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Der letzte Gast
Der alte Finn hatte mich verlassen.
Seit ich hier aufgemacht hatte, war er immer mein treuer Stammkunde gewesen. In den letzten drei Wochen mein einziger Kunde überhaupt.
Finn war der ehemalige Wärter des alten Leuchtturms, der hier mal gestanden hatte. Alles was davon übrig war, war dieses kleine Gasthaus mit Aussichtsplattform, das aus dem unteren Teil des Leuchtturms entstanden war.
Bis vor kurzem gingen die Geschäfte gut. Fast jeden Tag waren wandernde Touristengruppen eingekehrt, um die Aussicht auf das Meer und die Flussmündung zu genießen.
Aber in den letzten drei Monaten waren immer weniger Leute gekommen. Die fortschreitende Baustelle für die Umfahrung schnitt den Wanderern regelrecht den Weg hierher ab. Eine Unterführung war wegen Nichtigkeit und Einsparungsgründen aus dem Projekt gestrichen worden. Also saß ich hier und hatte nichts Besseres zu tun, als das Gasthaus in den Ruin zu begleiten.
Auch, wenn ich mir einredete, ich hätte mich mit der Situation abgefunden, versetzte mich das Verschwinden des alten Finn doch in die so fern geglaubten Depressionen. Ohne ihn würde es hier noch einsamer werden und keine seiner Geschichten würde das Gedudel des Radios unterbrechen.
Dabei hatte ich ihn gar nicht richtig gekannt, bis ich allein mit ihm gewesen war.
Er trank zwar nicht viel, weil ihm das Altenheim nur ein kleines Taschengeld zur Verfügung stellte, aber er konnte stundenlang mit einem Bier oder einem Tee mit Schuss, am Tisch sitzen und aufs Meer hinausstarren.
Er wusste auch jede Menge Geschichten zu erzählen, was sich in den letzten Wochen als ausgesprochen kurzweilig erwiesen hatte. Außerdem tat er mir manchmal den Gefallen, mit meinem Handy ein paar Kilometer landeinwärts zu spazieren, um allfällige SMS einzufangen, denn hier draußen gab es keinen Empfang. Meistens waren dann ohnehin nur ein paar vergebliche Anrufe darauf vermerkt.
In den letzten Tagen hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, mir Geschichten über den Leuchtturm zu erzählen. Dabei kam er jedes Mal auf irgendwelche baulichen Eigenheiten oder markante Punkte an der Küste zu sprechen, die ich mir dann auch sofort ansehen sollte. Ich wusste natürlich, dass er mich nur loswerden wollte, damit er heimlich hinter den Tresen schleichen konnte um sein Bier wieder aufzufüllen. Ich tat ihm den Gefallen jedes Mal, war ich doch dankbar für jegliche Abwechslung.
Heute hatte er mich in den Keller geschickt, um nach eindringender Feuchtigkeit zu sehen, die den Leuchtturm damals baufällig hatte werden lassen.
"Sieh besser mal nach, sonst verderben deine Vorräte", meinte er und als ich zurückkam, war er weg.
Vielleicht war es ihm zu schwer gefallen persönlich Abschied zu nehmen. Ich konnte es nicht sagen. Er hatte mir erzählt, dass der Wanderweg seit heute Morgen gesperrt war. Finn hatte sich davon nicht abhalten lassen, aber es würden ganz bestimmt keine Leute mehr kommen. Vielleicht hatte er es selbst als ein Zeichen genommen und wollte mich nur ein letztes Mal besuchen. Jedenfalls war ich nun allein mit dem Radio und dem unangenehmen Gefühl, mich der Realität stellen zu müssen.
Ich wischte den Tisch ab, an dem er gesessen hatte, ging zur Bar und erschrak. Der alte Finn lag hinter dem Tresen auf dem Boden.
