äußerste gespannt seinem Freund, der jetzt merkwürdig verdreht auf dem Altar lag. Seine Arme hingen links und rechts schlaff vom Altar herab und sein Kopf lag auf der Seite. Sonny strich ihm das wirre Haar aus dem Gesicht und betrachtete stirnrunzelnd seinen Freund, der .....auf einmal nicht mehr im Sterben lag. Aber das gab es doch gar nicht! Die unnatürliche graue Farbe des nahenden Todes war von seinem Körper gewichen und die Verletzungen schienen zu heilen. Er sah genauer hin. Dann brach ihm der Angstschweiß aus, als er sah, das die Verletzungen so schnell ausheilten, das er dabei zusehen konnte, wie sich die Verfärbungen auflösten. Der Blutfluss aus dem Mund hatte ebenfalls aufgehört und doch atmete Ray nicht. Aber er sah auf einmal so gesund aus! Aber warum zur Hölle atmete Ray dann nicht?
„Oh Scheiße Mann. Was ist das bloß?“ flüsterte er. Sämtliche Alarmglocken in seinem Inneren gingen los. Todesangst durchflutete seinen Geist und quälte seine ohnehin aufs Äußerste gespannten Nerven.
Sonny schüttelte ungläubig und mit wachsendem Entsetzen seinen Kopf und ging langsam rückwärts zur Tür, drehte sich um und fing an zu rennen. Vor Angst und Anstrengung schwer atmend hetzte Sonny durch den dichten Urwald. Die Stimmen aus dem Tempel schienen ihn zu verfolgen und höhnisches Gelächter folterte den verwirrten Geist des Fliehenden. Blind vor Panik stolperte er in ein Feuerameisennest und schrie vor Schmerz auf, als die Tiere sich an ihm festbissen. Ohne auf die Richtung zu achten, rappelte er sich auf und stolperte ziellos weiter. Äste schlugen ihm ins Gesicht, mit den Händen fegte er herabhängende Lianen aus dem Weg. Achtlos suchte er sich seinen Weg und übersah dabei all die Schlangen und riesigen Spinnen, um die er zuhause immer einen großen Bogen gemacht hatte. Er stolperte und fiel mehr, als das er lief und hemmungslos schluchzend versuchte er, gegen die Stimmen in seinem Kopf anzuschreien. Ständig hatte er das ekelige Gefühl, das ihm etwas Grauenvolles auf der Spur war. Etwas, das ihn jagen und töten wollte. Irgendwann brach der Abend herein und als er wieder zu Besinnung kam, mit heftigem Seitenstechen langsamer wurde und schließlich keuchend stehen blieb, kletterte er einen Urwaldriesen hinauf und legte sich auf einem breiten Ast. Er hatte immer noch Todesangst und versuchte wach zu bleiben. Doch kaum hatte er sich bequem hingelegt, war er auch schon eingeschlafen. Als der Morgen graute, machte er sich etwas ruhiger wieder auf den Weg. Wenige Stunden später sah er tief unten in einem Tal eine kleine Siedlung. Gemütlich an eine tiefgrüne Flussbiegung geschmiegt hatte sich eine kleine Gemeinde ein Stückchen Erde vom Dschungel abgetrotzt. Der vertraute Anblick von Häusern, rauchenden Schornsteinen und das Geräusch alter Dieselmotoren ließen ihn vor Erleichterung aufschluchzen. Ihm fiel die Angst wie ein schwerer Stein vom Herzen und er verdrängte die schrecklichen Dinge, die er erlebt hatte und machte sich auf den Weg hinunter ins Tal.
*
Ray tobte und wehrte sich verzweifelt, als der fremde Geist in seinen Köper eindrang und ihn übernahm. Ray wurde hinausgeworfen; seine Seele floh und das, was einst Ray war, hörte auf zu existieren.
Der fleischgewordene Geist blieb die ganze Nacht über still liegen und heilte den zerschunden und vom Alkohol und Drogenmissbrauch vergifteten Körper. Als das getan war, schlug es die Augen auf und sah zum ersten Mal durch seine neuen, menschlichen Augen. Obwohl sich nichts verändert hatte, sah alles auf einmal ganz anders aus. Die Farben sahen jetzt anders aus, waren tiefer, frischer. Staunend lag das Wesen still auf dem kalten Stein und besah sich den Raum, in dem es so viele hundert Jahre eingesperrt gewesen war. Träge tanzten die Staubflocken in der stickigen Luft und das Wesen im Körper eines jungen Mannes fokussierte jedes einzelne. Als es bemerkte, das seine Augen – unendlich verstärkt durch sein übernatürliches Wesen – extrem scharf geworden waren, umspielte ein diabolisches Lächeln die vollen Lippen.
Sein neuer Körper fühlte sich schwer und seltsam an. Das Fleisch bereitete ihm Unbehagen und noch immer wehrte sich der Körper gegen ihn. Es rollte sich vom Altar herunter und entledigte sich noch ein wenig linkisch und unbeholfen der zerfetzten und blutverschmierten Schnürhose.
Es richtete sich auf und begann, seine Umgebung mit seinen neuen Sinnen zu erfassen. Es drehte den Kopf und neigte ihn, als die Geräusche des Urwald zögerlich zurückkehrten und an seine Ohren drangen. Sein Gehör war sehr viel schärfer als das einer Katze und die im Tempel gedämpften Laute der wilden Tiere draußen peinigten seine Ohren. Zögernd hob es die Nase und schnupperte vorsichtig. Ein kurzer, stechender Schmerz durchzuckte seinen neuen Leib, als die Lunge die Arbeit erneut aufnahm – ohhh ja, sein Geruchssinn! Hmmmm.....
Die Übernahme und Heilung des Körpers hatte stark an seinen Kräften gezehrt. Es hatte nicht gewusst, ob es überhaupt möglich war, einen Körper zu übernehmen und es hatte ihn stark erschöpft. Es spürte ein altvertrautes Gefühl im Bauch nagen. Es war Hunger. Sein neuer Körper gierte nach Nahrung. Über tausend Jahre hatte das Geisterwesen hungern müssen. Gebunden in Geistergestalt an den Tempel war es ihm nicht möglich gewesen zu jagen. Es sah auf die am Boden liegende, unbrauchbare Hose, die es vorhin ausgezogen hatte. Sollte es sie wieder anziehen? Menschen liefen nicht nackt rum und aus irgendeinem Grund wollte es nicht, das sie ihn als das erkannten, was es war. Das Wesen überlegte. Dann erinnerte es sich an seine frühere Fähigkeit, Kleidung auszubilden und versuchte es. Ja, es klappte immer noch.
Es trug jetzt die gleiche Hose nur würde ihn diese weder behindern noch sich abnutzen. Jaaa, das war viel besser!
Diese Tarnung sollte reichen. Schließlich war der Vorbesitzer seines neuen Körpers so rumgelaufen. So würden seine Opfer sein wahres Wesen nicht erkennen und ihn für einen Menschen halten. Das machte die Jagd einfacher. Neugierig wie es war, wollte es wissen, ob es ihm möglich war, sich unerkannt unter ihnen zu bewegen. Es fuhr sich mit der Zunge vorsichtig über die rasiermesserscharfen Reißzähne in seinem Mund, welche die menschlichen Zähne verdrängt hatten. Sie würden ihn immer verraten. Egal, es konnte eh keine menschliche Sprache sprechen.
Das Wesen bleckte die Zähne und fauchte herrisch hinaus in Richtung der Tiere draußen im Dschungel. Rings herum verstummten die Tiere. Noch immer spürten sie seine unheilvolle Anwesenheit und wie damals gehorchten sie seinem Befehl. Gut, sehr gut! Es hatte also durch die Übernahme seine Fähigkeit, sich andere Wesen geistig zu unterwerfen, nicht verloren. Das Wesen lief geschmeidig durch den niedrigen Gang und stellte sich ruhig vor dem Tempel, den die Indios, die einst vor vielen tausend Jahren hier gelebt hatten, für seine Art gebaut hatten. Der böse Geist im Körper eines jungen Mannes steckte seinen neuen, noch immer ungewohnten Körper der aufgehenden Tropensonne entgegen.
Der Boden fühlte sich merkwürdig an unter seinen nackten Füssen und es tat ein paar Schritte in den Urwald. Sein berechnendes Lächeln verstärkte sich, als es sah, das selbst die Insekten und eine große Vogelspinne – die sich zu ihrem Entsetzen neben seinen Füßen wiederfand – ihr Heil in der Flucht suchten. Es streckte sich genüsslich und bog seinen neuen Körper in einer Weise, die jede Frau in Ekstase versetzt hätte. Es wandte seinen nackten Leib der Sonne zu und ließ sich von den jungen Strahlen wärmen. Ahhh, was für ein Genuss!
Es fühlte sich so gut an. Auch wenn es im Gegensatz zu seinem früherem, rein geistigem Sein stark eingeschränkt war, war es doch eine wundervolle Erfahrung, einen Körper zu besitzen. Außerdem war es immer noch sehr viel schneller, stärker und tödlicher als jeder Mensch. Und es war endlich Frei! Es würde keine Probleme haben, seine Beute zu reißen. Apropos Beute.
Es sog tief Luft in seine Lungen und schnupperte. Der Geruch eines weiteren lebenden Menschen, den das Wesen auch schon im Tempel wahrgenommen hatte, drang verführerisch in seine Nase und liebkoste seine ausgehungerten Sinne. Es schloss die Augen und überließ sich ganz der Wahrnehmung dieses köstlichsten aller Düfte. Der Mann, dessen Körper es übernommen hatte, war nicht allein gewesen. Wieder hielt es seine Nase hoch und genoss den Geruch von Blut und Angst, der schwer in der morgendlichen Luft lag. Obwohl die Umgebung vom Geruch des Dschungels, der vielen tausend Blüten und den Ausdünstungen der Tiere überladen war, hatte das Wesen keinerlei Probleme, die Spur seiner Beute ausfindig zu machen. Seine Nasenflügel zuckten erwartungsvoll, als das Wesen die Witterung aufnahm. Mit der Geschmeidigkeit einer jungen Wildkatze rannte es leichtfüßig in den Dschungel und folgte der süßen Duftspur aus Blut und Todesangst, die ihn direkt zu seiner ersten Mahlzeit führen würde.
Ganz so, als ob selbst die Bäume des Waldes Angst vor diesem fleischgewordenem Dämon hatten, streifte kein einziger Zweig seinen gertenschlanken Leib.
*
Sonny war jetzt schon ziemlich weit gekommen und die Siedlung schien in greifbarer Nähe zu sein. Durch die Bäume hindurch, die jetzt schon nicht mehr ganz so dicht standen und teilweise die Spuren menschlicher Bearbeitung trugen, konnte er in den Straßen der Ortschaft schon einzelne Gestalten erkennen. Nicht mehr lange und er würde sich wieder unter Menschen und in Sicherheit befinden.
