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Der letzte Tag
Der letzte Tag in meinem Leben ist angebrochen. Ich hätte nie geglaubt, daß ich am angekündigten, letzten Tag so sanft, noch vor dem Weckerklingeln, aufwache. Warum ich mir für den letzten Tag, den, nach dem es für mich keinen mehr geben wird, den Wecker stelle? Das ist eine gute Frage, auf die ich aber eine plausible Antwort habe. Vielleicht Gewöhnung, Gewohnheit. Mit einer reflexhaften, schnellen Bewegung ist der Wecker ausgeschaltet, damit er keine Unruhe stiftet, nachdem ich nun schon wach bin. Das soll heute meine letzte, hastige Bewegung gewesen sein. Eingerollt unter der Decke ist es so schön warm. Die Bäume vorm Fenster sind frühlingsfrisch grün und die Vögel zwitschern im ersten Sonnenlicht. Mit offener Balkontür schlafen macht Spaß. Die Luft ist morgens noch nicht so abgestanden und schwer.
Nasentemperaturtest. In der Nase ist noch Gefühl, also kann’s nicht kalt sein. Wenn die Sonne ganz aufgestanden ist und ihren Weg geht, wird es sicher angenehm warm werden. Ein schöner, sonniger, warmer Tag, kein Wind, einfach nur im Biergarten sitzen und sich volllaufen lassen. Dazu fetten Schweinebraten und..... Nein. Der letzte Tag soll ruhig und angenehm sein, kein lallen und unter den Tisch rutschen mit aufgeschlagenem Kinn. Same procedure as every day.
Als erstes ein langes Strecken und Räkeln. Tut das gut. Das Blut fängt langsam an zu zirkulieren. Die Decke weggestrampelt und ins Bad geflüchtet zum Zähneputzen und allen anderen morgendlichen Verrichtungen. Teewasser aufsetzen. Gut, daß ich die Klamotten für heute schon gestern rausgelegt habe. So erspare ich mir das zeitraubende Zusammenstellen des heutigen Outfits. Genug Zeit für Frühsport. Anfangs streicht die Luft kühl über die Haut und ich bekomme eine Erpelpelle, oder wie man in anderen Gegenden sagt, eine Gänsehaut. Sie verabschiedet sich, als Muskeln und Haut sich auf Betriebstemperatur erwärmen. Ab und zu habe ich mal einen Morgen ohne Frühsport eingelegt. Ich fand es immer interessant, mit welchem verkrampften Gang ich dann durch den Tag gestolpert bin. Es ist, als ob man sich einen Kater ansäuft, nur um zu sehen, wie gut das Leben ohne Kater ist und welche Qualen man ohne nicht ertragen muß.
Wie wäre es zur Feier des Tages mit einem Vanilletee? Hm, lecker. Bald schlägt die Kirchturmuhr das Signal zum Aufbruch. Die Zeit bis dahin ist immer die ruhigste und besinnlichste des Tages. Noch liegt alles im Schlaf, die Luft ist noch frisch und unverbraucht, kühl und die Welt ist noch leise. Sobald die Menschen erwachen, verursachen sie Lärm, die Sonne heizt die Luft auf und erst in der Nacht endet die Betriebsamkeit der Welt. Nach Feierabend werde ich noch zum Sport gehen. Ein aktives Leben soll angemessen aktiv beendet werden, also noch die Sportklamotten in den Arbeitsrucksack legen. Geben wir dem Schicksal die Illusion einer Chance.
Auf dem Weg zur Bahn, die mich zum Arbeitsplatz bringt, gehe ich noch beim Bäcker vorbei und kaufe Johannisbeerkuchen. Der schmeckt so schön herb. Ich zahle passend, wie immer. Ok, ich sehe die Frage in Deinen Augen. Warum gehe ich am letzten Tag auch noch zur Arbeit. Zur Arbeit, die oftmals lästig und nervenaufreibend ist, die meinen Lebensunterhalt sichert? Existiert denn in jedem Menschen ein kleiner Masochist, ein Sadist gegen sich selbst? Für mich ist es ein tägliches, kostenloses Geduldstraining. Die tägliche, wichtige Frage wird beantwortet, wie stark lasse ich mich unter Druck setzen, bis ich die Nerven verliere? Wie lange gehe ich den Massen hinterher, bis ich ausschere und einen ruhigeren Gang einlege, um nicht unterzugehen? Wer als erster die Nerven verliert, wird ausgezählt, hat verloren. Wer anfängt zu schreien, hat die Nerven verloren. Wer einen Streit vom Zaun bricht, in den andere einsteigen, ist ein doppelter Looser. Mit Worten kann man viel ausdrücken, Stille ist dagegen heilsam in unserer lauten Welt.