Dass er tot war, konnte ich mit einem Blick erkennen und das beunruhigte mich. Es war nicht die Tatsache, dass der alte Finn in meinem Gasthaus gestorben war, sondern das Einschussloch in seiner Stirn, das mir kalte Schauer über den Rücken jagte. Ich stand wie erstarrt da, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.
Jemand hatte den Alten Finn erschossen, während ich im Keller war.
"Hilfe! Ich muss Hilfe rufen!", schoss es mir schließlich durch den Kopf.
Das alte CB-Gerät war die einzige Möglichkeit von hier aus Kontakt zur Stadt aufzunehmen. Der Funkraum befand sich im Zwischengeschoß zur Aussichtsplattform. Die metallene Brandschutztür dorthin, direkt neben der Bar, war alt und klemmte. Ich war so aufgeregt, dass ich sie nicht sofort auf bekam. Ich rüttelte und stemmte mich dagegen, aber als sie nicht einmal Schlägen und Fußtritten nachgab, machte sich eine unangenehme Ahnung in mir breit. Ein Blick durch das Schlüsselloch brachte erschreckende Gewissheit: Die Tür war von der anderen Seite abgeschlossen worden.
Finns Mörder war noch hier und hatte sich auf der Aussichtsplattform eingeschlossen.
Mein Blick wanderte zum Monitor. Auf dem Dach war eine Kamera angebracht, mit der ich die Plattform im Auge behalten konnte. Ich sah einen Mann mit einem Gewehr.
Er musste meine Versuche die Tür zu öffnen gehört haben, denn er war der Treppe zugewandt und wirkte unentschlossen. Er sah sich um und entdeckte die Kamera. Gleich darauf sah ich nur noch weißes Rauschen. Er hatte sie zerschossen. Und zwar nicht mit dem Gewehr. Wahrscheinlich hatte er auch noch eine Pistole. Es war auch kein Schuss zu hören gewesen. Schalldämpfer.
Ich nahm eine Flasche vom Regal und hielt sie am Hals wie eine Keule. Dann presste ich mein Ohr gegen die Metalltür, hörte aber keine Schritte die Treppe herunterkommen. Fieberhaft überlegte ich, was ich tun sollte.
"Flucht", war mein erster Gedanke. Nur weg von hier. Raus und laufen was das Zeug hält, dann hätte ich einen Vorsprung, groß genug um... Nein, falsch. Von dort oben konnte man alles überblicken. Er hatte eine Waffe und es gab weit und breit keine Deckung. Kilometerweit nur ebenes Gelände und Steilküste.
Ich lauschte noch eine Weile an der Tür, bevor ich es wagte, ans Fenster zu schleichen.
Draußen stand ein Geländewagen, aber weder darin noch in der Nähe sah ich irgendwelche Menschen. Ich blickte nacheinander durch sämtliche Fenster, entdeckte aber weiter niemanden dort draußen.
Vor die Tür zu gehen wagte ich nicht. Ich hatte Angst! Verdammte, beschissene, schweißtreibende Angst.
Sollte ich versuchen zu meinem Auto zu laufen? Der Geländewagen würde mir auf dem Weg dahin als Deckung dienen. Wenn ich erst einmal losgefahren wäre, würde ich kein einfaches Ziel mehr abgeben.
Noch während ich überlegte, krachten zwei Schüsse. Sein Gewehr war anscheinend nicht schallgedämpft.
Mein Wagen sank auf einer Seite nach unten. Er hatte die Reifen zerschossen.
Ich lief in Panik zurück zur Tür und lauschte.
Stille.
Was hatte er vor? War es ein perverses Spielchen, das er mit mir trieb? Wartete er, bis meine Nerven versagten und ich weglief, um mich dann abzuschießen wie einen aufgescheuchten Hasen? Was zum Teufel wollte er von mir? Warum ich?
