- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 27
Der hundertste Tag
Das einzig Gute an der Apokalypse ist wohl, daß sie nur einmal geschehen kann.
Ich hatte keine Ahnung, warum ich in diesem Moment daran denken mußte, wie mein Opa, Gott habe ihn selig, mich damals im zarten Alter von vier Jahren auf seine knochigen Beine gehoben und mir neben einem zahnlosen Lächeln auch diesen Satz geschenkt hatte. Im Nachhinein betrachtet war er schon ein ziemlich schlauer Mann gewesen, der auch immer ein paar Säcke Kartoffeln und ein Kartenspiel im Keller gebunkert hatte. Damit man, falls man sich vor dem Weltuntergang verstecken müßte, immer genug zu Essen im Haus hätte und keine Langeweile aufkäme.
Die Wurst auf meinem Teller schimmelte friedlich vor sich hin, und auch sonst machte die Mahlzeit insgesamt auf mich den Eindruck, als würde sie zur Not alle optischen Register ziehen, nur um nicht von mir gegessen werden zu müssen. Ich schlug ihr aber ein Schnippchen, indem ich die schimmlige Stelle einfach großflächig mit Senf abdeckte und zulangte. Warum dieser Gasthof hier so dermaßen florierte, war mir ein Rätsel. Vielleicht lag es daran, daß das Bier so billig war. Oder an Gitte, der Bedienung, die sich zu später Stunde gerne das ein oder andere übriggebliebene Bier über die Bluse kippte, was immer reizvolle Reliefmuster auf und hinter dem weißen Stoff ergab.
Auf jeden Fall war der Laden auch heute wieder gut besucht. An der Theke saßen zwei Typen mit angeklebten langen Ohren und philosophierten über den Zusammenhang von Star Trek und dem A-Team unter Berücksichtigung der Lehren des Unix-Handbuchs, am Tisch in der Ecke bemühte sich ein pickliger Junge redlich, von seiner Angebeteten den so langersehnten ersten Kuss zu ergattern und an meinem Nebentisch war ein Pärchen gerade mitten im vorkoitalen Spiel verwickelt. Und dann war da noch Fred, der wie immer an der Wand neben den Klos lehnte, wild mit seinem Hummer in der Luft herumfuchtelte und jeden, der vorbeikam, als verschissenen Kommunisten beschimpfte. Er war übrigens tot, der Hummer.
Plötzlich entfuhr der Frau am Nebentisch ein spitzer Schrei - vermutlich darauf zurückzuführen, daß ihr Begleiter mit seinem Fuß eine richtige Stelle erwischt hatte - und ich ließ vor Schreck meine Gabel fallen. Sofort strömten drei Ratten aus irgendwelchen Löchern in den Bodendielen hervor und stritten sich kurz um den Schatz, bevor eine von ihnen, vermutlich diejenige mit den besten Argumenten und längsten Krallen, mein Essbesteck in ihre unterirdischen Höhlen trug. Ich war das Schauspiel gewohnt, immerhin verbrachte ich seit nunmehr drei Jahren beinahe jeden zweiten Abend hier mit einer Wurst und schalem Bier. Trotzdem faszinierten mich diese Ratten jedesmal aufs neue und insgeheim glaubte ich, daß sie aus all dem Schrott, den sie hier sammelten, irgendwo im Keller eine Art Atomreaktor oder so bauten.
Naja, und genau in dem Moment, in dem der Picklige endlich an seinem Ziel angekommen war, die beiden Trekkies mit offenen Mündern auf Gitte starrten, die ein halbvolles Bierglas bedeutungsschwer und kippbereit über ihren Kopf hielt und ich endlich die Kartoffelbreiskulptur meines Opas fertig hatte, genau in diesem Moment also öffnete sich die Tür und ein Kerl mit einer richtig fetten Kanone betrat den Raum.
"Sieh mal, Helga, er hat eine Strumpfhose über dem Kopf", sagte der Mann am Nebentisch zu seiner Frau.
"Ja... hab ich dir schon gesagt, daß ich Männer in Strumpfhosen sexy finde?"
"Gehen wir doch zu mir nach Hause, da habe ich noch eine Strumphose im..."
"Schnauze!", brüllte der Kerl mit der Kanone. "Wenn hier jetzt noch einer von euch einen gottverdammten Muckser macht, dann kann er seinen Schädel als Käsestanzvorlage benutzen. Haben wir uns da verstanden?"
"Ja", sagte ich, eher aus einem Reflex heraus als aus Höflichkeit. Einen Moment lang war es so totenstill, daß man eine Mücke hätte husten hören können - wenn denn eine dagewesen wären. Wir alle warteten auf eine Reaktion des Neuankömmlings.
