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Der steinige Pfad

Day

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12.07.2004
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Der steinige Pfad

Der steinige Pfad​

Ich sitze im Fenster und sehe hinaus in die Welt, die gerade erwacht. Ich betrachte mir das vorbeiziehende Leben als Außenstehender, die Menschen, und meine Gedanken fliegen, wie die Schwalben da draußen, vor meinem Fenster.
Die Sonne scheint dort, scheint zu mir herein, strahlend und warm; der Himmel ist hellblau und wolkenlos. Ich höre Vögel zwitschernd den neuen Tag begrüßen; freudig steigen sie auf in das leuchtende blau des Morgens.
Doch wie eine neue Welt erwacht, so geht eine alte zugrunde, in einem ewigwährenden Kreislauf. Der Mond nimmt zu und wieder ab, die Flut kommt und macht bald darauf der Ebbe Platz, ein neuer Frühling wird geboren und stirbt für einen Winter; was lebt vergeht, schafft Platz für Neues; das Rad der Zeit dreht sich unaufhörlich, unhaltbar, unachtsam. Es kennt nicht Ruhe, noch Eile, keine Boshaftigkeit und keine Gnade, nicht Freund, nicht Feind: Vor dem Lauf der Dinge sind alle gleich.
Ich habe oft das Gefühl, dass das Leben nur aus Kampf besteht: Kampf, Freunde zu gewinnen und zu erhalten, Kampf mit Dingen, die man ungern tut und mit Dingen, die man am liebsten immer täte, Kampf mit der Alltäglichkeit und mit dem Besonderen, Kampf um das Materielle und das Immaterielle, Kampf um Liebe und Anerkennung, Kampf um die Hoffnung und darum, sie nicht zu verlieren, auf dem steinigen Pfad, der sich Leben nennt.
Wir wandern diesen Pfad entlang, in dem Vertrauen, an einen wundervollen Ort zu kommen, irgendwo, in der Nähe des Horizontes. Wir wandern stetig darauf zu, manchmal stolpernd, manchmal rennend, ab und an auch fallend. Wir verletzen uns auf diesem Pfad, schlagen uns die Knie und die Herzen blutig. Doch immer haben wir ein Ziel vor Augen: einen Ort, den wir manchmal Paradies nennen.
Dieser Ort verheißt uns Glück und Zufriedenheit, ein Ort, an dem wir unser müdes Haupt betten können; ein Ort, der Ruhe ausstrahlt, in dem wir einfach nur sein können, wie wir sind und wer wir sind.
Manchmal fühle ich mich einfach nur müde, der holprige Pfad fordert mir manchmal die letzten Kraftreserven ab. Doch was lebt, bewegt sich weiter, an ein Innehalten ist nicht zu denken. Wo nehme ich nur immer wieder die Kraft her, mich doch aufzuraffen und weiter zu wandern? Denn irgendwie gehe ich doch immer weiter, auch wenn ich denke, ich hätte aufgegeben und mich einfach auf irgendeinen Stein am Wegesrand gesetzt, von dem Wunsch beseelt, einfach nur dort zu sitzen, bis zum Ende meiner Zeit, bis zum Ende aller Zeit. So sind wir Menschen: für uns zählt nur die eigene Zeit: in kosmischen Maßstäben währt unser Leben Sekunden, ja nicht einmal so lange. Und doch sind diese Zeitspannen die einzigen, die uns gegeben sind.
Das merkwürdigste daran ist, dass jeder von uns das Paradies schon einmal erblickt hat, in irgendeiner Form. In den Augen oder Armen eines geliebten Menschen, beim Klang einer wunderschönen Melodie oder beim Anblick eines Sonnenaufganges, beim Trinken von eiskaltem Wasser nach einer Durststrecke, beim Anblick von Sonnenstrahlen, die in schrägem Winkel durch eine nebelverhangene Allee fallen, beim Geruch der Luft nach dem Regen.
Würde man weiterwandern, wenn man nicht wenigstens ab und zu auf diese Vorboten der Verheißung stieße? Andererseits: diese kleinen Paradiese lassen sich nicht halten, sie entgleiten einem, zerfließend wie eine Trugbild in der Wüste. Manchmal möchte man schon fast die Hoffnung aufgeben, noch einmal auf so ein Zeichen zu stoßen, oder gar das wirkliche Paradies zu schauen.
Ich erhebe mich aus meinem Fenster und sehe einfach noch eine Weile nach draußen, auf die Welt. Und plötzlich möchte ich ein Teil von ihr sein, ein Teil von Leben und Vergehen, ein Teil von Tag und Nacht, möchte einer von den Wanderern sein, die dem steinigen Pfad des Lebens folgen. Stillstand ist der Tod. Ich muss meinen Weg wählen, und wenn ich ihn gewählt habe, werde ich ihm folgen. Ich werde mich nicht umsehen, nur nach vorne schauen. Trotz Kampf, trotz Müdigkeit und Schmerz, trotz Hoffnungslosigkeit. Was zuletzt stirbt, ist die Hoffnung auf Frieden, denn ohne diese Hoffnung könnte ich nicht sein, könnte keiner von uns sein. Auch wenn wir sie ab und zu aus den Augen verlieren, sie ist immer da, geleitet uns auf jedem Stück unseres Weges. Sie ist das, was man seinen Schutzengel nennt.
Ich lächle meinen Schutzengel an und trete durch die Tür nach draußen, in das Sonnenlicht. Irgendwo dort draußen liegt ein Pfad, ein steiniger Pfad, der sich Leben nennt und an seinem Ende wartet das Paradies.

