Mitglied
- Beitritt
- 07.05.2019
- Beiträge
- 6
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Der Lebensabend des Matrosen David Faulkner
"Sie erlauben, dass ich eintrete?"
"Nein, verschwinden Sie, ich habe zu tun."
"Ich glaube, mein Anliegen ist momentan wichtiger als das Ihrige."
"Was wollen Sie?"
"Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen."
"Wenn Sie nicht sofort von hier verschwinden, hole ich mein Gewehr und zeige Ihnen wie man mit Unruhestiftern auf dem Land umgeht."
"Nun, ich glaube nicht, dass Sie dazu in der Lage sein werden."
Der Mann, der an diesem Abend im Herbst 1799 in einer Kutsche aufs Land fuhr um den ehemaligen Matrosen David Faulkner in seinem Haus zu besuchen, trat näher an den Hausherrn heran und zog blitzschnell ein in Äther getauchtes Taschentuch hervor, das er dem überraschten Faulkner ins Gesicht drückte. Trotz seines Alters waren seine Muskeln noch von der Zeit auf See gestählt, gegen die betäubende Wirkung des Äthers konnten aber auch sie nichts ausrichten. Er fiel auf die Knie und sein Besucher fing ihn auf. Unter einiger Anstrengung zog er den Alten ins Wohnzimmer und setzte ihn auf dem Ottomanen ab. Das flackernde Kerzenlicht warf einen grossen Schatten des Besuchers an die Wand, Faulkner glaubte in diesem Schatten den Teufel höchstpersönlich zu sehen.
"Ich erlaube mir nun mich vorzustellen, mein wahrer Name wird aber vorerst, ebenso wie der Grund meines Aufenthaltes hier, nicht weiter wichtig sein. Der Einfachheit halber können Sie mich Lord Ricochet nennen."
Faulkner war wie gelähmt, er konnte kaum auf das eben Gesagte reagieren. Er überlegte sich, was ihn in diese Situation gebracht haben könnte. Ihm blieb nichts anderes übrig als abzuwarten bis sich die Wirkung des Äthers verflüchtigte.
"Es ist noch zu früh um mit der Geschichte anzufangen, ich werden mir einen Drink besorgen, während mein guter Freund Bulldog die Aufsicht übernimmt."
Die Tür öffnete sich und ein grosser, stämmiger Muskelprotz, dessen Gesichtszüge ihm tatsächlich das Aussehen einer Bulldogge verliehen, trat ein. Er begab sich direkt ins Wohnzimmer, wo er gegenüber Faulkner seine Position bezog. Beim Öffnen seines Jacketts entblösste er einen Revolver. Während der Lord weiterhin in der Küche hantierte, erholte sich Faulkner langsam wieder. Die Bulldogge musterte ihn unentwegt.
Nach einer Weile kehrte Lord Ricochet mit zwei gefüllten Gläsern zurück. Er stellte sie auf dem kleinen Tisch vor Faulkner ab, die Bulldogge schob einen Sessel vor den Tisch und der Lord setzte sich.
"David, lieber David, ich entschuldige mich für etwaige Unannehmlichkeiten und freue mich sehr, Sie endlich kennen zu lernen."
Faulkner antwortete mit zittriger Stimme: "Kommen Sie bitte endlich zum Punkt."
"Ja, natürlich, meine Geschichte", er brach in Gelächter aus, "hören Sie gut zu."
Er räusperte sich und begann: «David ich weiss, Sie sind ein Mann der See. Ein Freund, man könnte fast schon sagen ein Verwandter, war ebenfalls Matrose. Er war, leider, bedauerliche Umstände führten zu seinem frühen Ableben. Im April 1769 heuerte er auf einem Walfänger an, der «Freya». Eine Grönlandfahrt ist ein lohnenswertes, aber eben auch sehr riskantes Unterfangen. Das wusste der junge Matrose genauso gut wie Sie und ich es heute wissen, seinen Tod könnte ich verkraften, was aber danach mit ihm passierte, belastet meine Seele seit dreissig Jahren."
Faulkner unterbrach ihn: "Hören Sie auf, ich kann mir schon jetzt denken um was es geht, es…"
"Ruhe, augenblicklich, wenn Sie meine Geschichte noch einmal unterbrechen wird ihnen mein Freund Bulldog eine Kugel in den Kopf jagen, wagen Sie es also unter gar keinen Umständen. Noch ist ihr Schicksal nicht besiegelt."