Den Gedanken an seinen Freund, den er in der Ruine zurückgelassen hatte, verdrängte er aus seinem Gedächtnis.
Jetzt erreichte er eine kleine, grasbewachsene Lichtung, auf der ein alter LKW vor sich hinrostete und Sonny spürte eine unglaubliche Erleichterung in sich aufsteigen. Er war gerettet. Jetzt war er endlich in Sicherheit! Das fröhliche Zwitschern eines Vogels, der sich im Führerraum des rostigen Wagens ein Nest gebaut hatte, war Musik in seinen Ohren und ein räudiger Schäferhund kam schwanz-wedelnd auf ihn zu und ließ sich von ihm streicheln. Sonny begann zu lachen, bis ihm die Tränen übers Gesicht liefen.
Plötzlich senkte sich Stille über die Lichtung. Seine Nackenhaare stellten sich auf und sämtliche Alarmglocken in seinem Inneren begannen zu läuten.
Jagen – du wirst gejagt. Was für ein Geräusch machen berstende Knochen?
Der Hund jaulte leise auf, klemmte seinen Schwanz zwischen die Hinterläufe und schlich sich gebückt rückwärts unter den rostenden LKW. Ganz langsam wie in Zeitlupe drehte sich der jetzt am ganzen Körper zitternde junge Mann um und sah zurück in den jetzt totenstill daliegenden Wald. Eine kleine Gruppe Seidenäffchen, die bislang fröhlich in den Ästen getobt hatte, klammerte sich jetzt in die höchsten Wipfel und keines der verängstigten Tiere gab auch nur den kleinsten Laut von sich. Alle sahen hinab auf die Bedrohung unter ihnen zwischen den Bäumen.
Dort stand, die Arme lässig über dem Kopf an die ihn flankierenden Bäume gelehnt, das, was einmal sein bester Freund gewesen war. Die fremdartige Aura und die tödliche Bösartigkeit, die das Wesen ausstrahlte, hatten nichts mehr mit Ray zu tun. Es war nur noch der Körper, der an den früheren Mann erinnerte. Selbst auf die Entfernung konnte Sonny mühelos das irisierende Glitzern in den grauen Augen erkennen. Ein Glitzern, das vorher nicht da gewesen war. Selbst das braune, lockige Haar glänzte stärker als zuvor und auch der Körper hatte jetzt eine intensive, grade zu sexuelle Ausstrahlung, der sich selbst Sonny nicht entziehen konnte. Als das Wesen sich lässig in Bewegung setzte und sich ihm langsam näherte, wurde die betörende Aura so stark, das Sonny sich nicht nur nicht mehr bewegen konnte – und auch nicht fliehen – nein, Leidenschaft schoss ihm wie glühendes Feuer in die Lenden.
...verzehre dich....töte dich.....dein Blut....trinken......
Er schluchzte auf und Tränen liefen ihm die Wange herunter. Zögerlich und immer noch hoffend sprach er das Wesen an.
„Ray? Ray, bist du das? Hey alter, was....“
Durch einen kurzen mentalen Befehl brachte das Wesen sein Opfer mühelos unter seine Gewalt. Nun war es dem Menschen unmöglich zu fliehen. Das erste Mal Töten in einem menschlichen Körper hatte eine besondere Bedeutung für das Wesen und es wollte es bis zuletzt genießen. Darum befahl es dem Menschen, stehen zu bleiben und ihn anzusehen. Zu seiner grenzenlosen Verwunderung bemerkte das Wesen, das der Anblick seines Körpers eine besondere Wirkung auf Menschen hatte und ihm die Kontrolle über sie erleichterte. Als es sich seiner zitternden Beute langsam näherte, bemerkte es dessen sexuelle Erregung. Sexualität war ihm fremd, aber es würde sich dieses Phänomen merken.
Sonny litt derweil Höllenqualen. Ein Teil von ihm wurde wie magisch von der sexuellen Ausstrahlung angezogen und er geriet immer tiefer in den Verderben bringenden Sog, der ihn band.
Er stöhnte verzweifelt auf.
Das Wesen näherte sich weiter seinem Opfer. Genießerisch sog es die Luft in seine Lungen und kostete den Duft des Fleisches und des Blutes des Menschen. Er hatte Angst, oh ja, doch das Wesen wusste jetzt sehr genau, wie es seine Mahlzeit an der Flucht hindern konnte. Obwohl es Jahrhunderte früher, als es noch als Geist frei gewesen war, genossen hatte, seine Opfer zu jagen und Fangen mit ihnen zu spielen, wollte es dieses Mal so richtig intensiv genießen. Sein neuer Körper gierte nach Fleisch und Blut und es konnte seine Lust, zu reißen und zu töten kaum noch bezähmen.
Aufreizend langsam näherte es sich seiner vor Angst zitternden Beute, genoss die Situation und ließ sie mit allen neuen Sinnen auf sich wirken. Seine Gier ließ ihn keuchen. Es öffnete seine vollen Lippen und leise knurrend stellte es dabei seine rasiermesserscharfen Reißzähne zur Schau.
Immer näher kam es an Sonny heran, strich um ihn herum, betrachtete ihn, nahm den betörenden Geruch nach frischem Fleisch in sich auf und kostete mit flink vorschnellender Zunge vom salzigen Schweiß auf der nackten Haut seiner erschauernden Beute. Sonny bäumte sich auf unter der Berührung und wusste selbst nicht, ob aus sexueller Lust oder Angst.
Mit einer Geschmeidigkeit, zu der selbst der charismatische Ray niemals fähig gewesen wäre, strich das Wesen mehrmals um sein Opfer herum bis es ihm dann direkt in die Augen sah.
Sie starrten einander an. Sonny konnte in den schillernden und unnatürlich leuchtenden Augen kein Erkennen, kein Erbarmen entdecken. Alles was es fand, war Neugier und vor allem Hunger.
Es würde keine Gnade geben. Er schloss die Augen. Seinen besten Freund gab es nicht mehr.
Als er den Atem und die kostende Zungenspitze seines Killers abermals an seinem Hals spürte, wurde der junge Mann von einer überwältigenden Panik befallen und er versuchte voller Angst, sich aus der betörenden Herrschaft des Wesens frei zu kämpfen. Das Gesicht des Wesens verzerrte sich vor Überraschung und Wut als es merkte, das sich sein Opfer aus seinem Bann zu befreien suchte.
Und in jenem Augenblick, als Sonny seine Stimmbänder wieder unter Kontrolle bekam und er den Mund öffnete, um zu schreien, griff das Wesen an. Wie ein greller, heißer Blitz durchzuckte der rasende, stechende Schmerz den jungen Mann, als sich das Wesen erst fauchend und knurrend in seiner Kehle verbiss und ihm dann im maßlosem Blutrausch das Fleisch in großen Stücken aus dem Leibe riss. Die Blutgier überwältigte den Jäger und wie von Sinnen zerfetzte es den noch warmen Leib seiner Beute und schlang dessen rohes, blutiges Fleisch in großen Brocken unzerkaut hinunter.
Die entsetzlichen Schreie des Sterbenden hallten weit über den Dschungel und der Wind wehte sie bis hinunter zu der Siedlung.
Den Menschen lief es eiskalt den Rücken runter, als sie die unmenschlichen Laute hörten, und die Älteren – die die alten Legenden noch kannten und lebendig hielten – wussten, das das Böse, das so lange geschlafen hatte, zu ihnen zurückgekommen war. Fröstelnd sahen sie in die Richtung, aus der die Schreie kamen und flüsterten Abwehrzauber.
Sonny wusste bis Zuletzt nichts darüber, was seinem Freund zugestoßen war und ihn so dermaßen verändert hatte. Seine letzte Wahrnehmung war Verwunderung über die Tatsache, das er von seinem besten Freund getötet wurde.
Dann umfing ihn Stille, Schwärze, Nichts......
*
Zur selben Zeit in Houston wurden Clarice und Fay vom Absturz der Maschine in der Nähe von Manaus unterrichtet. Sie saßen grade in Clarices Wohnung beim Tee und unterhielten sich über ihre Männer, als es an der Tür klingelte. Zwei freundliche junge Polizisten standen verlegen auf der kleinen Veranda und drehten hilflos ihre Dienstmützen in den Händen. Es würde eine Suchaktion geben, sagten sie, aber sie seien ohne große Hoffnung. Es habe wahrscheinlich keiner der Insassen den Absturz überlebt.
„Es tut uns sehr leid, das wir Ihnen keine besseren Neuigkeiten überbringen können. Wenn wir Ihnen irgendwie helfen können?“
„Nein, danke. Wir kommen klar. Vielen Dank.“ erwiderte Clarice. Während Fay hinter ihr hysterisch wurde, riefen die beiden Polizisten den Notarzt, den sie in weiser Voraussicht mitgebracht hatten. Während Fay eine Beruhigungsspritze bekam, starrte Clarice nur ins Nichts. Es regte sich kein Gefühl in ihr, als sie an das Schicksal Rays dachte. „Es ist mir egal.“ dachte sie verwundert, dankte den Polizisten nochmals und schloss die Tür wieder. Der Arzt machte sich große Sorgen um Fays seelischen Zustand und bestand darauf, sie zur Beobachtung mit ins Krankenhaus zu nehmen.
Als sie in ihrer kleinen Wohnung allein war, in der sie mit Ray die letzten 3 Jahre gelebt hatte, setzte Clarice sich auf die Couch in ihrem Wohnzimmer, starrte die düsteren Bilder von Ray an, die wie immer an der Wand hingen und dachte lange nach. Erst als sich das Kind in ihr regte, erwachte sie aus ihrer Starre und ging in die Küche, um sich was zum Essen zu machen.
Am nächsten Tag hängte sie alle Bilder ihres Exfreundes ab und vernichtete alles, was sie an ihn erinnerte.
*
Als das Wesen seinen Hunger gestillt hatte, sah es hinunter zu der kleinen Siedlung, die direkt am Amazonas lag. Das dieser Ort Coura hieß, wusste es nicht, aber als es sich näher an das verschlafene Nest heranschlich und die dort lebenden Menschen beobachtete, sah es, das sich dort viele Glückssucher aufhielten und diese doch recht unvorsichtig waren. Es würde ein Leichtes für ihn sein, immer wieder einen von ihnen aus der Sicherheit der Gemeinschaft herauszulocken und zu töten.
Menschen waren eine so leckere und leicht zu erlegende Beute und sie waren glücklicherweise so immens zahlreich. Die anderen Geister waren durch ihr geistiges Schattendasein an den Tempel gebunden, eines war es nicht mehr. Oh wirklich, die Nachteile eines fleischlichen Körpers waren gering im Gegensatz zu den Vorteilen der räumlichen Ungebundenheit. Es würde nie wieder hungern müssen.