"Dann haben wir uns ja verstanden", sagte er. "Hier, halt das mal." Er warf mir einen Jutesack zu, auf den jemand ein übergroßes Dollarzeichen genäht hatte, vermutlich um etwaigen Nachfragen über den Inhalt des Sackes vorzubeugen. Noch während ich überlegte, ob ich einen scheuen Blick hineinwerfen sollte, hörte ich Sirenen aufheulen.
"Sie da in der Hütte! Geben Sie auf und kommen Sie mit erhobenen Händen raus, wir haben Sie umstellt!"
"Leck mich, Bulle! Nichts und niemand wird dieses Gasthaus verlassen. Und da kannst du dich drauf verlassen."
"Halbgare Wortspiele helfen Ihnen jetzt auch nicht weiter. Wenn Sie nicht gleich rauskommen, kommen wir rein!"
"Ich habe Geiseln!", schrie der Bankräuber. Dann wandte er sich erneut an mich. "So, mein Freund, wenn du kein Loch für ein drittes Auge haben möchtest, stellst du dich jetzt mal schön ans Fenster und winkst den Bullen da draußen nett zu."
Widerwillig ließ ich mein Essen auf dem Tisch alleine und tat, was er mir sagte. Etwas überraschend für mich war, daß der Polizist sich offenbar nicht sonderlich um meine Anwesenheit zu kümmern schien, sondern stattdessen einen Schuß abfeuerte, der mich nur knapp verfehlte und irgendwo über der Bar eine Flasche Gin zum Platzen brachte. Der Bankräuber ließ vor Schreck seine Waffe fallen, die von ein paar herbeieilenden Ratten erst zerlegt und dann in Einzelteilen abtransportiert wurde, kaum daß sie den Boden erreicht hatte.
"Verdammt, was war das?"
"Ratten. Sie wohnen vermutlich im Keller", sagte ich wahrheitsgemäß. Er holte mit aschfahlem Gesicht eine zweite Waffe aus seiner Jacke, die zwar nicht ganz so ehrfurchtgebietend war, wie die erste, aber ihre Wirkung dennoch nicht verfehlte. Irgendwie schien er eine schreckliche Vorahnung zu haben.
"Dann... dann sollten wir wohl besser mal in den... in den Keller gehen. Vergiß bloß den Sack nicht."
Natürlich vergaß ich den Sack nicht und so machten wir uns auf den Weg in den Keller. Ich ging voran, danach kamen die anderen Gäste und ganz zum Schluß folgte der Bankräuber. Die Treppe war ziemlich morsch und ich war recht sicher, daß sie nur noch von einer Mischung aus Dreck und irgendeiner Form von negativer Schwerkraft zusammengehalten wurde. Im Keller angekommen, schaltete ich das Licht ein und wir sahen im Schein einer mutlos flackernden Glühbirne einen Haufen Ratten. Sie umtanzten ein seltsam anmutendes Metallkonstrukt wie ein Totem, in dem irgendwo, soviel war mal sicher, auch meine Gabel stecken mußte.
"Was ist das?", fragte jemand.
"Das ist eine gottverdammte Weltuntergangsmaschine."
"Woher wollen Sie das denn wissen?"
"Naja, ich war nicht immer Bankräuber. Irgendwann habe ich auch mal studiert."
"Wissen Sie auch, wie das Ding funktioniert?"
"Nicht genau. Aber ich weiß, daß wir nichts zu befürchten haben, solange dieser Hebel da nicht gedrückt wird."
Ich hätte schwören können, daß die Ratte gegrinst hat, während sie den Hebel drückte.
...
Früher hatte ich immer geglaubt, der Weltuntergang würde mit viel Trara vonstatten gehen. Mit feuerspeienden Engeln, vom Himmel regnenden Kaulquappen und kleinen Teufelchen, die auf ihren Posaunen Lieder von Manowar und Reinhard Mey spielen würden. Und so war es für mich beinahe langweilig, als ich - nachdem wir wieder oben auf unseren Plätzen saßen und das Schauspiel von dort beobachten konnten - bemerkte, daß sich die Sache dann auch wirklich genauso abspielte. Die Erde tat sich auf, es gab eine Menge Feuer, Menschen ertranken in ihrem eigenen Blut, kleine und große Maden schälten sich aus den Bergen und das Ganze wurde untermalt von zugegeben verdammt beeindruckenden Lichteffekten. Das Übliche halt.
"Sie haben doch studiert", sagte der Picklige. "Können Sie mir vielleicht sagen, warum alles den Bach runtergeht, abgesehen von diesem Haus?"
Der Bankräuber schüttelte nur den Kopf und steckte seinen Zeigefinger in meine kunstvolle Kartoffelbreiskulptur, bevor er ihn ableckte und genüßlich schmatzte. "Guter Brei", sagte er.