Ihm musste bewusst sein, dass ich keine Hilfe rufen konnte. Er hatte mich in der Falle
Ich überlegte, ob ich die Tür verrammeln sollte, um ihn am runterkommen zu hindern. Aber das würde er hören. Geräusche hallten geradezu durch die alten Steinwände nach oben und er konnte immer noch die Feuerleiter außen benutzen.
Ich setzte mich auf den Boden, mit dem Rücken an die Tür gelehnt und behielt durch ein Fenster die Metallleiter im Auge. So war ich erst mal vor Überraschungen gefeit.
Was sollte ich tun? Ich hätte meine Flasche gegen ein Küchenmesser austauschen können. Aber mit keinem von beiden könnte ich etwas gegen seine Waffen ausrichten.
Ich dachte daran mich im Keller zu verstecken, aber die hölzerne Falltür ging nach oben auf und mir fiel nichts ein, wie ich sie von unten festkeilen könnte. Außerdem würde ich dort in der Falle sitzen.
Ich hatte ja auch keine Ahnung, was er von mir wollte, oder wie lange er vorhatte, dort oben zu bleiben.
Ein Kampf war für mich keine Alternative. Ich lugte zur Leiche des alten Finn hinüber, dessen Füße fast die Meinen berührten, und musste mich zusammenreißen, um nicht in Panik auszubrechen.
Der Fremde hatte anscheinend kein Interesse an weiteren Beteiligten gehabt. Er wollte nur mich und ich hatte nur keine Ahnung weshalb.
Der Platz an der Bar war zum Gefängnis für mich geworden. Ich war nicht stark genug mich von hier wegzubewegen, um irgendetwas zu tun.
Hier zu sitzen gab mir ein trügerisches Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. Nur an diesem Platz, mit dem Rücken an der Tür und den Augen an der Feuerleiter würde ich sofort bemerken, falls mein Widersacher herunterkäme. Doch dann wäre es bereits zu spät.
Ich wusste, dass ich irgendetwas unternehmen musste, um mein Leben zu retten, aber die Angst hielt mich hier gefangen.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort gekauert hatte, ständig sinnierend, wartend und nicht wagend, diesen Platz der unbeständigen Sicherheit zu verlassen. Irgendwann drängte sich die nervige Stimme einer überkandidelten Society Reporterin aus dem Radio in meine kreisenden Gedanken. Um das Radio auszumachen, hätte ich über die Leiche des alten Finn steigen müssen und ich hatte bereits genug damit zu tun, die Tatsache zu ignorieren, dass er hier neben mir lag.
Der Mann auf der Plattform hatte bisher keinerlei Lebenszeichen von sich gegeben und ich war zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen, was ich tun würde, wenn er es denn täte. Welche Überlegungen ich auch anstellte, kein Versteck schien mir sicher genug. Meine Szenarios liefen ständig darauf hinaus, dass der Fremde mich schließlich finden würde und ich wollte nicht daran denken, was danach käme.
Die schrille Stimme im Radio interviewte irgendwelche Prominente bei einem Großereignis. Ich versuchte es mental auszublenden, aber es gelang mir nicht. Schließlich schaffte ich es, meine Angst für wenige Sekunden zu überwinden. Gerade als ich mich an der Wand entlang schob um das Radio abzustellen, begriff ich, von welchem Ereignis hier berichtet wurde. Das neue Kreuzfahrtschiff war vom Stapel gelaufen und es würde auf dem Weg zum Meer direkt hier vorbeikommen!
Plötzlich ergab alles einen Sinn. Ich war dem Mann dort oben völlig egal. Er war ein bezahlter Mörder und auf dem Schiff befand sich sein Opfer.
Er hatte den Wanderweg abgesperrt! Sonst wären bestimmt ein paar Leute gekommen, um das Schiff zu betrachten.
Er war hier hereingekommen, hatte den alten Finn hinter der Bar gesehen, wie er sein Bier auffüllte und musste ihn für den Wirt gehalten haben. Das hatte mir das Leben gerettet. Einstweilen.
Ich war nur ein kleiner Lapsus in seinem Szenario, den er sicher bald beseitigen würde.