Als es wieder zurück in den Urwald lief, kamen auch die ersten Laute zögernd und dann mit immer mehr Nachdruck zurück. Bald kamen die streunenden Hunde als erste vom Blutgeruch angelockt auf die Lichtung und stritten sich schon bald knurrend um die Überreste der Mahlzeit des Wesens. Während sich die stärkeren Männchen wütend um den Kadaver stritten, gelang es einem hinkenden Weibchen, sich einen Arm zu schnappen und rannte geduckt mit eingeklemmten Schwanz zurück ins Dorf, um dort in Ruhe zu fressen.
So kauerte sie sich hinter einer Mülltonne zusammen und nagte genüsslich an ihrer Beute, als einer der Bewohner des dazugehörigen Hauses auf sie aufmerksam wurde. Der ältere Mann, ein Deutscher, der vor vielen Jahren hierher gekommen war, um mit der Goldsuche sein Glück zu machen und wie so viele vor und nach ihm hier gestrandet war, wunderte sich kurz über den seltsamen Brocken, den die Hündin da abnagte.
Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er erkannte, was es war. Schreiend jagte er der verdutzten und wütenden Hündin die Beute ab und schlug den abgenagten Überrest von Sonnys Arm in ein altes Tuch ein. Wie eine widerliche Trophäe hielt er ihn in die Höhe und rannte damit zum Büro des Dorfpolizisten. Mit wächsernen Gesicht warf der Mann das widerwärtige Bündel auf den Schreibtisch des Polizisten. Und als dieser mit fragendem Blick erst den leichenblassen Eindringling musterte und dann das Tuch zurückschlug, verlor auch sein Gesicht jegliche Farbe. Stumm vor Entsetzen sahen sie sich an.
Wer war das Opfer?
Und was hatte es getötet?
*
Die Jahre vergingen.
Vieles hatte sich seit dem Absturz geändert. Fay zerbrach an ihrer Trauer und beging drei Monate nach dem Absturz Selbstmord. Clarice wurde im darauffolgendem Frühjahr von einem gesunden Mädchen entbunden und nannte es Grace.
Grace wuchs zu einem fröhlichen, intelligenten und eigenwilligen jungen Teenager heran. Clarice blühte auf in ihrer Mutterrolle und hätte Ray beinahe vergessen können, wäre ihre Tochter nicht ein genaues Abbild ihres Vaters. Dieselbe schmale Statur, die braunen Locken und die regengrauen Augen, die so unendlich spöttisch drein zu blicken wussten. Obendrein schien Grace eine grade zu perfide Neugier zu entwickeln, was ihren tot geglaubten Vater betraf und versuchte hartnäckig, alles über ihn in Erfahrung zu bringen. Clarice wiederum erinnerte sich überhaupt nicht gerne an die früheren Zeiten zurück. Zu sehr schmerzte die Erinnerung an die vielen Demütigungen, die sie hatte erdulden müssen. Unglücklicherweise wurde ihre Tochter von ihrem Unmut, reden zu müssen nur noch mehr angestachelt. Je älter das Mädchen wurde, umso drängender wurden ihre Fragen. Sehr bald schon kam Grace zu der Auffassung, ihre Mutter verschweige ihr absichtlich alles, um sie unter Kontrolle zu behalten. Wissen wurde zu einer Belohnung für Bravsein umfunktioniert und das Mädchen hasste ihre Mutter dafür. Und obwohl Clarice nie die Absicht gehabt hatte, ihre Tochter gegen sich aufzubringen, artete ihr beider Ringen in eine Art Machtkampf aus. Grace versteifte sich immer mehr darauf, den besten aller Väter zu haben – das er Tot war, verdrängte sie einfach und brachte ihre Mutter damit in eine äußerst verzwickte Lage. Sagte sie nichts, hasste Grace sie fürs Schweigen. Sagte sie ihrer Tochter die Wahrheit, hasste Grace sie dafür. Im Laufe der Zeit steigerte sich das Mädchen, das enorm darunter litt, keinen Vater zu haben, darauf, ihn auf ein Podest zu stellen und anzubeten. Ebenso gelang es dem Mädchen, in geduldiger Kleinarbeit eine regelrechte Sammlung über ihren Dad zusammen zu tragen. Auf dem ungenutzten Dachboden hatte sie sich eine Ecke mit Betttüchern isoliert und dort alle Bilder und Fotos ihres Vaters und Berichte über seine Auftritte aufgehängt. Sie hatte sich die einzige CD, die ihres Vaters Band herausgebracht hatte, besorgt und hütete sie wie einen Schatz. Stundenlang saß sie dort oben und hörte die volltönende tiefe Stimme ihres Vaters und träumte, er wäre hier und würde sie in seine Arme nehmen.
Ihre Mutter ahnte etwas davon, brachte es aber nicht übers Herz, ihrer Tochter vom gewissenlosen und kaltschnäuzigen Charakter Rays zu erzählen.
Und in all den Jahren verdichtete sich ihre Sehnsucht nach ihm zu dem heißen Wunsch, ihn zu finden und zurück zu holen. Der Wunsch steigerte sich im Lauf der Zeit zur Besessenheit und Clarice spürte in sich immer mehr die dunkle Ahnung aufsteigen, das ihre störrische Tochter eines Tages das Schicksal ihres Vaters teilen würde.
*
Es waren die Jahre, in denen die Einwohner von Coura lernten, sich vor diesem schrecklichen Tod zu fürchten, der um ihre Häuser schlich, sich all jene holte, die es wagten, den Schutz des Ortes zu verlassen und auch nach einigen Jahren des Nachts den einen oder anderen in seinem Bett tötete.
Und immer wurden die Opfer aufgefressen. Manche verschwanden spurlos. Andere wurden zufällig gefunden. Wieder andere fand man in ihren Häusern – doch niemand kannte ein Raubtier mit einem solchen Gebiss, und einer solchen Kraft.
Obwohl die Einwohner von Coura ihr Problem zu vertuschen versuchten, gelangten doch immer mehr und immer neue Gerüchte über das plötzliche und unerklärliche Verschwinden von Menschen in die großen Städte. Die Behörden schickten Untersuchungskommissionen, die immer mit einem höhnisch herablassendem Lächeln erschienen und siegesgewiss in den Urwald stiefelten. Hin und wieder kam der eine oder andere später durch Zufall wieder heraus. Doch sie waren völlig von Sinnen, faselten irres Zeug über fleischfressende Geister und begingen später Selbstmord.
Doch die Meisten verschwanden so spurlos wie diejenigen, deren Tode sie aufklären sollten.
Die Leute fingen an, aus Coura wegzuziehen. Sie hatten Angst – um sich und um ihre Kinder. Und so verkam die einstmals recht hübsche und lebhafte Siedlung zu einer Art Geisterstadt, in die sich nur die ganz Verzweifelten und die Narren wagten.
Das Böse warf ein drückendes Leichentuch über die ganze Siedlung und die grausame Aura des Wesens war stets mit Händen greifbar.
*
Und während Grace heranwuchs, ihre Mutter in den Wahnsinn trieb und Sportgeräte malträtierte, wurde der schüchterne Dave zu ihrem besten Freund, um seiner Angebeteten nahe zu sein.
Derweil ging das Töten in Coura unaufhaltsam weiter.
An ihrem 21. Geburtstag hatte Grace es geschafft. Sie war endlich volljährig und nun wollte sie auf die von langer Hand vorbereitete Expedition in den Amazonasdschungel gehen. Dave hatte das Equipment besorgt und den Trip vorbereitet. Monatelang hatten die beiden einträchtig nebeneinander die Satellitenfotos studiert, welche die vermutete Flugstrecke abdeckten. Wieder und wieder hatten sie in mühsamer Kleinarbeit mit einer Lupe die Bilder studiert. Graces Herz hatte wie wild in ihrer Brust geschlagen, als sie endlich nach einer halben Ewigkeit in der unmittelbaren Nähe der kleinen Siedlung Coura ein altes Flugzeugwrack ausfindig gemacht hatten.
Sie hatte sich sofort im Internet auf die Suche gemacht und alle Informationen über die Ortschaft zusammengetragen.
Eine Sache irritierte sie allerdings: Die nicht enden wollenden Gerüchte über Menschen, die spurlos verschwanden und die grauenvollen Morde dort.
Und all dies hatte begonnen, einen Tag nachdem das Flugzeug mit ihrem Vater abgestürzt war. Merkwürdig! Und doch musste es einen Zusammenhang geben, Grace konnte ihn nur nicht finden. Vielleicht waren Raubtiere aus dem Urwald für die Attacken verantwortlich. Es wurden immer wieder neue Arten entdeckt und es war absolut nicht unwahrscheinlich, das sich in der Gegend um Coura eine neue und intelligente Tiergattung niedergelassen hatte.
Und vielleicht hatten diese Tiere herausgefunden, das Menschen leicht zu töten waren?
Egal ob sie in der Schule saß, Sport trieb oder schlief, ihre Gedanken waren immer mit den Rätseln in Coura beschäftigt. Doch sosehr sie sich auch ihren Kopf zerbrach, viele Fragen blieben unbeantwortet und Grace war mehr denn je entschlossen, das Rätsel um das Schicksal ihres geliebten Vaters zu lösen.
*
Als die Regenzeit vorbei war, machten Dave und Grace sich auf den langen und mühsamen Weg nach Coura. Ihre Mutter versuchte alles, ihre einzige Tochter von diesem Wahnsinn abzuhalten, doch Grace war nicht davon abzubringen.
Es war ein drückender und wolkenverhangener Tag, an dem die beiden Freunde die lange Reise antraten. Clarice weinte beim Abschied. „Gracie Schatz, bitte pass auf dich auf. Ich möchte dich nicht verlieren. Bitte, Liebes, hörst du?“ „ Jaaa, Mom. Ich werd´ schon auf mich aufpassen. Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Komm schon Dave. Die fliegen sonst noch ohne uns los.“ sagte sie energisch und machte sich von ihrer weinenden Mutter los. Dave zuckte entschuldigend mit den Schultern und folgte dann Grace. Blind vor Tränen sah Clarice ihrem Kind nach. Sie hatte das ungute Gefühl, ihre Tochter nie wieder zu sehen.
Grace und Dave hatten einen Flug nach Rio de Janeiro gebucht. In Rio hatten sie 5 Stunden Aufenthalt bis sie eine kleine Cessna weiter nach Manaus bringen würde. Von dort aus würden sie per Schiff weiterfahren bis nach Coura. In Manaus wartete bereits ein Abenteurer auf sie, der sich nach eigenen Angaben im Dschungel des wilden Amazonasbeckens gut auskannte.
Grace war bei ihrer Ankunft in Rio bis zum bersten angespannt und schnauzte den vom Fliegen sichtlich mitgenommenen Dave bei jeder Kleinigkeit an. „Nun mach schon Dave, beeil dich doch mal! Wir haben keine Zeit zum Trödeln. Der Pilot wartet nicht auf uns. Wegen dir verpassen wir noch die Cessna.“ Dann platzte dem jungen Mann entgültig der Kragen.