Die Bulldogge grinste breit und legte eine Hand an den Griff des Revolvers.
Der Lord versuchte sich zu beruhigen und nahm einen grossen Schluck aus seinem Glas.
"Die Überfahrt nach Spitzbergen verlief so problemlos man es sich nur wünschen kann. Die Mannschaft macht sich also am Tag nach der Ankunft im hohen Norden an den Walfang. Dann kam es zur Katastrophe, ein Sturm zog plötzlich auf und eine Gruppe junger Männer konnte mit ihrem kleinen Walfangboot nicht mehr zur «Freya» zurückkehren. Die meisten starben noch während des Sturms, die See verschluckte ihre Seelen für immer. Vier Männer überlebten. Zwei Engländer und zwei Deutsche. Die Männer waren nun also auf hoher See alleine, abgetrieben vom Sturm, viele Seemeilen von der nächsten Landmasse entfernt. Ihnen blieb nichts anderes übrig als umher zu treiben und zu hoffen, dass ein anderer Walfänger sie findet. Bald plagten sie Hunger, Durst und Halluzinationen. Einer der Deutschen starb schon nach wenigen Tagen, er war schon zuvor geschwächt gewesen. Man bestattete ihn zur See. Doch der Hunger wurde immer grösser. Das Regenwasser, welches sie auffingen ging zur Neige. Es kam zu einem Streit. Einer der Engländer hatte schon Bekanntschaft mit dem Deutschen gemacht. Die beiden hassten sich. So kam es zu einem Streit, der mit dem Tod des Deutschen endete. Sie zögerten mit der Bestattung. Dieser Hunger war kaum auszuhalten. Also assen sie ihn auf und hinterliessen nur die Knochen."
Der Lord machte eine lange Pause und schaute Faulkner tief in die Augen. Dieser konnte dem Blick nicht standhalten. Er begann zu schwitzen.
"Da sassen sie also vor einem Knochenhaufen. Und wieder wurden sie hungrig. Der eine Engländer war grösser, stärker und älter als der andere. In der Nacht nahm der Ältere sein Messer und schnitt dem Jungen die Kehle durch. Er begann damit auch ihn zu essen. Einige Tage später passierte das Unglaubliche, ein Walfänger, die «Daisy», sichtete ein einsames Boot auf hoher See und eilte zur Rettung. Das Bild, das sich ihnen zeigte war grausam. Der einzig verbliebene Matrose in einem Haufen aus Knochen, Fleisch und Blut. An Land zog man ihn vor Gericht. Unter Beachtung der Situation und dem Fehlen von Beweisen eines tatsächlichen Mordes, wurde er nicht verurteilt. Er wurde daraufhin bald Kapitän eines eigenen Schiffes und verdiente ein Vermögen durch den Walfang. Dann ging er in den Ruhestand und glaubte er müsse nicht bezahlen für seine Taten».
Faulkner schluckte. Er war wieder bei vollem Bewusstsein. Der Lord schwieg.
"Ich kann Ihnen nur sagen, wie leid es mir tut, es war eine aussergewöhnliche Situation und ich versuchte nur, zu überleben."
"Überleben, ja, wer will das schon nicht. Nun, kommen wir zu meinem echten Namen und meinen Absichten. Ich heisse Joe Reynolds, Francis Murphy kam als Jugendlicher in meine Obhut. Ich will nur etwas wissen, Faulkner, haben sie meinen Sohn getötet?"
"Nein, das habe ich nicht ich schwöre auf alles was mir heilig ist."
"Aber den Deutschen haben Sie kaltblütig abgestochen?"
"Es war ein Streit, glauben Sie mir, Murphy war schwach, er hatte Meerwasser getrunken. Eines Morgens wachte er nicht mehr auf."
"Gut."
"Dann lassen Sie mich am Leben?"
"Nein, wie könnte ich, nichts wird ihre Unschuld je beweisen."
"Ich bitte Sie, das könne Sie nicht tun."
Reynolds musterte ihn ausdruckslos, danach verliess er das Haus ohne ein weiteres Wort. Bevor er die Türe schloss hörte er wie Faulkner weiter bettelte. Dann hörte er den Schuss. Dann hörte er nichts mehr.