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Der Spiegel
Schon als Kind war ich öfters hier oben auf dem Dachboden, um mich vor der Welt zu verkriechen, wenn ich traurig war. Inzwischen bin ich zwar schon eine junge Frau, aber gerade jetzt fühle ich mich so klein und hilflos wie ein Kind. Seit bestimmt zehn Jahren bin ich schon nicht mehr hier oben gewesen, aber nichts hat sich verändert. Alle Sachen, die meisten gehörten meiner Großmutter, stehen immer noch auf dem selben Platz.
Ich gehe auf den alten goldumrahmten Spiegel zu, vor dem ich schon als Kind stundenlang gestanden habe und Zwiegespräche mit meinem Spiegelbild geführt habe. Der Spiegel ist völlig verstaubt und ich kann mein Spiegelbild nur schemenhaft erkennen. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass meine Mutter gestorben ist. Mir gehört das Haus jetzt ganz alleine, aber was soll man mit so einem Haus in dem kein Leben mehr ist, in dem die Stille einem die Luft zum Atmen raubt? Ich strecke die Hand aus, um das Spiegelbild zu berühren, das in meiner Phantasie die Gestalt meiner Mutter angenommen hat, aber da ist nichts. Ich greife durch den Spiegel ins Leere, vor Schreck verliere ich das Gleichgewicht und ich trete ins Leere. Ich falle durch den Spiegel und um mich herum wird alles schwarz.
Verdammt, wie konnte das nur passieren? Ich bin doch sonst auch nicht so unvorsichtig. Diesmal sitzen wir echt in der Tinte, ich kann mir nicht vorstellen, wie wir der königlichen Garde entkommen könnten. Oh Schreck, sieht Demian denn nicht, dass da ein Abhang kommt? „Paß` auf, Demian, der Abhang!“
Das nächste was ich merke ist, dass ich einen Abhang runterrutsche und mit Schwung in einem Gebüsch lande, dass mir das Gesicht und die Arme zerkratzt. Als ich mich fluchend aufrichte und hochschaue blicke ich in die ernsten Augen eines jungen Mannes. Er reißt mich auf die Füße. „Wo bin ich?“, frage ich ihn völlig verwirrt.
„Was soll das heißen, wo du bist? Wenn du nicht bald weiterläufst, sind wir erledigt! Die königliche Garde wird uns ins Jenseits befördern, wenn sie uns erwischen, auch wenn Du ihnen erzählst, Du könntest Dich an nichts erinnern!“ Was ist nur mit Demian los, er schaut mich an, als hätte er mich im Leben noch nicht gesehen. Das hat mir gerade noch gefehlt! Warum habe ich ihn bloß mitgenommen? Ich bin verantwortlich für ihn, wenn ihm etwas zustößt,würde ich mir das nie verzeihen.
Mir bleibt nichts anderes übrig als hinter dem Mann, dem ich im Geiste den Namen Henrik gegeben habe, her zu rennen. Ich weiß nicht, wohin oder warum, aber was bleibt mir sonst übrig? Egal, wer uns verfolgt, ich glaube nicht, dass es ihn interessiert, dass ich eigentlich nicht hierher gehöre und vor fünf Minuten noch im Haus meiner Eltern vor einem Spiegel gestanden habe. Ich glaube es ja selbst nicht. „Autsch!“ schon wieder so ein blöder Ast.
„Los nach rechts, Demian! Wir laufen sonst direkt auf die Schlucht zu!“
Was? Ich heiße Demian, das heißt ich bin ein Mann? Das glaube ich nicht, mein Geist kann doch nicht plötzlich in einer anderen Person sein, oder doch? Ich schaue an mir herunter und erkenne mit Schrecken, dass ich nicht mehr die zierliche Figur habe, auf die ich so stolz war, sondern ich mich in einem kräftigen Männerkörper befinde.
„Mist, wir sitzen in der Falle, links und rechts sind Männer der königlichen Garde! Noch zehn Meter und wir sind am Abgrund!“
Ohne Kampf werde ich mich nicht geschlagen geben, wenn ich schon sterben muss dann wenigstens ehrenvoll und nicht als Feigling!
„Was heißt hier Abgrund?“ Plötzlich stehe ich nur wenige Zentimeter von einer bestimmt 30 Meter tiefen Schlucht entfernt, ganz weit unten fließt ein breiter Fluss. Erst jetzt werde ich mir der Situation bewusst in der ich mich befinde. Zehn bis zu den Zähnen bewaffnete Krieger nähern sich uns im Halbkreis. Langsam steigt Panik in mir auf und ich habe das Gefühl, eine riesige Hand würde mir den Hals zudrücken und mir die Luft zum Atmen nehmen. Es gibt kein Entkommen!
„Los, zieh Dein Schwert, Demian, mit etwas Glück können wir es schaffen!“ Wenn´s nur so wäre, gegen diese Krieger haben wir keine Chance. Das war´s dann wohl! Aber warum zieht Demian sein Schwert nicht? Will er als Feigling sterben? Ich habe ihn noch nie so verunsichert gesehen. Sonst konnte man sich doch immer auf ihn verlassen. Ausgerechnet jetzt wo es um Leben oder Tod geht.
In meiner Panik greife ich nach dem linken Handgelenk von Henrik und klammer mich an ihm fest.
„Demian was tust Du? Wir müssen kämpfen! Lass meinen Arm los, oder wir werden sterben!“
Was soll ich nur tun? Ich will so nicht sterben!
Einer der Krieger kommt direkt auf Henrik zu und holt mit seinem Schwert aus um ihn zu töten. Ich mache vor Schreck einen Schritt zurück und ... da ist nichts mehr.. unter meinem Fuß ist nichts. Ich fange an mit den Armen zu rudern, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen.
„Neeiin!!“ So habe ich mir mein Ende nicht vorgestellt. Ich wollte als Held in einem Kampf sterben. Und jetzt ende ich zerschmettert am Grund eines Flusses.
Ich hätte nicht gedacht, dass man so lange fliegt, bis man unten ist. Komische Gedanken, die man so kurz vorm Tod hat.
Ooh, nein, was habe ich nur getan? Ich habe uns in den Abgrund gerissen! Ich hab´ doch noch so viel vorgehabt und jetzt? Der Abgrund rast immer schneller und schneller auf mich zu, ich halte immer noch krampfhaft das Handgelenk von Hendrik fest. Ich schließe kurz vor der Wasseroberfläche ganz fest die Augen und versuche mich zu zwingen aufzuwachen, denn das kann nicht wirklich passieren, ich werde nicht sterben. Ich fühle wie wir auf der Wasseroberfläche aufschlagen und es wird alles schwarz.
Ich schaue in den Spiegel und erkenne mein Spiegelbild, durch den vielen Staub zwar nur schemenhaft, aber eindeutig mein Spiegelbild, dass heißt ich lebe noch! Mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen, alles nur ein Traum. Wie kann ich im Stehen einschlafen und dann noch so einen Quatsch träumen?
Ich schaue noch mal in den Spiegel und sehe unscharf dass da noch eine Gestalt neben mir steht, und ich halte von jemandem das Handgelenk ...
„Wo bin ich?“, frage ich die hübsche junge Frau neben mir, die krampfhaft mein Handgelenk festhält. Sieht es so im Himmel aus?