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Der schiefe Turm von Düsseldorf
Es ist beinahe zweihundert Jahre her, im Jahre des Herrn 1817, als ein junger Mann namens Harry in seinem Studierzimmer sitzt. Obwohl er kein kirchliches Amt anstrebt, kreist immer wieder ein Gedanke in seinem Hirn, findet er keine Ruhe. Während er überlegt, nimmt er ab und an den Folianten zur Hand, in welchem die Ränke des Bösen beschrieben sind. Sein romantisches Gemüt schwankt zwischen fleischlichem Begehren und Abscheu vor der Sünde. Ist Venus eine Ausgeburt des Teufels? Schon im Lied des Ritters Tannhäuser über seine Reise zum Venusberg heißt es:
"Herr Pabst, Ihr geistlicher Vater mein,
Ich klag Euch meine Sünde,
Die ich mein Tag begangen hab,
Als ich Euch will verkünden:
Ich bin gewesen ein ganzes Jahr,
Bey Venus einer Frauen,
Nun will ich Beicht und Buß empfahn,
Ob ich möcht Gott anschauen."
Der Pabst hat einen Stecken weiß,
Der war von dürrem Zweige:
"Wann dieser Stecken Blätter trägt,
Sind dir deine Sünden verziehen." *)
Das Herz des Jünglings erschauert vor der Sinnlichkeit des Weibes Mephistophela, denn in nämlicher Gestalt erscheint ihm Satan, und so nennt er sie. Die wildesten Szenen malt seine Fantasie sich aus; er fällt in eine Art Wachschlaf, in dem die Grenzen zum Traum sich verwischen:
Plötzlich sieht er eine Frauengestalt durch die Altstadt laufen, erst in Richtung zum Rhein hinunter, dann biegt sie am Burgplatz nach rechts ab. Hohl klingen ihre Schritte in den nächtlichen Gassen. Schließlich verhallen sie vor der Pfarrkirche St. Lambertus. Dort begehrt sie Einlass, welcher ihr gewährt wird vom Priester im Büßerhemd.
„Was führt dich zu mir zu dieser Stunde?“, fragt sie der Priester.
„Ich habe gesündigt, Vater“, antwortet sie. „Bitte nehmt mir die Beichte ab.“
Aber der Priester fährt auf: „Du hast mich im Gebet gestört, komme morgen wieder. Es ist nicht Zeit zur Beichte um Mitternacht.“
Erbleichend stammelt die Frau: „Zu spät, dann ist es zu spät. Ich bin verloren, der Böse wird mich holen.“
Unwirsch gibt der Priester nach und lässt sie ein. Da scheint die junge Frau einen Schwächeanfall zu bekommen, beginnt zu taumeln, klammert sich an ihn.
„Ich habe mein Keuschheitsgelübde gebrochen“, stammelt sie dicht an seinem Ohr. Ihr Atem streift ihn, und der Priester weiß nicht, wie ihm geschieht.
’Ich muss behext worden sein’, denkt er, und schon zieht er die beinahe Fallende ganz dicht an sich heran. Noch während der Priester um Klarheit ringt, beginnt sie ihn zu umkosen, und er denkt im letzten Moment: ’Nicht hier, nicht unter Seinen Augen.’ Dann führt er sie die Treppe hinauf zum Turm.
Es hebt ein Küssen an und Umgarnen, ein laszives Spiel verschlungener Glieder. Nun gesellen sich Musikanten dazu, ertönen süß die Klänge einer betörenden Melodie. Schon steht ein festlicher Tisch bereit mit auserlesenen Speisen und blutrotem Wein. Hübsche Dienerinnen sind bemüht, jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Das Liebesspiel wird zum Bacchanal.
Bis der Schutzpatron der Kirche, der Heilige Lambertus, nicht mehr zusehen kann. Er fasst in sein Chorhemd, wo er die glühenden Kohlen aufbewahrt, um den Weihrauch zu entzünden. So hatte er es schon vor über tausend Jahren gehalten, als er noch als Diakon durch die Lande zog, und das Hemd blieb unversehrt. Er wirft die Glut nach den heidnischen Ketzern, um dem sündhaften Treiben ein Ende zu bereiten.
Da endlich kommt der Priester zu sich, Entsetzen breitet sich über sein Gesicht. Doch Mephistophela verteilt die Glut, bis der Dachstuhl Feuer fängt. Dann läutet sie die Glocken, bevor sie sich auf den Rücken des Priesters schwingt und mit ihm zur Kirche hinaus fliegt.
Der Turm verbrennt und muss erneuert werden, doch die Kirche bleibt zum Glück erhalten. Vergeblich forscht der weltliche Arm der Macht nach den Schuldigen. Der Priester ward von Stund an nicht mehr gesehen. Und der junge Harry Heine saß zuhause – er hatte lediglich einen Traum.
Bald erhebt sich der neu errichtete Turm stolz über der Pfarrkirche. Er hat nur einen Makel: In sich verdreht, strebt seine Spitze schief dem Firmament entgegen.
Der Küster erklärt, man habe zu feuchtes Bauholz verwendet. Vielleicht ist es auch die Seele des Priesters, die keine Ruhe findet, oder es ist eine Metapher für den Scheideweg zwischen Recht und Unrecht. Es kann auch eine Frage an den Himmel hoch droben sein, die noch nicht endgültig entschieden wurde.
*) Text nach Heinrich Heine „Elementargeister“