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Der letzte Kuss
„Verlieb’ dich nie in eine Touristin!“
Der Rat, den Lal immer wieder seinen Freunden gab, wenn er bemerkte, dass sie der Grenze, die einen Flirt und die Liebe voneinander trennten, gefährlich nahe kamen, hallte in seinem Kopf, während er durch die fast leeren Straßen von Margao ging.
Noch hatte die Saison nicht begonnen und man hatte seine Ruhe, aber der September war fast vorbei und schon bald würden, wie sein Freund Vicky immer sagte, die Hippies über die Stadt herfallen.
Lal störten die Touristen nicht. Vor allem nicht die weiblichen, die genauso wenig auf der Suche nach Liebe waren wie er selbst und, von denen er wusste, dass sie nicht verletzt waren, weil er nie über Nacht blieb. Sie machten auch keine unangenehmen Szenen, weil er sich nicht meldete. So wie Sonia an diesem Morgen bei dem Frühstück mit seinen Freunden.
Ihre Worte lagen ihm immer noch schwer im Magen. Er hatte sich nie besonders viele Gedanken über die Beziehung gemacht, die sie hatten. Wenn er einsam war, ging er zu ihr rüber. Nur ein paar Schritte lag ihr Haus von seinem entfernt. Sie war immer da und hatte ihn nie abgewiesen, bis zu diesem Morgen.
Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und begann, die Stufen zu seinem Haus hochzugehen. Er fragte sich, wann er sich in Ana verliebt hatte. Ana, die in ein paar Tagen zurück nach Hause fliegen würde. Zu ihrem Mann, der zu beschäftigt war, um mit ihr in den Urlaub zu fliegen. Nach Hause, zurück in ihr normales Leben, in dem es keinen Platz für Lal gab.
„Du warst an diesem Abend nicht im Club.“
Lal blieb auf der letzten Stufe stehen und sah Ana überrascht an. Noch nie war eine Frau zu seinem Haus gekommen, abgesehen von Sonia, die immer mal wieder etwas zu essen brachte, weil sie der Meinung war, er würde sich nicht gesund genug ernähren. Sie war auch die einzige Frau, die er normalerweise hier tolerierte.
Er betrachtete Ana von oben nach unten, als hätte er noch nie eine Frau gesehen. Das dunkle Rot ihres Kleides stand ihr ausgezeichnet und verlieh ihr etwas verwegenes. Ein Kontrast zu ihrer hellen Haut, die er so sehr liebte und die unter seinen Berührungen regelmäßig zu brennen begann. Sie strahlte wie ein Engel, der auf dieser schäbigen Veranda vollkommen fehl am Platz war.
Sie hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und sah ihn vorwurfsvoll an. Sie verabredeten sich nie, trotzdem trafen sie sich jeden Abend im Club, der zu dem Hotel gehörte, in dem sie wohnte. Sie wusste, dass er da sein würde und er wusste, dass sie auf ihn wartete.
„Ich war am Strand“, erklärte er und wühlte in seiner Hosentasche nach den Schlüsseln.
„Oh, am Strand... alleine?“
Er lächelte. „Natürlich, ich und die Einsamkeit. Wie immer.“
Sie musterte ihn mistrauisch, für eine Sekunde blitzte Eifersucht in ihren Augen auf.
„Warum bist du hier?“, fragte er, wobei er versuchte, so kühl wie möglich zu klingen.
„Du bist nicht gekommen“, erwiderte sie, während sie mit langsamen Schritten auf ihn zukam, ohne ihren Blick von seinen Augen abzuwenden.
„Ich hatte meine Gründe.“
„Was war denn so wichtiges am Strand?“
„Der Sonnenaufgang.“
Sie lachte leise. Sogar sie wusste inzwischen, dass er sich oft die ganze Nacht um die Ohren schlug und nicht nach Hause ging, bevor er der Sonne einen guten Morgen gewünscht hatte.
„Lass’ uns ins Haus gehen“, flüsterte sie. Der verführerische Rosenduft, der sie immer umgab, stieg ihm in die Nase. Er brauchte einen Moment, um sich aus dem Bann ihres Blickes zu lösen. Obwohl es ihm schwerfiel, schob er sie sanft, aber bestimmt, von sich.
„Es ist besser, wenn du gehst.“
„Was ist denn los mit dir?“, sie runzelte verwirrt die Stirn.
„Ich denke, wir sollten die ganze Sache lieber beenden.“
„Wieso?“
„Bevor es zu spät ist“, fuhr er fort. „Du wirst zurück nach Hause fliegen. Zu einem anderen Mann und ich werde mich damit abfinden müssen, wieder alleine zu sein. Es ist jetzt schon schwer genug für mich...“
„Oh, das verstehe ich natürlich“, sagte Ana leise. Bedauern lag in ihrer Stimme.
„Würdest du ihn denn meinetwegen verlassen, Ana?“
„Das verstehst du nicht!“ Sie sah auf den Boden. „Ich kann mich nicht einfach so scheiden lassen. Wir haben einen Ehevertrag und ich bekomme nichts wenn ich...“
„Schon gut, ich weiß worauf du hinaus willst! Würdest du jetzt bitte...“ er zögerte. Es fiel ihm schwer, den Satz auszusprechen und Ana wegzuschicken. Bei dem Gedanken daran, sie nie wiederzusehen, tat ihm jetzt schon jede einzelne Faser seines Körpers weh. „Geh’ bitte!“
„Ich gehe“, flüsterte sie. Lal sah, dass sie eine Träne wegwischte. Er musste gegen das Verlangen ankämpfen, sie zu umarmen und alles zurückzunehmen. Die Frau, die er liebte, weinte seinetwegen und er hasste sich dafür. „Aber... bekomme ich noch einen letzten Kuss, bevor...“
Lal wich ihrem Blick aus. Er sehnte sich zu sehr nach ihren warmen Lippen, um nein zu sagen.
„Bitte?“
Er nickte kaum merklich, aber sie sah es trotzdem und kam wieder näher. Er wurde nervös wie ein Schuljunge.
„Ein letzter Kuss“, wiederholte er, um sich selber daran zu erinnern, dass er diese Affäre eigentlich beenden wollte.
Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, ihre Fingerspitzen strichen über seine Wange und hinterließen kribbelnde Spuren auf seiner Haut. Er war verloren. Erschreckt stellte er fest, wie ähnlich er Sonia war. Zu schwach, um sich wirklich von Ana zu lösen. Immer in der Hoffnung, irgendwann einmal diese drei so wichtigen Worte aus ihrem Mund zu hören.
Dieser Kuss würde nicht der letzte sein. Das wusste er so sicher, wie er plötzlich wusste, dass Sonia, obwohl sie ihm gesagt hatte, sie wolle ihn nie wieder sehen, ihn auch das nächste Mal wieder in ihr Bett lassen würde.