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Der Schleifer
„Rollt eure Schlafsäcke enger, die sehen ja aus wie vollgeschissene Socken!“
Feldwebel Grill benutzte stets eine Sprache, die von Herzen kam.
„Vorwärts, vorwärts!“, brüllte er und warf die Klappe des Zeltes hoch.
„Wir haben ja schließlich nicht den ganzen Morgen Zeit, und ihr Burschen kriecht herum wie Großmütter beim Sackhüpfen!“
Jetzt kam doch Bewegung in die Sache und die Rekruten beeilten sich, dem Feldwebel zu folgen. Ihr Marschgepäck mitschleppend, in der anderen Hand das G-3, stolperten sie ihm hinterher in die Dunkelheit.
*
Martin hasste den ganzen Mist. Seine Einberufung zur Bundeswehr, die Grundausbildung, die schreienden und Menschen verachtenden Ausbilder und Unteroffiziere. Trotzdem blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Feldwebel und den anderen rekrutierten Heulbojen zu folgen. Im Dunkeln über schafsköttelverseuchte Wiesen zu kriechen, Gewehr bei Fuß (nachts im Schlafsack) und immer den Krieg zwischen Blau- und Rotland - zwei imaginäre Gegner – vor Augen.
Bella hatte ihn ja gewarnt, noch und nöcher.
„Werd’ Zivi, mach’ irgendwas im Altersheim oder Krankenhaus. Geh’ nicht zum Bund. Du wirst es bereuen!“, hatte sie ihm mehrfach geraten. Aber er musste seinen Dickkopf ja durchsetzen, nur um den einen oder anderen Monat zu gewinnen, den der Zivildienst länger dauerte.
Natürlich wurde er weit weg stationiert, konnte nicht jedes Wochenende nach Hause fahren. Jetzt waren auch schon wieder fast vierzehn Tage vergangen, seit er Bella das letzte Mal gesehen hatte. Seit sie sich aneinander gekuschelt hatten und intim geworden waren. Leidenschaftlich und voller Trauer auf die bevorstehende Trennung. Martin geriet tatsächlich etwas ins Träumen.
„Atemmasken auf, ihr Lahmärsche! Bewegt euch, Vorwärt, marsch marsch!“, donnerte Feldwebel Grill in bester Sadistenmanier.
Die Gruppe taumelte durch den noch nachtschwarzen Wald, schlaftrunken und viel zu schwer beladen.
Martins Stahlhelm rutschte ihm ins Gesicht, irgendwo heulten ein paar jämmerliche Rekruten im Dunkeln. Die befehlsgewohnte Stimme des Feldwebels hallte zwischen den Bäumen.
Unwillkürlich musste Martin grinsen. Hätten sie sich wirklich im Krieg befunden, wäre jeder Gegner schon von Weitem gewarnt worden. Aber stattdessen würden sie Platzpatronen verschießend Gutes Land - Böses Land spielen, dann noch etliche Stunden durch Brombeerbüsche kriechen. Abends durften sie ihr Lager ausgraben, Zelte aufbauen, Feuer machen und anschließend totmüde in den Schlafsack plumpsen, während die Feldwebel und Unteroffiziere noch gemütlich am Lagerfeuer sitzen und die eine oder andere Büchse Bier köpfen würden. So wie es die letzen drei Tage vorher auch schon gewesen war. Scheiß Ausbildung!
„Geh nicht zum Bund. Geh nicht zum Bund...“, hörte er Bella im Geiste sagen und verdammt noch mal: Sie hatte Recht behalten!
„Stellung!“, brüllte der Feldwebel, als sie den Waldrand erreichten.
Martin und seine Kameraden warfen sich in das lange Gras, und muckten sich nicht mehr. Irgendwo schniefte noch eine einsame Triefnase, die aber schnell verstummte.
„Der Feind lauert direkt vor uns, verschanzt euch!“, donnerte Grills Stimme über der Truppe.
„Grabt euch ein, bis ihr Erde scheißt! Los, los! Hintern runter, Rekrut Fontäne!“
Uff! Martin zog den Klappspaten aus seinem Rucksack und begann mit dem viel zu kleinen Ding zu graben. Als die Grube tief genug war - und er schweißnass gebadet - legte er sich, Gewehr im Anschlag, hinein. Er spürte die Feuchtigkeit des Bodens durch seine Uniform dringen. Ob seine Ausbildung und diese Übung nie enden würde? Verdammter Schleifer! Wer hatte sich so etwas nur ausgedacht?
„Alarm!“, brüllte Feldwebel Grill. „Der Feind kommt über die Wiese. Feuer!“
*
Zwei Jahre später:
Martin befand sich auf dem Weg nach Hause. Es war sehr spät geworden. Oder früh. Je nachdem, wie man die Sache betrachtete.
Bella hatte jetzt tief geschlafen, und wollte Martin noch ein oder zwei Stunden Schlaf ergattern, bevor er in die neue Arbeitswoche starten musste - er hasste Montage -, dann wurde es Zeit, nach Hause zu kommen. In sein eigenes Bett. Schließlich verlangte sein Lehrmeister einen pünktlichen und ausgeschlafenen Lehrling. Wann entschloss sich Bella nur endlich, zu ihm zu ziehen...
Die Straße war verlassen und leer. Regennass glänzte die Fahrbahn im Scheinwerferlicht seines Kleinwagens. Hinter der nächsten Kurve stach ein Lichtstrahl in die Baumwipfel. Ein Auto lag im Graben, eines der Räder drehte sich noch.
Martin bremste, und hielt neben dem verunfallten Wagen. Nervös stieg er aus seinem Wagen und lief auf das andere Auto zu. Die Fahrertür ließ sich Gott sei Dank leicht öffnen. Sofort entdeckte er den Verletzten. Sein Kopf lag seitlich auf dem Lenker, aus einer Platzwunde drang dunkles Blut. Der Verunfallte regte sich nicht. Stöhnte nur leise.
Martin versuchte ihn aus dem Wagen zu ziehen, ohne daran zu denken, das ein Schwerverletzter nur vom Notarzt bewegt werden durfte. Aber der Rauch, der aus der Motorhaube drang, machte ihn nervös. Vielleicht entzündete sich der Wagen ja noch?
Der Kopf des Verletzten dreht sich ihm entgegen. Aber der Mann ließ sich nicht aus dem Wagen ziehen, seine Beine waren im gestauchten Fußraum eingeklemmt.
Jetzt erkannte Martin den Mann. Es war der Schleifer! Feldwebel Grill, das mieseste Schwein, das ihm jemals untergekommen war! Sollte die Drecksau hier doch verrecken! Er würde keinen Handschlag tun und dem Kerl helfen. Nie im Leben!
Martin stieg in sein Auto und fuhr los. Aber nach ein oder zwei Kilometern bekam er Gewissensbisse.
Konnte er den Verletzten einfach so seinem Schicksal überlassen? Vielleicht starb er ohne Hilfe ja sogar. Aber es war der Mann, den er auf der Welt am meisten gehasst hatte. Ein abartiges, menschenverachtendes Schwein. Er selber hätte ihn damals mit eigenen Händen erwürgen können. Nur war er jetzt verletzt. Wahrscheinlich sogar schwer.
Verunglückt – Drecksau – hilflos – Schleifer – bewusstlos...
Martin wendete den Wagen, zog sein Handy aus der Tasche und wählte den Notruf.