„Mensch, Gracie! Kannst du dir nicht mal zur Abwechslung einen anderen Deppen suchen, an dem du deine schlechte Laune auslässt? So langsam nervst du mich gewaltig!“ Daves ebenso ungewohnte wie heftige Erwiderung ließ das Mädchen verstummen. Grace schämte sich wegen ihrer Ausbrüche, aber die Aussicht, endlich das Schicksal ihres Vaters aufklären zu können, versetzte sie in heftige Erregung. Überhaupt war sie sich absolut sicher, das Dave ihr verzeihen würde. Das hatte er schließlich immer getan. Er schwieg sie auch noch verstimmt an, als sie endlich die Cessna erreichten und es sich in den alten, gammeligen Sitzen bequem machten.
„Mensch Davie, überleg doch mal! Wir warten doch schon so lange auf diesen Moment und jetzt endlich sind wir auf den Weg. Ich schwöre dir bei meinem Leben, wir werden meinen Vater finden. Und dann werden wir uns nie mehr trennen! Ich bin ja so aufgeregt.“ Die junge Frau hatte in ihrer Erregung keinen Blick übrig für die Schönheiten der Natur , die sich ihr durchs Fenster der Maschine darboten.
In Gedanken bei ihrem Vater starrte sie aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen. Ebenso wenig bemerkte sie, das der arme Dave todunglücklich war mit der unruhigen kleinen Maschine und immer grüner im Gesicht anlief. Er wagte es jedoch nicht, Grace deswegen anzusprechen. Erstens hätte sie ihn eh nur verständnislos angesehen und zweitens hielt er es für keine sehr gute Idee mehr, den Mund auf zumachen.
Als sie endlich nach einer Ewigkeit Manaus erreichten, hatte Grace das Gefühl, als hätte sie die ganze Zeit die Luft angehalten.
Nachdem sie sicher auf der Piste von Manaus gelandet waren, sprang sie voller Elan aus der Maschine und nahm die neuen Eindrücke in sich auf. Sie ertappte sich dabei, wie sie intensiv in den Dschungel starrte, als ob sie ihren Vater jetzt schon sehen könnte. Als sie sich umdrehte, um ihr Gepäck in Empfang zu nehmen, bemerkte sie Dave, der sich auf der anderen Seite des Flugzeuges würgend übergab. Der Pilot lachte und sagte irgendetwas auf Brasilianisch, das sie nicht verstand. Kopfschüttelnd nahm sie ihr Gepäck und rief nach Dave.
“Bist du bald fertig? Wir verpassen sonst noch unser Treffen mit unserem Führer. Und wisch dir bitte das Gesicht ab. Du siehst echt Scheiße aus.“ Dieser war von Graces offenkundig nicht vorhandenem Mitgefühl so beleidigt, das er stundenlang kein einziges Wort mit ihr sprach.
Ihr angeheuerter Führer hatte sie im Stich gelassen.
Wie verabredet trafen sie sich in Manaus, doch nachdem Grace ihm mitteilte, was das eigentliche Ziel ihrer Reise war, sprang der Mann ab und war auch für noch so viel Geld nicht zum Mitkommen zu bewegen.
„Nach Coura wollen Sie? No, Senorita, niemand, der klar bei Verstand ist, geht nach Coura. Nicht mal die Händler fahren dorthin. Haben Sie denn die Gerüchte nicht gehört? Der Tod geht um in Coura. Keiner, der dorthin gegangen ist, kam jemals wieder. No No. Gehen Sie nicht dahin, junge Senorita.“
Letztendlich mussten die Beiden die Weiterfahrt nach Coura allein unternehmen.
„Weißt du, Dave. Vielleicht ist es ja auch ganz gut so. Wir werden dort schon jemanden finden, der uns weiterhilft.“
„Bist du dir da so sicher? Ich hatte den Eindruck, als wäre kein Mensch mehr bereit, überhaupt erst dorthin zu gehen. Wollen wir nicht lieber umkehren?“ Doch diese zaghafte Frage klang nur allzu ketzerisch in Graces Ohren und mit einem eisigen Blick, der keine Worte mehr benötigte, brachte sie ihren Begleiter zum Schweigen.
Dann wandte sich die junge Frau um und vertiefte sich in den Anblick des Dschungels, der zu Recht als „Grüne Hölle“ bekannt geworden war. Affen und bunte Vögel tummelten sich fröhlich schreiend und kreischend in den tief herabhängenden Ästen und ließen den Schrecken von Coura fast unwirklich erscheinen. Alles schien so verdammt normal.
*
Als das kleine Schiff, das sie nach Coura brachte, um die letzte Biegung schipperte, bot sich den Reisenden ein trauriger Anblick. Der einstmals gepflegte kleine Hafen war verwahrlost und auch die Häuser boten einen tristen Anblick. „Sie dir das mal an, Dave. Hast du so etwas schon mal gesehen?“ Grace deutete verblüfft auf die halb verfallenen Häuser.
„Nein, nie. Aber vielleicht ist das hierzulande normal.“ „Nö, das glaube ich nicht. Warum sollten die Menschen hier denn ihr Eigentum so herunterkommen lassen wollen?“ Verblüfft starrten die beiden jungen Menschen auf den trostlosen Anblick, den die kleine Siedlung jetzt darbot.
Die einstmals lebhaften Farben der Gebäude waren stumpf und dreckig. Der Putz blätterte großflächig von den fleckigen Wänden und niemand schien sich daran zu stören. Die festgestampfte Erde der Straße hatte sich während der letzten Regenperiode in eine einzige Schlammgrube verwandelt. Die Verzweiflung, die hier herrschte, schlug sich auf alles nieder und die wenigen Einwohner, die geblieben waren, boten ein Bild des Jammers. Die normalerweise fröhlichen und aufgeschlossenen Menschen Südamerikas trugen nun verschlossene Mienen zur Schau und das Grauen hatte zusammen mit der ewigen Angst tiefe Spuren in ihren Gesichtern hinterlassen. Aus vielen Fenstern beobachteten die Einwohner argwöhnisch die beiden Fremden. Viele Häuser waren unbewohnt und am verrotten. Fenster und Türen waren zum großen Teil mit Brettern vernagelt worden; die restlichen Dorfbewohner hatten die dünnen Türen und Fensterläden durch massive Bohlen ersetzt.
Dave und Grace waren die Einzigen, die in Coura an Land gingen. Alle anderen fuhren weiter Flussaufwärts und die Segenswünsche und Warnungen der anderen Passagiere hallten den beiden noch lange in den Ohren.
Es hatte sie gewaltige Anstrengungen gekostet, den Kapitän der Schaluppe überhaupt dazu zu überreden, in Coura anzulegen. Er hatte solche Angst, das er die Beiden in Windeseile ablud, ihnen ihr Gepäck hinterher warf und gleich wieder ablegte.
Da standen sie nun. In der brütenden Mittagshitze, umschwärmt von riesigen und blutgierigen Moskitoschwärmen waren sie endlich am Ziel ihrer langen Reise angekommen: Coura.
„Nun gut. Da sind wir also. Komm mit, lass´ uns eine Unterkunft finden. Ich kann es kaum erwarten, mit den Einwohnern hier zu sprechen. Irgendjemand muss doch irgendetwas wissen.“ Dave folgte ihr schweigend, sein Gepäck müde geschultert. Er hatte es schon vor vielen Jahren aufgegeben, ihr diese fixe Idee auszureden. Total verschwitzt strich sich Grace eine Haarsträne aus dem Gesicht, sah sich kurz bestätigend nach ihrem Begleiter um, schulterte ihren Rucksack und machte sich auf den Weg. Keiner richtete das Wort an sie.
Nirgends hörte man fröhliches Kinderlachen oder Erwachsene miteinander sprechen. Alle schwiegen sie, starrten sie missmutig und fast feindselig an.
Grace zögerte und blieb stehen. Dann ging sie forschen Schrittes auf einen Mann mittleren Alters zu, der in seinem Blick wachsame Neugier verriet.
„Buenos dias, Senor. Warum sind denn alle so still ? „
„Damit wir hören, wenn der Dschungel schweigt, Senorita.“
„Der Dschungel schweigt? Aber der Dschungel schweigt doch nie?“
„Doch Senorita. Er schweigt, wenn der Tod kommt.“ Damit drehte sich der Mann um und verschwand in einem der alten Häuser.
Verblüfft über diese merkwürdige Antwort starrte Grace dem Mann nach. Dann drehte sie sich zu ihrem Freund um. „Du, hier ist doch etwas absolut nicht in Ordnung. Der Dschungel schweigt, wenn der Tod kommt! Was zum Teufel ist das denn für ein Unsinn?“
„Keine Ahnung. Aber es muss was mit den rätselhaften Morden zu tun haben. Immerhin lebt der Mann hier. Er muss es ja wissen.“
Das Mädchen schnaubte verächtlich. „So ein Blödsinn! Die haben hier doch ein Rad ab. Schweigender Dschungel, also wirklich!“
Unwillkürlich musste Dave schmunzeln und hielt einen Themenwechsel für angebracht.
„Sieh mal, Gracie. Das da drüben sieht aus wie eine Kneipe. Lass uns hingehen. Vielleicht erfahren wir da was nützliches.“ Und bekommen endlich was gescheites zu Essen, fügte Dave in Gedanken hinzu. Sein Magen knurrte schon seit Stunden. Seine Begleiterin schmunzelte wissend und gab nach.
„Okey Dokey, Dave. Aber nach dem Essen suchen wir weiter nach Informationen, ja?”
„Klar doch. Das Essen ist bestimmt gut. Sieh nur. Sieht doch echt gemütlich aus der Schuppen, oder etwa nicht?“
Grace konnte sich das Lachen kaum noch verkneifen und als sie Daves betont unschuldige Miene sah, prustete sie entgültig los. Lachend, die Arme um die Schulter des jeweils Anderen gelegt betraten die beiden Amerikaner die Kneipe.
Drinnen war es schummrig und stickig. Die ehemals weiß getünchten Wände waren vom Zigarrenrauch und den Ausdünstungen aus der Küche im Laufe der Zeit vergilbt. Ebenso waren die spärlich verteilten Bilder von einer undefinierbaren Schicht aus Fett und sonstigem Schmier halb blind. Sie nahmen an einem Tisch am Fenster platz und der fette Wirt brachte ihnen schweigend die Karte.
„Warum sind Sie hergekommen? Was wollen Sie hier bei uns?“
Die plötzliche Frage schreckte Dave und Grace auf und sie sahen den Kneipier verdutzt an.
„Warum fragen Sie? Ist es verboten, nach Coura zu kommen?“ entgegnete Grace schnippisch.
„Gehen Sie wieder heim. Das ist besser für Sie.“ Und bevor Grace eine Antwort formulieren konnte, hatte der Wirt sich schon umgedreht und war verschunden.
Eine Stunde später hatten es die Beiden geschafft, eine Mahlzeit zu ergattern und als der knorrige Wirt merkte, das er die zwei Amis eh nicht loswerden würde, vermietete er ihnen kurzerhand ein Doppelzimmer im ersten Stock.