Er hätte mich schon längst erledigen können, aber er konnte sich damit Zeit lassen, da ich hier unten gefangen war.
Ich war noch immer kein Held, aber ich wusste jetzt, er würde erst herunterkommen, wenn er seinen Auftrag erledigt hatte.
Ich würde nicht versuchen ihn an dem zu hindern was er dort oben tat. Es reichte mir mein eigenes Leben zu retten. Das würde sich schwierig genug gestalten.
Ja, ich wählte den Weg des Feiglings.
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Ich lag bereits in Position, als ich den Knall hörte. Kurz darauf noch ein Knall, und ein weiterer. Ich fragte mich, ob er nicht getroffen hatte oder jeder der Schüsse ein Menschenleben bedeutete. Wieder und wieder schoss er. Ich machte mir Vorwürfe, nicht wenigstens versucht zu haben, ihn aufzuhalten. Jetzt war es zu spät dafür.
Schon wenige Sekunden nachdem der Lärm verstummt war, hörte ich seine Schritte auf der Treppe. Der Schlüssel drehte sich im Schloss.
Jetzt bloß nicht mehr bewegen! Ruhig bleiben.
Die Tür öffnete sich mit einem leisen Quietschen. Die Holzdielen knarrten unter seinen Schritten. Ich stellte mir vor, wie er das Lokal mit seinen Augen absuchte, langsam und bedächtig einen Schritt vor den anderen setzend. Da! Eine Reaktion. Eine schnelle Drehung. Er hatte die offene Falltür zum Keller bemerkt.
Ruhig bleiben, abwarten. Nicht bewegen!
Wieder schlich er weiter, in Richtung Falltür nahm ich an. Wie würde er reagieren? Würde er darauf hereinfallen? Würde er wirklich glauben, ich wäre in Panik die Treppe hinuntergestürzt? Würde es ihm reichen einen reglosen Körper dort unten liegen zu sehen? Oder würde er hinuntergehen?
Er hatte angehalten. Das war der Moment, in dem sich alles entschied. In der Stille erschienen die Sekunden bis zu seiner Reaktion wie Stunden.
Ich hörte das dumpfe Geräusch des Schalldämpfers, zweimal hintereinander. Er hatte geschossen. Dann knarrte die Stufe der steilen Holztreppe zum Keller. Jetzt wusste ich, er ging um nachzusehen.
Jetzt musste ich also doch noch zum Helden werden.
Ich erhob mich leise von meinem Platz hinter dem Tresen, wo ich in den Kleidern des alten Finn gelegen hatte. Vorsichtig kroch ich um die Bar herum, bis ich die Falltür in Sicht hatte, dann sprang ich auf und rannte darauf zu. Für eine Zehntelsekunde trafen sich unsere Blicke. Auf seinen Lippen bildete sich ein Fluch, als er sah, wie ich die Falltür zuwarf. Durch die Dunkelheit schoss er blind Löcher in das Holz. Ich sprang zur Seite, auf mein nächstes Ziel zu. Der Schrank an der Wand stand jetzt so, dass er genau auf der Falltür zu liegen kam, wenn ich ihn umwarf. Er krachte auf den Boden und schloss ihn dort unten ein.
Noch immer brachen Schüsse durch die Falltür und den Schrank.
Auf dem Weg zum Funkraum ging mir der alte Finn nicht aus den Kopf. Er hatte mir einmal vom Krieg erzählt, wie er sich auf dem Schlachtfeld tot gestellt hatte und der Feind über ihn weg marschiert war. Nun lag er dort unten im Keller bei dem Fremden. Das hatte er nicht verdient. Ich verfluchte meine Angst, die mich dazu getrieben hatte seinen Körper als Köder zu missbrauchen.
Sein Mörder dort unten würde seine Strafe erhalten.
Ich selbst würde durch das Wissen um meine Feigheit bestraft werden.