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Der Lebensbaum
Ihr wuchs mal wieder alles über den Kopf und so flüchtete sie auf den Friedhof. Neben dem Grab ihres Mannes stand eine kleine Bank im Schatten eines großen Lebensbaumes. Hier saß sie oft und hielt Zwiesprache mit ihm.
Sie waren schon ein Ritual geworden diese Gespräche - immer die gleichen Anfangsworte: "Viel zu früh bist du gegangen. Du wolltest mich durch unser Leben begleiten und immer für mich da sein. Und was ist nun?. Seit 10 Jahren liegst Du hier und ich muß mich alleine um alles kümmern, um den Haushalt, unser Geschäft und unser Kind. Und was machst Du?" "Ich höre Dir zu" raunte der Lebensbaum - so leise, dass nur sie die vertraute Stimme hörte - "und wenn Du mich auch einmal zu Wort kommen läßt, gebe ich Dir gute Ratschläge - das weißt Du doch." "Ja - gute Ratschläge, Worte - gut reden, das konntest Du damals schon, als wir uns kennenlernten. Eingewickelt hast Du mich mit deinen schönen Worten." "Ist es so schlimm - was bedrückt Dich denn?" "Der Laden läuft nicht so gut und Angelina - sie ist zwar aus der Pubertät heraus, aber ich fürchte, jetzt bahnt sich etwas Ernstes an. Aber ich will das nicht. Ich habe mich auch viel zu früh gebunden - ich hätte bestimmt etwas besseres gefunden. Jedenfalls hat Mutter das immer gesagt." "Aber du bist doch frei - du kannst doch wieder heiraten" "Frei - mit einem toten Ehemann, der mit mir redet, wenn ich ihn brauche - nein, ich bin nicht frei. Mein Bett kann ich alleine warm halten und alles andere schaffe ich auch ohne deine Hilfe."
"Also bist du doch zufrieden und vielleicht ein wenig glücklich?" "Glücklich - das war ich damals, als ich in das Wohnzimmer platzte und freudestrahlend rief 'Ich habe den Mann gefunden, mit dem ich durchs Leben gehen werde' und Mutter sah mich nur an und sagte 'Vergiß es - du bist viel zu jung und ich werde es nicht erlauben'. Da habe ich mir mein Glück nicht kaputtmachen lassen und an Dir festgehalten. Ich habe mich durchgesetzt gegen Mutter - und das war schwer, das weißt Du." "Ja, du hattest schon immer einen starken Willen und du bekommst, was du möchtest". "Wirklich? Heute morgen habe ich mich im Spiegel angeschaut und gedacht - Wo ist sie denn nun, die ewige Jugend, die du mir versprochen hast. Auch so ein dahingesagtes Versprechen, das du nicht gehalten hast." "Nein, das habe ich nicht gesagt. Immer wiederkehrende Jugend habe ich Dir versprochen, das ist etwas anderes". "Ach Du mit deiner Wortklauberei. Wenn es mit dem Einlullen mit schönen Worten nicht mehr klappt, dann kommt die Logik - nie gibst Du zu, dass Du auch mal einen Fehler machst." Aber der Baum schwieg, denn er wußte nach bald 20 Jahren Ehe, dass diese Gespräche zu nichts führten.
Als sie nach Hause kam, brühte sich einen starken Kaffee auf und setze sich ins Wohnzimmer, um zur Ruhe zu kommen. Plötzlich flog die Tür auf und ihre Tochter stand freudestrahlend in ihrer 17jährigen Schönheit vor ihr. "Ich habe den Mann gefunden, mit dem ich durchs Leben gehen werde" rief sie und strahlte sie an. "Vergiß es" wollte sie sagen, aber die Worte erstarben auf ihrer Zunge. Immer wiederkehrend - immer das Gleiche, immer wieder - nein, das wollte sie nicht. Und so stand sie auf, schloß ihre Tochter in die Arme und sagte "Ich freue mich" und sie hörte den Baum leise raunen "Du hast es geschafft - ich freue mich auch."
Sie besuchte weiter das Grab, aber mit dem Baum sprach sie kein Wort mehr und sie hörte ihn auch nicht mehr. So begann das Leben ihrer kleinen Familie neu.