Sein Geschäftssinn hatte offenbar nicht völlig gelitten.
„Oben ist noch ein Doppelzimmer frei. Nehmen Sie es oder lassen Sie´s. Für ein oder zwei Nächte wird’s gehen.“ meinte er mürrisch und ließ die Besucher allein.
Sie stiegen vollgestopft und müde die schmale Treppe hoch in den ersten Stock. Sie öffneten die alte Tür – sie war völlig verzogen und klemmte - ,schmissen ihr Gepäck auf ihre Betten und während Grace eine lange, ausgiebige Dusche nahm, beschäftigte sich Dave damit, ihr Laptop anzuschließen und das mitgebrachte Equipment und ihre Klamotten auszupacken. Nachdem sich dann auch Dave den Schweiß von seinem Körper gewaschen hatte, machten sie sich auf die Suche nach einem Ansprechpartner, sprich dem örtlichen Polizeirevier.
Das Revier prangte fett und unübersehbar an der nächsten Straßenecke und der diensthabende Officer zeigte sich überraschend aufgeschlossen und hilfsbereit. Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen stand der junge Polizist auf und kam mit ausgestreckter Hand auf die beiden zu.
Es gab offenbar doch jemanden, der sich über ihre Ankunft freute.
„Guten Tag, Senorita. Ich bin Carlos Alvarez, der Dorfpolizist. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Senor Alvarez, es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Grace Warren und mein Begleiter ist Dave Townsend. Wir sind hierher gekommen, um das Schicksal meines Vaters aufzuklären, der in einem Flugzeug hier vor etwas über 21 Jahren in der unmittelbaren Nähe abgestürzt ist. Können Sie uns helfen?“
Während Grace mit dem Polizisten sprach, hatte Dave Muße, sich in dem geduckten Gebäude umzusehen.
Da ihn der Mann ohnehin nicht beachtete sondern nur Augen für Grace hatte, wanderte er ein wenig im Gebäude umher. ‚Die Wände könnten ruhig mal wieder getüncht werden und der Fußboden hat wohl auch schon seit Jahren keinen Besen mehr gesehen’ dachte er zynisch. Alles wirkte verkommen und erneut fragte er sich, ob das nur am schwülheißen Klima oder an den Menschen hier lag. Während Dave so vor sich hin grübelte, musste sich Grace eingestehen, das Senor Alvarez zwar sehr nett, aber leider keine große Hilfe war. Absolut bereit, sie zu unterstützen und Rat zu geben weigerte er sich aber vehement, auch nur einen einzigen Fuß aus Coura heraus in den Urwald zu setzen. „Wissen Sie, Senorita, das Leben hier ist sowieso schon recht gefährlich, seit sich die Killer auch in die Ortschaft wagen und ich bin nicht gewillt, es ihnen auch noch leichter zu machen“ rief er leidenschaftlich aus und dabei blieb es. Auf Graces Frage, welcher Art denn der oder die Mörder waren – Mensch oder Tier – antwortete der Polizist mit sichtlich nervöser Miene: “Es scheint das Werk eines Raubtieres zu sein. Die Bissspuren auf den Knochen der Opfer sind eindeutig von Reißzähnen verursacht, wie sie zum Beispiel ein Tiger hat. Nur kennt niemand hier ein Tier mit einem solchen Gebiss. Es kann kein Leopard oder eine andere der bekannten ansässigen Raubkatzen sein, da die Radien ihrer Gebisse nicht mit den Spuren auf den Knochen übereinstimmen. Auch spricht viel dafür, das wir es hier mit einem ungewöhnlich intelligenten Tier zu tun haben, da es sich seit über 20 Jahren beharrlich der Gefangennahme entzieht. Nein, es muss eine völlig neue Spezies sein, da bin ich mir völlig sicher.“ Er schwieg kurz und starrte nachdenklich ins Leere. Dann fuhr er leise, fast flüsternd fort, als fürchte er, gehört zu werden.
„Wissen Sie, Senorita, was das Merkwürdigste daran ist?
Sobald das Mistvieh in der Nähe ist, schweigt der Dschungel, als ob auch die Tiere des Urwalds Angst vor ihm hätten.“
Mit eindringlichem Blick starrte Carlos Alvarez die junge Frau vor ihm an. Lange sagten sie beide nichts.
Dann fuhr der Mann fort, als wäre nichts gewesen.
„Ach, von einem Flugzeugabsturz vor so langer Zeit weiß ich nichts. Es gibt Gerüchte darüber, das eine kleine Maschine einen Tagesmarsch in Richtung Südwesten runtergekommen sei, damals. Aber es haben sich keine Überlebenden bei uns gemeldet. Allerdings,“ und das sagte er mit gesenkter Stimme, „hat man oben auf der Lichtung nur einen Tag später eine skelettierte Leiche gefunden. Noch ganz frisch sei sie gewesen. Das Skelett eines Mannes, den niemand hier vermisst hatte. Seltsam, nicht?“
Grace lief es eiskalt über den Rücken. Wenn das nun ihr Vater gewesen war? Mit zitternden Händen kramte sie eines der Photos aus ihrer Geldbörse, das ihren Vater kurz vor dem tragischen Unglück zeigte. Sie hielt es dem Polizisten unter die Nase und fragte:“ Könnte das vielleicht dieser Mann gewesen sein?“ Carlos Alvarez starrte lange Zeit wie gebannt auf das Bild, das einen lachenden jungen Mann mit langen lockigen Haaren zeigte. Natürlich konnte er diese Frage nicht beantworten. Sie hatten ja damals nur noch ein paar verstreute Knochen gefunden, doch kam ihm der junge Mann auf dem Bild irgendwie vertraut vor. Auf eine Art, die ihm sämtliche Nackenhaare hochstellte. Er spürte eine unbestimmte Panik in sich hochsteigen, wandte den Blick ab und dann komplimentierte er die junge Frau und ihren Begleiter kurzerhand zur Tür hinaus.
Erst als sich die Tür hinter dem verdutzten Pärchen schloss und er den Schlüssel zweimal umgedreht hatte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Er hatte nicht einmal gemerkt, das kalter Schweiß auf seiner Haut glänzte.
„Wird denn dieser verfluchte Albtraum nie zu Ende gehen? Madre Dios!“ flüsterte er und schloss verzweifelt die dunklen Augen, unter denen sich schon seit langem dunkle Ringe abzeichneten.
Dave und Grace fanden sich allein auf der Straße wieder.
„So kommen wir nicht weiter. Hier ist doch irgendwas oberfaul, Dave.“
„Ja, das Gefühl habe ich auch so langsam. Warum zum Beispiel wollte Senor Alvarez dir nicht sagen, was hier los ist?“ schnaubte Dave wütend. „Was sollte dieses Gefasel schon wieder, von wegen: Der Dschungel schweigt, wenn der Tod kommt?“ Der junge Mann redete sich in Rage und konnte nicht mehr aufhören. Angst kroch ihm den Rücken hoch und legte sich wie eine stählerne Manschette um sein Herz.
„Weißt du, so langsam wird’s mir doch unheimlich, wenn sogar der Polizist davon anfängt. Was, wenn es nun doch kein gewöhnliches Tier ist?“ sichtlich beunruhigt fing Dave an, sich umzusehen. Alles war ruhig. Und doch schien sich der Horizont zu verengen, bewegte sich auf ihn zu als wolle er ihn ersticken. Kalter Schweiß perlte ihm von der Stirn und er fühlte sich gelähmt, wie ein hilfloses Kaninchen vor der Schlange. Fast konnte er die Bedrohung mit der Hand greifen. Mit weit aufgerissenen Augen stierte er die Häuser um sich an, als würde das seltsame Tier jederzeit dort herauskommen.
Grace legte ihrem Freund begütigend die Hand auf den Arm. „Beruhige dich. Aber ich gebe dir vollkommen Recht. Irgend etwas hat er uns verheimlicht. Er hat wirklich sehr seltsam auf das Photo reagiert, nicht?“ sinnend betrachtete die junge Frau die Umgebung. Da bemerkte sie plötzlich, das sie ein Schild wie gebannt angestarrt hatte. Das Türschild eines Arztes. Da ging ihr ein Licht auf. Sie schnappte sich ihren Begleiter und zerrte ihn zielstrebig auf die Praxis des Arztes zu. „Ich bin mir sicher, wenn hier irgend jemand etwas weiß, dann garantiert der örtliche Arzt. Er musste die Leiche damals untersucht haben und folglich liegen auch Befunde vor. Komm, lass uns gehen.“
Die kleine Praxis war leer, als die beiden eintraten. Die Schwester fragte nach ihren Wünschen und ging dann den Arzt holen. Dr. Garcia stellte sich als ein hutzeliger, kleiner Mann heraus, dessen Alter fast unmöglich zu schätzen war. Quirlig und flink kam er auf sie zu und mit fröhlichem Lachen begrüßte er Grace, als hätte er noch nie eine hübsche junge Frau gesehen. Als er sie mit kühlen Getränken versorgt hatte, kam Grace auf ihr Anliegen zu sprechen. Das Lachen verschwand augenblicklich aus den eisblauen Augen des Mannes und wie um ein Geheimnis zu wahren, stellte er – bevor er zu sprechen anfing – sicher, das sie Schwester sie nicht belauschen würde.
Dann setzte er sich, atmete tief durch und begann zu erzählen. „Es fing vor über 20 Jahren an. Damals fanden wir oben auf der kleinen Lichtung die bis aufs Skelett abgenagte Leiche eines Mannes. Oder vielmehr das, was die Hunde bis dahin nicht schon fortgeschleift hatten. Wir wissen bis heute nicht, was ihn getötet hat, dort oben. Aber seitdem verschwinden jährlich bis zu 40 Menschen.
Zuerst wurden nur die getötet, die sich aus der Stadt herauswagten. Später wurden auch immer öfter Menschen des nachts in ihren Betten überfallen und getötet.
Trotz all meiner Recherchen konnte ich bisher nicht herausfinden, was die Menschen überfallen hat. Ein Raubtier mit einem solchen Gebiss ist der Wissenschaft nicht bekannt. Nur eines können wir mit Sicherheit sagen:
Es besitzt enorme Kraft, denn die Opfer werden regelrecht geschlachtet und zerfetzt, danach bis auf die Knochen aufgefressen. Ebenso scheint es nur eines zu sein. Doch das Seltsamste daran ist: Der Dschungel schweigt, wenn es kommt!“ Der Arzt lehnte sich zurück und schwieg – tief in Gedanken versunken. Grace schluckte und wechselte einen Blick mit Dave. „Was passierte dann mit den Leichen?“ „Wir haben sie verbrannt. Es haftete ihnen etwas unheimliches an. Die Eingeborenen hier sind sehr abergläubisch. Sie denken, es handele sich um einen Ghul. Aber das ist natürlich blanker Unsinn.“ „Ein Ghul? Was ist das denn?“ ließ sich Dave vernehmen.