Irgendwann, ich glaube, es mochten gut und gerne zwei Stunden vergangen sein, war es plötzlich zu Ende. Die Erde hörte auf zu rumpeln, die Teufel packten ihre Posaunen ein und auch die Sonne wagte sich wieder vorsichtig hervor. Mir war beinahe so, als würde ich Vögel lustig zwitschern hören. Aber natürlich waren da keine Vögel, die lustig zwitscherten. Um genau zu sein, zwitscherte niemand, weil nämlich, um noch genauer zu sein, überhaupt niemand mehr da war, der irgendetwas hätte tun können. Da war nur noch unser kleines Gasthaus mit jeder Menge Lava drumherum.
"Komm, Schatz, gehen wir nach Hause." Noch bevor irgendjemand sie aufhalten konnte, hatte das Pärchen sich von meinem Nebentisch erhoben und war, das Vorspiel noch im Kopf und den richtigen Akt vor Augen, durch die Tür nach draußen getreten. Nun, vielleicht sollte ich es so ausdrücken: Lava ist wirklich eine verdammt häßliche Sache. Wenn man erst einmal in ihr drinsteckt, kommt man da nicht mehr so schnell raus.
"Ich habe es euch immer gesagt", sagte Fred triumphierend und wedelte mit seinem Krustentier. "Irgendwann werdet ihr den Preis für eure verschissenen Existenzen zahlen! Ihr habt immer über mich gelacht, aber jetzt zeigt sich, daß ich von Anfang an recht hatte." Ich ignorierte ihn und wandte mich an den studierten Bankräuber.
"Sagen Sie mal, was glauben Sie, warum die Ratten das gemacht haben?"
"Keine Ahnung. Vielleicht hatten sie es satt, immer Tauben ohne Flügel genannt zu werden."
"Vielleicht wollten sie auch einfach mal ein wenig Aufmerksamkeit."
"Mag sein. Auf jeden Fall ist das alles meine Schuld."
"Wie kommen Sie denn darauf?"
"Naja, es ist ja offensichtlich, daß den Ratten zur Vollendung ihrer Maschine nur noch eine Pistole gefehlt hatte. Und die habe ich ihnen gebracht."
"Ich habe es von Anfang an gesagt!", brüllte Fred dazwischen. "Jaha... Gott hat die Ungläubigen von der Erde getilgt. Schon bald wird die Welt wieder erblühen unter der Herrschaft glorreicher... äh... Hummer."
"Kann der nicht mal die Klappe halten?"
...
Hundert Tage sind seitdem vergangen. Hummer habe ich noch keine gesehen, ebensowenig wie Kraken oder irgendwas anderes. Ich dankte meinem Opa, Gott habe ihn selig, wirklich aus ganzem Herzen für seine weisen Ratschläge über Kartenspiele und Kartoffeln und legte eine Patience. Die letzten Wochen über war unsere Gesellschaft immer kleiner geworden und so hatten wir der Reihe nach Mau Mau, Poker, Doppelkopf, Skat und schließlich Rommee gespielt. Ernährt hatten wir uns von Salzbrezeln, verschimmelter Wurst und Bier. Kartoffelbrei war leider schon nach zwei Tagen aus. Da die Vorräte natürlich nicht ewig halten würden, war es von diesem Standpunkt aus gesehen vielleicht gar nicht so übel, daß keine Woche verging, ohne daß einer von uns aus lauter Langeweile und Verzweiflung den Weg nach draußen in die Lava antrat.
Als letzte war gestern Gitte von mir gegangen. Sie meinte nur, sie könne ja vielleicht mal nachsehen, ob sich inzwischen da draußen irgendwas geändert hatte, stand auf und ging. Das fand ich schon verdammt ärgerlich, war ich doch kurz davor, ihr begreiflich zu machen, daß der Fortbestand der Menschheit im Prinzip nur noch von uns beiden und meiner Libido abhing.
Bube auf Dame, Dame auf König, König auf... verdammt, kein As. Während ich die nächste Karte vom Stapel nahm, beschlich mich wieder dieses Gefühl der Leere, das ich im Verlauf der letzten hundert Tage zur Genüge kennengelernt hatte. Diese quälende Frage, warum ich hier sitzen blieb und auf das unvermeidliche Ende wartete. Und diese andere quälende Frage, warum nämlich dieses verdammte Ende so lange auf sich warten ließ.
Ich meine, ich war immer ein Mensch gewesen, der sich irgendwie beschäftigen konnte. Irgendetwas gab es schließlich immer zu tun. Aber nun, nach endlosen Tagen des Kartenspielens und Stunden der Einsamkeit überkam mich doch ein leises Gefühl der Langeweile. Es begann ganz harmlos als kleiner Splitter in meinem Kopf, breitete sich dann wie eine wütende Horde Hummer in mir aus, nahm jedem anderen Gedanken die Daseinsberechtigung und wanderte schließlich solange in meinem Hirn auf und ab, bis ich vollkommen von ihm eingenommen war.
Vielleicht, so dachte ich, könnte ich ja mal rausgehen und nachsehen, ob sich da draußen inzwischen irgendwas verändert hatte...