Jedenfalls mag ich den Weg zur Bahn und zur Arbeit. Er ist täglich die erste Kontaktaufnahme mit nervösen und hektisch reagierenden Menschen, bevor ich auf Arbeit den Löwenkäfig betrete. Löwenkäfig. Suggeriert, daß ich mich als Dompteur unter Bestien sehe. Vielleicht denken Psychoanalytiker jetzt auch, daß ich mich hilflos fühle und Angst habe. Ich halte alle Menschen, die sich mit Psychologie beschäftigen für wichtig und bin froh, daß sie da sind und nicht hier. Klar ist mein Arbeitsplatz ein Löwenkäfig, in dem alles mögliche Getier rumkreucht und fleucht. Allen Lebenwesen kann man sich nähern und mit den meisten kann man gut zusammenarbeiten. Ignorieren kann man niemanden, aber gleichzeitig kann dir auch nicht wirklich etwas passieren, das du nicht selbst zuläßt. Oft wurde mir gesagt „nimm die Dinge nicht persönlich“, und es erleichtert die Arbeit wirklich. Es ist nicht der Weisheit letzter Schluß, trotzdem ist es dorthin ein wichtiger Schritt gewesen. Wenn man nichts persönlich nimmt, perlt der Ärger ab, wie Wasser vom Lotus. Nichts ist persönlich, nichts wichtig. Man kommt zum Arbeitsplatz, liefert gute Arbeit ab, ohne sich unter Druck setzen zu lassen, und geht wieder nach Hause. Was wichtig ist, ist das Miteinander, sind die Kollegen. Pflanzen gedeihen nur an günstigen Orten, daher ist man für die Pflege seines Umfeldes verantwortlich. Wie sehr man sich dabei engagiert, ist immer eine persönliche Entscheidung. Doch ich sehe, ich schweife ab.
Ob ich lange gedankenverloren aus dem Fenster geschaut habe? Draußen hat es angefangen zu regnen. In den vergangenen Tagen war es sehr warm und die Erde ist ziemlich trocken. Da kommt der Regen genau richtig. In der Mittagspause werde ich vor die Tür gehen. Wenn es noch regnet, stelle ich mich unter das Regendach und werde mal richtig durchatmen. Nach der Trockenperiode riecht es nach feuchter Erde, vielleicht auch nach Gras. Dann gehen die Gedanken auf Wanderschaft in ferne Gegenden mit nebelverhangenen Bergen und Tälern, in denen Schafe blöken und im nassen Gras weiden. Wenn ich gekündigt werde, oder mir alles zuviel wird, wollte ich immer aussteigen und dann eine Zeitlang durch die Welt reisen, solche Orte aufsuchen. Tja, das wird nun wohl nichts mehr.
So viel ist heute nicht zu tun, da werde ich früher Feierabend machen. Alles aufräumen und zusammenstellen, der Schlüssel dreht sich im Schloß des Schreibtisches, die Türen fallen hinter mir zu und wieder bin ich auf einem Weg durch das Leben.
Sport. Lange habe ich gesucht, viele verschiedene Dinge ausprobiert, bis ich das eine, das für mich interessante, gefunden habe. Wenn ich überlege, wie oft ich in Sackgassen gelandet bin, Geld für Dinge ausgegeben habe, die ich nach dem Erwerb nichtmal mehr mit dem Südpol angeschaut habe. Wer weiß, wie lange mich meine jetzige Begeisterung gefesselt hält. Es gibt nie die Garantie, daß es nicht doch eine Luftblase ist, aber genau das hat den Reiz und die Stärke meines Lebens ausgemacht. Fragen und Gegensätze.Die Paarung von Schnelligkeit und Kraft mit Ruhe und Eleganz. Gegensätze zu entdecken ist eine Kunst, sie auszuleben, dazu gehört Mut. Und was bringt das? Einfacher, schnörkelloser Genuß und Befriedigung. Wie ein ruhiges, einfaches Essen nach dem Sport, ohne aufpeitschende Geräuschkullisse.
Ich kenne ein schönes Straßencafe, das nicht zu groß, aber auch nicht zu klein ist. Die Wände sind weiß getüncht und eine Wand ist mit wildem Wein bewachsen. Das Grün der Blätter ergibt einen herrlichen Kontrast zu den weißen Wänden. Aus den Lautsprechern kommt mediterrane Musik, vielleicht was griechisches, die Gäste unterhalten sich gedämpft und die Kellnerin, eine Schönheit mit langem, dunklem Haar, bringt mir einen Tee. Das Leben ist schön. Wir leben auf keiner Schnellstraße. Warum also von Termin zu Termin hetzen, wozu sich abhängig machen? Man schuldet nicht nur anderen Menschen und der Umwelt Respekt, man schuldet ihn auch sich selbst. Vielleicht hört es sich seltsam an, wenn man sich bei sich selbst bedankt für ein erreichtes Ergebnis, ist es doch die Anerkennung einer eigenen Leistung, sich selbst erwiesener Respekt. Das sollte normal sein. Ein Blumenstrauß, den man sich kauft oder pflückt, ein Gaststättenbesuch, eine Oper oder was auch immer. Es ist ganz einfach, es reichen simple, kleine Sachen aus.
Wenn ich zu Bett gehe, werde ich mich vor dem Einschlafen auch bei mir selbst bedanken. Ich bin nie von meiner Seite gewichen, wie sollte ich auch. Habe hoffentlich selten Hochmut heraushängen lassen und habe an mir gearbeitet und arbeiten lassen, an Stellen an denen es nötig war.
Ja, es war ein schönes Leben.
Neugier gehört zum Leben dazu. Ich habe die Waagschalen ausgewogen gehalten, wollte mich nicht irgendwann in der Zukunft vor meinen Nachkommen schämen müssen. Ich bin schon gespannt, was der morgige, letzte Tag bringt. Ich hoffe, ich begehe ihn würdig.