„Ein Geist, ein menschenfressender Geist. Ein Hirngespinst, eine Fiktion, nichts weiter, aber die Leute hier glauben an so was.“
„Was geschah weiter, als immer mehr Menschen verschwanden? Gab es denn keine Untersuchungen? Hat niemand versucht, den Killer zu fangen?“
„Doch schon, aber sie gingen in den Urwald und kamen bis auf einzelne nicht wieder heraus. Und die, die wiederkamen, waren wahnsinnig geworden, faselten wirres Zeug und begingen kurze Zeit später Selbstmord.“ Dave fröstelte und auch Grace hatte mittlerweile eine Gänsehaut.
„Sagen Sie, Doktor, damals ist hier in der Nähe ein kleines Flugzeug abgestürzt. Hat es damals irgendwelche Überlebende gegeben?“
„Es hat damals ein Flugzeugunglück gegeben, ja. Aber nein, wir haben niemanden gefunden. Aber vielleicht war ja das erste Opfer oben auf der Lichtung einer aus der Unglücksmaschine. Das könnte sein, denn hier wurde er nicht vermisst und die Maschine kam in Richtung des Fundortes der Leiche runter. Aber es könnte natürlich auch einer von den Goldsuchern aus der Umgebung gewesen sein.“ Wieder kramte Grace das Photo ihres Vaters raus.
„Könnte es dieser Mann gewesen sein?“ Der alte Arzt betrachtete das Bild genau, und wie auch Senor Alvarez verspürte er ein seltsames, unangenehmes Prickeln im Nacken. Schroff erwiderte er: “Woher soll ich das wissen? Der Mann war vollständig skelettiert. Es war nicht genug übrig und es ist 21 Jahre her. Wenn Sie mich jetzt wohl bitte entschuldigen würden, ich habe zu tun.“ erwiderte er schroff und schob sie zur Türe hinaus.
Die beiden sahen sich an. „Die Sache stinkt doch bis zum Himmel! Wieso reagieren die alle denn so merkwürdig auf dein Photo?“ „ Ich weiß es nicht. Aber ich werde es herausfinden. Und ich weiß auch schon, wie. Aber nun lass uns schlafen gehen. Es war ein langer Tag und die Sonne ist schon untergegangen.“ Sie hakten sich unter und stiefelten zurück zu ihrem Zimmer. Dort angekommen legten sie sich auf ihre Betten und sobald ihre Köpfe die Kissen berührten, schliefen sie auch schon tief und fest. Keine Macht der Welt hätte sie jetzt aufwecken können und so hörte keiner von ihnen, wie der Dschungel hinterm Haus auf einmal schwieg.
*
Leise öffnete das Wesen das alte Holzfenster zu dem Zimmer, in dem die beiden Neuankömmlinge schliefen. Es hatte ihre Ankunft aus der Ferne beobachtet und die Ähnlichkeit der Frau mit seinem Körper faszinierte ihn. Es wollte herausfinden, was sich dahinter verbarg und sie aus der Nähe betrachten. Auf leisen Sohlen schlich es sich ins Zimmer und besah sich die Frau. Hmmm.
Als sein Blick auf den Nachttisch fiel, auf dem das Photo Rays lag, überlegte es und zählte zwei und zwei zusammen. Als ihm die Möglichkeiten, die sich ihm hier ergaben, bewusst wurden, umspielte ein eisiges, sadistisches Lächeln die vollen Lippen. Das Wesen richtete sein Bewusstsein erst auf den Geist der Frau und befahl ihr, ihn zu suchen
suche mich, hab keine Angst, gib nicht auf
und dann auf das des jungen Mannes und drang mit einem heiseren, stimmlosen Laut auf den leicht geöffneten Lippen tief in dessen Geist ein und stieß zu.
Sofort wurde Dave von Alpträumen heimgesucht. Sein Unterbewusstsein spürte die Anwesenheit der diabolischen Macht in seinem Geist und wehrte sich vergeblich gegen den Eindringling. Er wurde gepeinigt von grauenvollen Szenen, die ihm der stumme Befehl des Wesens eingab, in den Menschen hilflos und schreiend im undurchdringlichen Dschungel um ihr Leben rannten. Im Geiste rannte er mit ihnen, er fühlte ihre wilde Angst, als wäre sie seine eigene. Er konnte den weichen Boden spüren, den vom Tage noch warmen Schlamm, der sich zwischen seine Fußzehen quetschte. Kleine Äste brachen unter seinem Gewicht und stachen ihm schmerzhaft in die Fußsohlen. Er hörte schrille Schmerzenschreie und ein schauerliches Knurren und Kreischen in seinem Rücken und wilde Angst jagte ihm in qualvollen Schüben durch den ganzen Körper und malträtierte Muskeln erhoben wütend Protest gegen die ungewohnte Belastung. „Immer weiter! Immer weiter! Bloß nicht stehen bleiben! Ich muss weiter, weiter, weiter...“ Mit einem bösartigen Grinsen auf dem schönen Gesicht beobachtete das Wesen den von entsetzlichen Albträumen geplagten Dave. Jaaa! Meeeehr!!
Leide, Mensch, leide....fühle meine Macht.....und sieh, was ich vermag.
Die überreizten Sinne bis aufs Äußerste gespannt jagte Dave in seinen Träumen durch den Urwald. Gehetzt von einer absolut bösartigen, diabolischen und mörderischen Präsenz, die er weder sehen noch begreifen konnte. Er rannte blindlings durch die Bäume und hörte eine Frau hinter sich schreien und stürzen. Doch er blieb nicht stehen, konnte es nicht. Immer weiter hetzte er. Sein zerschundener Körper schmerzte und voller Entsetzen hörte er in seinem Rücken das Reißen und Zerfetzen, als der Jäger sich über seine gestürzte Beute hermachte.
Ein Wimmern entrang sich seinen völlig ausgepumpten Lungen und erreichte kaum seine Lippen. Und dann war es hinter ihm. Seine sämtlichen Alarmglocken schlugen schrill und blinde Panik bemächtigte sich seiner. Er versuchte noch, sein Tempo zu steigern, seinem Mörder zu entkommen, doch es war zu spät. Das leise Geräusch, das Raubkatzenpfoten machen, wenn sie auf den Boden auftreten, war in der unnatürlichen Stille gut zu hören. Das Wesen – was auch immer es war - schloss leichtfüßig zu ihm auf und dann war es ganz dicht hinter ihm. Dave verlor die Nerven und fing an zu schreien. Er schrie auch noch dann, als ein heißer Schmerz durch sein Rückrat fuhr und sich in Schockwellen durch seinen ganzen Körper ausbreiteten.
Genau in dem Moment, in dem sein von einer brutalen Kraft zerschmetterter Leib durch die Luft flog und hart auf dem Boden aufschlug, wachte ein schweißgebadeter und wild schreiender Dave in seinem Bett auf und schlug in extremer Panik auf die völlig verblüffte Grace an seiner Seite ein.
Das Wesen hatte sich kalt lächelnd kurz vorher aus dem Fenster geschwungen und war im dichten Gestrüpp verschwunden.
Es dauerte noch fast 10 Minuten, bis der Dschungel wieder seine Stimme erhob.
Doch auch Grace hatte geträumt. Sie hatte geträumt, ihr Vater hätte die Nacht an ihrem Bett gestanden und sie liebevoll angelächelt. Mehr denn je war die junge Frau davon überzeugt, das ihr Vater noch am Leben war. Und sie würde ihn finden und retten, koste es, was es wolle!
*
Nach einem spartanischen Frühstück, das sich besonders durch seinen großzügigen Fettanteil auszeichnete, begannen Grace und Dave mit ihren Nachforschungen.
Sie packten ihre kleinen Reiserucksäcke mit Wasser, Kompass, Karte und einigem technischen Gerät, mit dem sich nur Dave auskannte und machten sich auf die Suche nach dem verschollenen Wrack. Der fanatische Ausdruck in Graces Augen ängstigte den ohnehin schon überdrehten Dave zusätzlich, und er hatte – nach den durchlebten Schrecken der Nacht - Mühe, ihrem forschen Schritt zu folgen. Sie erreichten die obere Lichtung, auf der Sonny vor so langer Zeit gestorben war, in Rekordzeit und während Grace sich umsah, packte Dave ein seltsames Gerät aus. Es stellte sich als Metalldetektor heraus und er fing an, die Lichtung zu überprüfen.
Der Lärm, den die Dschungeltiere veranstalteten, war ohrenbetäubend und doch hörte Grace ihn nicht. Ebenso wenig spürte sie die sengen Strahlen der heißen Dschungelsonne, die gierig ihre Haut verbrannten.
*
Daves geduldiger Scan förderte nach einer halben Ewigkeit – nämlich am späten Nachmittag - doch noch eine Überraschung zutage. „Hey, Grace, komm mal her. Ich glaube, ich habe da was gefunden! Sieht nach einem Ring aus.“ An exakt der Stelle, an der das Wesen den Leib seines ersten Opfers zerrissen hatte, fand sich – halb im Erdreich verborgen und verdreckt – ein silberner Männerring. Grace kam rasch herbeigerannt und beide betrachteten intensiv den Ring, nachdem sie ihn vom Dreck befreit hatten.
Kein Zweifel! Grace wusste sofort, das es einer von Sonnys Ringen sein musste. Er trug diese Ringe auf so vielen Photos und auch ihre Mutter hatte immer wieder erzählt, das sich der Mann, der ihres Vaters bester Freund gewesen war, gerne mit ihnen schmückte. Auf der Innenseite war sogar eine Gravur zu erkennen: Sonny and Fay – in never ending Love. Dave schloss die Augen und gedachte des Armen und seines Schicksals. Grace fühlte nur einen wilden Triumph in sich aufsteigen. Es hatte also doch Überlebende gegeben! Also konnte auch ihr Vater überlebt haben. „Komm Dave, lass uns das Wrack suchen gehen. Es kann nicht so weit sein, sonst wäre Sonny damals nicht bis hierher gekommen. Er war ja sicher ziemlich verletzt.“ Sie wandte sich schon um zum Gehen, als Dave sie anfauchte.
„Du kaltschnäuziges Biest! Fühlst du denn gar nichts? Der Arme ist hier, so nah an der Rettung von einem wilden Tier zerrissen worden! Was ist bloß los mit dir?“
Sprachlos vor Erstaunen sah Grace ihren besten Freund an. Sie öffnete den Mund um etwas zu erwidern, entschloss sich dann aber dagegen. Sie fixierte ihn mit einem eisigen Blick, wandte sich abermals um und stiefelte entschlossen in den Urwald hinein. Verständnislos und schockiert über die Kälte im Wesen seiner Gefährtin packte er den Detektor schnell wieder ein und eilte ihr hinterher.
