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Der Lebensbaum

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03.07.2004
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Der Lebensbaum

Ihr wuchs mal wieder alles über den Kopf und so flüchtete sie auf den Friedhof. Neben dem Grab ihres Mannes stand eine kleine Bank im Schatten eines großen Lebensbaumes. Hier saß sie oft und hielt Zwiesprache mit ihm.

Sie waren schon ein Ritual geworden diese Gespräche - immer die gleichen Anfangsworte: "Viel zu früh bist du gegangen. Du wolltest mich durch unser Leben begleiten und immer für mich da sein. Und was ist nun?. Seit 10 Jahren liegst Du hier und ich muß mich alleine um alles kümmern, um den Haushalt, unser Geschäft und unser Kind. Und was machst Du?" "Ich höre Dir zu" raunte der Lebensbaum - so leise, dass nur sie die vertraute Stimme hörte - "und wenn Du mich auch einmal zu Wort kommen läßt, gebe ich Dir gute Ratschläge - das weißt Du doch." "Ja - gute Ratschläge, Worte - gut reden, das konntest Du damals schon, als wir uns kennenlernten. Eingewickelt hast Du mich mit deinen schönen Worten." "Ist es so schlimm - was bedrückt Dich denn?" "Der Laden läuft nicht so gut und Angelina - sie ist zwar aus der Pubertät heraus, aber ich fürchte, jetzt bahnt sich etwas Ernstes an. Aber ich will das nicht. Ich habe mich auch viel zu früh gebunden - ich hätte bestimmt etwas besseres gefunden. Jedenfalls hat Mutter das immer gesagt." "Aber du bist doch frei - du kannst doch wieder heiraten" "Frei - mit einem toten Ehemann, der mit mir redet, wenn ich ihn brauche - nein, ich bin nicht frei. Mein Bett kann ich alleine warm halten und alles andere schaffe ich auch ohne deine Hilfe."

"Also bist du doch zufrieden und vielleicht ein wenig glücklich?" "Glücklich - das war ich damals, als ich in das Wohnzimmer platzte und freudestrahlend rief 'Ich habe den Mann gefunden, mit dem ich durchs Leben gehen werde' und Mutter sah mich nur an und sagte 'Vergiß es - du bist viel zu jung und ich werde es nicht erlauben'. Da habe ich mir mein Glück nicht kaputtmachen lassen und an Dir festgehalten. Ich habe mich durchgesetzt gegen Mutter - und das war schwer, das weißt Du." "Ja, du hattest schon immer einen starken Willen und du bekommst, was du möchtest". "Wirklich? Heute morgen habe ich mich im Spiegel angeschaut und gedacht - Wo ist sie denn nun, die ewige Jugend, die du mir versprochen hast. Auch so ein dahingesagtes Versprechen, das du nicht gehalten hast." "Nein, das habe ich nicht gesagt. Immer wiederkehrende Jugend habe ich Dir versprochen, das ist etwas anderes". "Ach Du mit deiner Wortklauberei. Wenn es mit dem Einlullen mit schönen Worten nicht mehr klappt, dann kommt die Logik - nie gibst Du zu, dass Du auch mal einen Fehler machst." Aber der Baum schwieg, denn er wußte nach bald 20 Jahren Ehe, dass diese Gespräche zu nichts führten.

Als sie nach Hause kam, brühte sich einen starken Kaffee auf und setze sich ins Wohnzimmer, um zur Ruhe zu kommen. Plötzlich flog die Tür auf und ihre Tochter stand freudestrahlend in ihrer 17jährigen Schönheit vor ihr. "Ich habe den Mann gefunden, mit dem ich durchs Leben gehen werde" rief sie und strahlte sie an. "Vergiß es" wollte sie sagen, aber die Worte erstarben auf ihrer Zunge. Immer wiederkehrend - immer das Gleiche, immer wieder - nein, das wollte sie nicht. Und so stand sie auf, schloß ihre Tochter in die Arme und sagte "Ich freue mich" und sie hörte den Baum leise raunen "Du hast es geschafft - ich freue mich auch."

Sie besuchte weiter das Grab, aber mit dem Baum sprach sie kein Wort mehr und sie hörte ihn auch nicht mehr. So begann das Leben ihrer kleinen Familie neu.

 

Hallo Jobär,

es ist schon erstaunlich, wie deine Prot an ihrer Wut über das Verlassensein und an ihrem geliebtem Mann festhält, obgleich sie nur Vorwürfe für seinen Lebensbaum übrig hat. Man wünschte ihr, sie könnte ihm verzeihen, gestorben zu sein, auch wenn sie sich zum Ende dank ihm darauf besinnt, die Tochter die eigenen Erfahrungen machen zu lassen.
Die ambivalente Liebe deiner Protagonisten könntest du für mein Gefühl noch etwas mehr herausarbeiten, indem du ein paar liebevollere Elemente in die Gespräche einbringst, in der Art der Frage, ob sie glücklich war.
Ansonsten hat mir deine Geschichte gefallen.

Es war schon ein Ritual geworden diese Gespräche
Sie waren schon zum Ritual geworden, diese Gespräche.

Lieben Gruß, sim

 
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Hallo jobär!

Die Protagonistin hängt immer noch an ihrem verstorbenen Mann. Er war ihr eine Stütze und sie hat sich daran gewöhnt, sich an ihn anzulehnen. Deshalb flüchtet sie sich auch nach seinem Tod zu ihm auf den Friedhof, wenn es Schwierigkeiten gibt.

Schön ist am Anfang der locus amoenus als Symbol für die Beschützerrolle des Mannes: Für ihn steht der Lebensbaum, der ihr Schatten spendet, sie also schützt gegen die Sonne.

Dieser Satz enthält scheinbar einen Widerspruch:

und alles andere schaffe ich auch allein, mit deiner Hilfe."
Entweder sie schafft es allein, oder mit jemandes Hilfe. Das geht aber in Odnung, denn den ersten Teil dieser Passage "und alles andere schaffe ich auch allein", ist ihre Erwiderung auf die Aufforderung, sich einen anderen Mann zu suchen. Sie schafft es aber allein, weil sie die Ratschläge des verstorbenen Mannes verinnerlicht, d.h. von ihm gelernt hat.
Auch der Schluss gefällt mir. Dass sie es geschafft hat. Und ich wünsche ihr neue Jugend und Schönheit in Gestalt eines reizenden Enkelkindes, damit es in Erfüllung geht und das Gleiche wiederkehrt.

Lebendig und ohne Ballast erzählt!

Grüße gerthans

 

Das hat jetzt gedauert. Vielen Dank für eure Anregungen, Die beiden zitierten Stellen habe ich geändert. Und ich habe einen neuen Schluß angehängt, bin mir aber nicht sicher, ob die Geschichte dadurch besser wird.

Grüße

Jobär

 

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