Das Wesen hatte dies alles aus einiger Entfernung beobachtet und wartete ab. Mit tiefster Befriedigung nahm es zur Kenntnis, das der junge Mann völlig verstört war und sich ständig umgesehen hatte. Auch war er sehr viel blasser als noch am Vortag. Mit der jungen Frau hatte es Anderes im Sinn. So leise, wie es gekommen war, schlich es sich wieder zurück in die Wildnis und begann mit der Ausführung seines Planes.
*
Mit unermüdlicher Power bahnte sich die energische Grace ihren Weg durch das Dickicht. Dave blieb zurück und auch auf seine angsterfüllten Rufe reagierte sie nicht. Einige der kleinen Seidenschwanzaffen beobachteten neugierig die beiden Menschen, die sich mühsam ihren Weg durch das undurchdringliche Wirrwarr aus Ästen und Lianen bahnten. Angelockt von dem süßen Duft des Blutes in ihren Adern fanden tausende blutsaugende Moskitos ihren Weg und trieben sie mit ihren Stichen und entnervendem Gesumme langsam aber sicher in den Wahnsinn. Mit strähnigen Haaren, die sich schon lange aus dem festen Zopf gelöst hatten und ihr nun ins Gesicht hingen schlug das sportliche Mädchen energisch die hinderlichen Äste beiseite. Unaufhaltsam drangen die beiden immer tiefer und tiefer in die grüne Hölle des Amazonasdschungels ein. Kleine und große, hell leuchtende und dunkle Augen sahen ihnen zu; die Nachricht ihrer Anwesenheit wurde von den Affen in den ganzen Urwald hinausgetragen.
Die Nachricht ihrer Anwesenheit....und auch die Nachricht über die Anwesenheit der gestaltge-wordenen Bösartigkeit. Und wieder wurde es still im Dschungel, als die Tiere flüchteten. Doch Grace, wie immer völlig in Gedanken versunken, bemerkte nichts.
Erst als sie die grauen, irisierenden Augen vor sich im Gestrüpp erkannte, blieb sie stehen und merkte erst jetzt, wie sehr sie sich ausgepowert hatte. Sie rang heftig nach Atem und blickte kurz zurück, von Dave keine Spur. Nur sein stetiges Näherkommen war zu hören. Es klang fast so, als wolle eine komplette Elefantenherde sich ihren Weg zu ihr bahnen. Sie grinste, drehte dann ihren Kopf wieder zurück zu den mysteriösen Augen und sog erschrocken Luft ein, als sie plötzlich und unerwartet das fremde und doch so unendlich vertraute Gesicht ihres jungen Vaters vor sich sah.
Von unendlicher Freude durchflutet wollte sie schon nach Dave rufen, als ihr Vater den Zeigefinger auf die Lippen legte und ihr Stillsein bedeutete. Sie gehorchte und starrte den noch halb im Gewirr der Bäume verborgenen Mann an.
So viele Fragen schwirrten ihr im Geiste herum doch sie brachte keinen einzigen Ton heraus.
Da er keinerlei Anstalten machte, sich ihr zu nähern, machte sie einen Schritt auf ihn zu und sah ihn einfach nur an. Just in dem Moment, als sie den Mund öffnete, um ihn anzusprechen, brach ein zerstochener und heftig fluchender Dave zu ihr durch. Ein rascher Blick zeigte ihr, das ihr Vater in Dickicht verschwunden war; sie konnte seine funkelnden grauen Augen trotzdem noch zwischen den Blättern erkennen. Er würde auf sie warten, da war sie sich sicher.
„Verdammt noch mal, Gracie, hättest du nicht warten können? Haut ab, ihr gottverdammten Scheißmoskitos!“
Er fuchtelte so wild und heftig um sich, das er ständig das Gleichgewicht verlor und wie ein Besoffener in der Gegend herumtorkelte. Wider Willen musste Grace bei diesem Anblick lächeln. Sie erhob sich und rieb ihn erst mal mit einem Anti-Moskito-Mittel ein, in Gedanken damit beschäftigt, wie sie ihn unauffällig loswerden konnte. Das Wesen spürte ihre geistigen Anstrengungen und vernebelte den Geist des jungen Mannes. Brummend und murrend ließ Dave diese Behandlung über sich ergehen.
„Weißt du was? Geh doch schon mal zurück in die Stadt und nimm eine Dusche. Ich glaube, wir sind hier ganz nah dran am Wrack und ich schaffe das hier auch ohne dich.“
„Bist du irre? Hier treibt sich ein unbekannter Killer herum. Ich lass dich doch nicht alleine.“
„Mach dir keine Sorgen um mich. Mir wird schon nichts passieren. Ich kann gut allein auf mich aufpassen.“ Sie lächelte ihn beruhigend an und – der Herrschaft des übernatürlichen Wesens ausgeliefert ohne es zu wissen – wandte er sich tatsächlich um und ging vor sich hin brummelnd zurück in Richtung Coura. Grace wäre bestimmt nicht so ruhig geblieben, wenn sie gewusst hätte, das es nicht ihr Lächeln, sondern die telepatischen Kräfte des Wesens waren, die ihn dazu brachten, sie zu verlassen.
- Was soll das? Warum habe ich ihn weggeschickt? Ich habe ihn weggeschickt! – Du weißt doch, warum.
Ebenso war es derjenige, der ihren Verstand daran hinderte, zu erkennen, das es totenstill war im Dschungel.
Das Wesen nutzte die kurze Ablenkung, und schlich sich rückwärts in Richtung des Wracks, das nur noch einen Steinwurf weiter lag. Als Daves Schritte sich soweit entfernt hatten, das sie kaum noch zu hören waren, drehte sie sich um und begann nach ihrem Vater zu suchen. Angestrengt versuchte sie, durch das undurchdringliche Gewirr aus Stämmen, Ästen und Lianen zu sehen. Ein Stück weiter hinter der Stelle, an der sie ihn gesehen hatte, hörte sie ein Rascheln und machte sich sofort auf in Richtung des Geräusches. Schwer keuchend vor Anstrengung brach sie sich Bahn durch den Urwald und nicht viel weiter als 500 Meter entfernt stand sie urplötzlich wieder auf einer kleinen Lichtung mitten im Wald und sah dort ihren schönen Vater an den überwucherten Überresten des abgestürzten Flugzeugs lehnen.
Von heftiger Sehnsucht überwältigt rannte sie blindlings auf ihn zu und umarmte ihn heftig. Das Wesen stutzte. Als sie jedoch erkannte, das töchterliche Zuneigung mit Begierde vermischte, zögerte sie und ließ ihn los.
Wie konnte das denn sein? Er war schließlich ihr Vater. Und doch: Er war so jung und schön.
Wieso jung? Er müsste jetzt über 40 sein. Denk nach, Grace, denk nach. Schweig!!!!! Lass mich in Ruhe. -
Wie gern hätte sie ihm den Locken aus dem Gesicht gestrichen, seine nackte Haut berührt, ihn weiter umarmt. Erregt keuchte sie auf. Nein, schalt sie sich selbst. Mühsam zwang sie ihre Begierde nieder.
„Du meine Güte, ich drehe ja jetzt völlig durch. Das gibt es doch gar nicht.“ flüsterte sie zu sich selbst. Und doch, wie herrlich schön er war! Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, lächelte ihn verlegen an und machte sich an die Untersuchung der Überreste des Flugzeugs.
Stunden später hatte Grace die Gewissheit, das außer ihrem Vater niemand mehr am Leben war. Sie fand die verstreuten Knochen der anderen Bandmitglieder, der Mädchen und der beiden Piloten.
- Was hat er nur? Warum sagt er nichts? Das weißt du doch. Er ist nicht, was er zu sein scheint. Schweig endlich!! Lass mich endlich in Frieden!!! -
Zu ihrem Leidwesen sprach er kein einziges Wort,
starrte sie aber die ganze Zeit mit einer ungeheuren Intensität an. Die unbestreitbare Schönheit und enorme männliche Ausstrahlung ihres Vaters wurde auf den Photographien nur sehr undeutlich wiedergegeben und Grace ertappte sich immer häufiger bei Gedanken, die sie besser nicht haben sollte. Das ihr Vater sie immer wieder sacht berührte, seinen warmen Atem über ihren Nacken hauchte und ihr mit seinen intensiv strahlenden Augen tief in ihre sah, machte es ihr nicht grade leichter. Vorsichtig sorgte das Wesen dafür, das ihr keine verräterischen Gedanken kamen. Zum Beispiel, warum es seit damals nicht gealtert war oder warum es kein einziges Wort mit ihr sprach.
Die Frau war ja so was von interessant!
Es verließ sie kurz und machte sich auf den Weg, um sicherzugehen, das der Mann auch tatsächlich in die Stadt zurückkehrte. Für ihn war es heute noch zu früh.
Ziellos begann sie, über die Lichtung zu wandern und entdeckte dann wie Sonny und Ray so viele Jahre vor ihr den uralten Tempel. Kurz vor dem Eingang verfing sich ihr Fuß jedoch und sie strauchelte. Als sie sich bückte um nach der Ursache für ihr Straucheln zu sehen, hielt sie zu ihrer Erschütterung eine vermoderte schwarze Herrenlederhose mit Schnüren an den Seiten in den Händen. Ihr war auf einmal eiskalt. Hatte ihr Vater sie nicht damals getragen?
- Du weißt doch, was hier los ist, oder nicht????
Langsam und wie in Trance ging Grace auf den Tempel zu und trat ein in die kalte, dunkle Höhle.
Auch sie erreichte den Altarraum. Als sie sich den uralten Steinquader genauer ansah, entdeckte sie getrocknetes Blut und fand auch einige lange, gelockte, braune Haare. Er war hier gewesen! Ihr Vater hatte hier gelegen und was dann? Welche entsetzlichen Dinge waren ihm hier widerfahren, die ihn stumm werden ließen und in den Dschungel getrieben hatten?
Doch es war ihr in dem Tempel viel zu kalt und düster und so trat sie aus dem Tempel wieder hinaus, bevor sich die Schatten erneut zu Gestalten ausbilden konnten.
Und in dem Moment, in dem der völlig erschöpfte Dave die Stadt erreichte, entließ ihn das Wesen aus seiner Herrschaft.
Als er die Straße hinunterging klarte sich sein Geist auf und es durchfuhr ihn wie ein eisiger Schreck.
„Grace! Oh scheiße, ich habe sie dort allein gelassen! Das kann doch nicht wahr sein.“
Was hatte er getan! Hektisch sah er sich um und stellte fest, das es schon fast Nacht war.
Von einer unglaublichen Angst um seine Freundin getrieben, drehte sich der junge Mann um und rannte wie ein Irrer den Weg zurück, den er gekommen war.
*
Das Wesen hatte Dave kurz dabei beobachtet, wie er in der Stadt ankam und mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze und einer unmenschlichen Geschwindigkeit kehrte es zurück zu dem Mädchen.
Als es am Wrack ankam, war das Mädchen verschwunden. Dafür waren seine Artgenossen im Tempel am Wüten und mit seinen scharfen Sinnen konnte es ihre Spur in den Wald verfolgen. Es knurrte erleichtert. Sie war noch am Leben! Es folgte leichtfüßig ihrer Spur und fand sie zitternd vor Kälte und übermüdet an die Rückseite eines Urwaldriesen gekauert. Sie war nicht im geringsten verängstigt und das Wesen wusste nicht, ob durch seine Beeinflussung oder durch ihr furchtloses Wesen.
Sie streckte die Arme nach ihm aus und es legte sich zu ihr und beschnupperte in aller Ruhe ihren warmen, weichen Leib.
Die ungewohnte Art, in der sie auf ihn reagierte, verzückte ihn und es ließ sich mit wachsender Neugier auf dieses neue Spiel ein.
Und so staunte das Wesen nicht schlecht, als es zum Ersten Mal selbst gebissen wurde – allerdings aus völlig anderen Motiven heraus. Aber da sich sein Fleisch nicht regte, konnte ihre Leidenschaft keine vollständige Erfüllung finden. Das Wesen war erstaunt über diese seltsamen Empfindungen der Menschen, und fand sie bei der Frau intensiver als bei seinen männlichen Opfern.
Früh am nächsten Morgen kehrten sie gemütlich zu der Absturzstelle zurück und diesmal setzten sie die Durchstöberung der Trümmer gemeinsam fort. Es war wie ein Traum
- ach jaa? Ist es das wirklich??? –
und Grace hatte das Gefühl, noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen zu sein wie jetzt. Sie wollte für immer hier bei ihm bleiben.
*
Das Wesen wartete geduldig auf den jungen Mann.
Es musste bald da sein. Am frühen Nachmittag traf ein hysterischer und schreiender Dave auf der Lichtung ein.
„Grace, Grace! Oh mein Gott, du musst sofort mitkommen!
Du schwebst in höchster Gefahr, du...“ er brach abrupt ab sprach nicht weiter, als er oben auf den Trümmern den charismatischen Mann stehen sah, der mit eisigen, funkelnden Augen hohnlächelnd auf ihn herabsah. Dave starrte wie ein gebanntes Kaninchen nach oben. Dann hob er einen zitternden Finger und schrie: “Er ist es, Grace! Er ist es, der die Menschen tötet. Er ist kein Mensch mehr.“
Verwirrt über den rasenden und offensichtlich geistig total entgleisten Freund starrte sie ihren Freund verständnislos an. Da sie ihn in diesem Moment nicht ins Gesicht sah, konnte sie das eiskalte und schadenfreudige Lächeln auf dessen Gesicht nicht sehen. Dafür sah es Dave und als er das Wesen anstarrte, fand er wie schon Sonny vor ihm keinerlei menschliche Regung in den schillernden Augen. Das Wesen amüsierte sich köstlich über den Mann und konnte kaum fassen, wie sehr ihm die Frau vertraute.
Doch jetzt schlug das Raubtier in ihm durch. Es zog die Frau hinter sich, krümmte seinen Rücken und brüllte den entsetzten Mann unten ohrenbetäubend an. Das Gesicht zu einer fratzenartigen Grimasse verzerrt und die weißen, rasiermesserscharfen Reißzähne entblößt war es ein furchterregender Anblick und Dave verlor vor lauter Entsetzen die Kontrolle über seine Blase. Entsetzliche Panik und Todesangst tobte in seinem Körper und nur die noch größere Furcht um das Leben der Frau, die er liebte, ließ ihn an Ort und Stelle ausharren.
„Grace bitte, komm da runter. Ich flehe dich an! Bitte!“ Daves Stimme zitterte und klang selbst in seinen eigenen Ohren schrill und jämmerlich. „Ich habe ihn in meinen Träumen gesehen! Er tötet und frisst Menschenfleisch! Grace, ich.....bitte komm jetzt! GRACIEEEEEE!!!!!!“
Verliebt und geblendet von ihrer eigenen Phantasie war die junge Frau für die Realität nicht mehr zugänglich. Ein seliges Lächeln auf den Lippen wandte sie sich dem Wesen zu und küsste ihn sanft auf die Schulter. Dave schrie bei diesem Anblick vor Qual auf.
Der Triumph war für das Wesen vollkommen! Es hatte es nicht nur geschafft, sein übernatürliches Sein vor den Menschen zu verbergen, es hatte es zudem geschafft, sich über die magische Anziehungskraft seines Körpers Menschen gefügig zu machen. Jetzt gab es für die Beiden kein Entkommen mehr. Sein wahres Wesen brach sich Bahn und es zeigte ihnen sein wahres Selbst.
Als sich das Wesen, das Grace so sehr liebte, zu ihr umdrehte, ernüchterte sein Anblick sie augenblicklich. Irgendwie sah ihr geliebter Dad so verändert aus, so.....tierisch...bösartig.
Das hast du doch gewusst, oder etwa nicht?????
Das so schöne, männliche Gesicht war zu einer finsteren Fratze verzogen, die Augen schillerten kalt und zwischen seinen verzerrten Lippen konnte sie seine Reißzähne sehen. Sie tat einen Schritt zurück, musste aber feststellen, das er ihr Hand-gelenk fest umklammert hielt.
Sein Lächeln verzog sich zu einem sadistischen Grinsen und nach und nach dämmerte ihr, was da vor ihr stand.
Das war nicht mehr ihr Vater, auch kein Mensch mehr, der sich da leise ihr zuwandte, bis sie ihm tief in die Augen sehen konnte. Plötzlich fielen ihr die alten Legenden wieder ein, die sie über die Indios gelesen hatte, die vor tausend Jahren hier gelebt hatten. Alles fügte sich zusammen: Der alte überwucherte Tempel, die Blut- und Haarspuren ihres Vaters darin auf dem Altar, die vermoderte Hose...... . Jetzt endlich fiel ihr auch die unnatürliche Stille auf, die um sie herum herrschte. Entsetzt stöhnte sie auf. Sie hatte von einem Tempel tief im Dschungel gelesen, in dem vor ewiger Zeit menschenfressende Geister – Ghule – eingesperrt worden waren, nachdem sie Jahrhunderte lang die Eingeborenen terrorisiert hatten. Sie glaubte solche Geschichten nicht, welcher vernünftige Mensch tat das schon? – aber als sie in die Augen des Wesens sah, wusste sie, das die Legende wahr und ihr im sterben liegender Vater von einem Ghul übernommen worden war. Und, ja, er war es auch , der die Stadt Coura terrorisierte. Sie schloss die Augen und Tränen rannten ihr über beide Wangen.
Dave schrie wieder.
*
Das Wesen handelte.
Der Ghul ließ das Mädchen los, schoss hinunter, packte Dave und spießte ihn an einem hervorstehenden Ast auf. Graces gellende, hysterische Schreie gingen in dem grässlichen Schmerzensgebrüll ihres besten Freundes unter. Sofort war der Ghul wieder bei ihr und packte sie erneut. Diesmal wehrte sein Opfer sich verbittert, doch Grace hatte keine Chance. Hilflos am Baum aufgespießt musste Dave mit ansehen, wie der Ghul mit seiner geliebten Gracie Katz und Maus spielte.
Der Ghul machte sich einen Spaß daraus, der verängstigten Frau erst die Waden zu zerbeißen und sie dabei zu beobachten, wie sie versuchte, sich durch Kriechen in Sicherheit zu bringen. Ihr flehendes Gewinsel um Gnade amüsierte den Ghul köstlich und es ließ sich viel Zeit mit ihr. Blind vor Furcht und Schmerz achtete sie nicht darauf, wo sie hinkroch und japste entsetzt nach Luft, als sie rücklings vom Wrack stürzte und hart auf dem Urwaldboden aufschlug.
Der Ghul beobachtete sie und folgte ihr gemächlich. Diese Beute war ihm sicher!
Dann setzte es wieder zum Sprung an und riss ihr mit seinen scharfen Zähnen einen Brocken Fleisch aus dem linken Arm. Hatte sie gedacht, es gäbe keinen heftigeren Schmerz als den bisherigen, so wurde sie eines besseren belehrt.
Heiß durchfluteten unendliche Wellen der Pein ihren geschundenen Körper und raubten ihr fast die Sinne. Immer weiter schob sie sich rückwärts blindlings in den Dschungel hinein. Der Ghul war zu Dave zurückgekehrt und vertrieb sich die Zeit damit, den entsetzten und völlig hysterischen Mann zu quälen. Es war ein schier endloser Höllentrip für ihn, zuzusehen, wie dieses Monster Graces Fleisch zwischen seinen Zähnen hielt und vor seinen Augen verschlang. Wahnsinnige Schmerzen und das unerträgliche Geschehen sorgten recht schnell dafür, das er das Bewusstsein verlor.
Der Ghul frohlockte und wandte sich – nachdem er sich davon überzeugt hatte, das der Mann noch am Leben war und blieb – der Frau zu. Doch die junge Frau hatte erstaunliche Kraftreserven mobilisiert und als ihr Mörder sie allein ließ, war sie aufgestanden und losgehumpelt. Keine 10 Meter weiter stolperte sie in den verfluchten Tempel hinein. Sie hatte seine Existenz und das Wissen um sein Geheimnis in ihrer Todesangst total vergessen. Wie magisch angezogen lief sie hinein und brach wie einst ihr Vater am Altar zusammen.
Und während sich der Ghul draußen mit seinem aufgespießten Opfer amüsierte, zogen sich im Inneren des Tempels erneut die Schatten zusammen.
Grace war jetzt am Ende ihrer Kräfte und konnte gegen die Übernahme ihres Körpers durch einen der geisterhaften Wesen nichts mehr ausrichten.
Draußen hatte der Ghul die Spur seiner Beute bis zum Tempel verfolgt und brüllte vor Wut und Frustration auf.
Rein traute es sich allerdings nicht.
Als der zweite Ghul noch etwas unsicher in seinem neuen Körper aus dem Tempel heraustrat, wechselten sich Verblüffung, Wut und Interesse bei dem älteren Ghul ab.
Schließlich überwog das Interesse und nachdem die Beiden die Rangfolge durch Anknurren und Zähneblecken geklärt hatten, liefen beide mit der ihrer Art eigenen Leichtfüßigkeit zu der Lichtung, an der immer noch der jetzt sterbende Dave aufgespießt hing.
Nur zögerlich kam der gepfählte Mann wieder zu sich, nur um sich einem noch schrecklicheren Umstand gegenüber zu sehen: Seine Gracie stand einträchtig neben dem Ghul und die Furcht war vollständig aus ihrem Gesicht gewichen. Sein von den Schmerzen umnebelter Verstand rebellierte gegen die Schlussfolgerung und erst als Grace, die nicht mehr länger Grace war, ihre Reißzähne entblößte und zubiss, ging die bittere Erkenntnis, das sie wahrhaftig das Schicksal ihres Vaters teilen würde, in einer blutigen Woge aus Schmerz und unendlicher Qual im Geiste des jungen Mannes unter.