Für Stefan

 
Zuletzt bearbeitet:

Jeder, das "Für Stefan" ist lediglich eine Widmung

Ich wäre sogar dankbar für einen Kommentar ;)

Und Stefan ist jemand, der mir sehr am Herzen liegt und dem ich hoffe, mit dieser Geschichte ein wenig beistehen zu können.

Gruß, Day

 

Okay, gerade durchgelesen...

Tja, wo soll ich anfangen? Spontan würde ich den Text in die Gattung "christliche Erbauungsliteratur" einordnen. Gerade die Idee eines Paradieses mit ihrem ganzen ideologischen Überbau, wie dem Lohn nach einem beschwerlichen Leben usw., hat das spezifisch christliche einst ja so bemerkenswert erfolgreich gemacht. Hier wird diese Hoffnung auf ein paradiesisches Jenseits nun ausführlich bald auf einer Subjekt-, bald auf einer Objektebene nachgezeichnet, wobei der Fokus natürlich auf gegenwärtige und damit weltliche Verhältnisse ausgerichtet ist (die für die beabsichtigte Darstellung zweckdienlicherweise natürlich gerade nicht besonders paradiesisch geschildert werden).

Die Darstellung (von Erzählung oder Geschichte kann ja leider keine Rede sein) bleibt mir persönlicher in vieler Hinsicht fremd und unnahbar. Das hat vor allem folgende Gründe:

  • Die fehlende Charakterisierung: "Ich" bleibt von Anfang bis Ende unpersönlich und anonym, ja ich kann noch nicht einmal das Geschlecht dieses geheimnisvollen "Ich" in Erfahrung bringen.
  • Das hohe Abstraktionsniveau: Die Setzung eines quasi idealtypischen "Ichs" ist nur die erste Stufe hin zu einer immer unkonkreter und damit zunehmend vermeintlich allgemeiner werdenden Darstellungsweise. Das wird besonders im fünften Absatz deutlich: Unvermittelt wechselt der Erzähler von der ersten zur dritten Person. Da zuvor keine weitere Person innerhalb der Darstellung eingeführt wurde, kommt dieses plötzliche "Wir"-Manöver einer Art Vereinnahmung des Lesers bzw. mir gegenüber gleich. Nicht nur "Ich" soll diesen programmatischen "Pfad" in sein persönliches Leben einbetten, nein, auch jeder andere soll das anscheinend tun! Auch weltfremde, dh. esoterische Begrifflichkeiten wie jener, nicht näher beschriebene "Schutzengel" am Ende führen zu über Gebot vollzogener Abstraktion. Dasselbe gilt für die Normen wie "Hoffnung", "Frieden" usf. Sie werden einfach in die Darstellung gesetzt, mit der Voraussetzung, dass der Leser schon wissen wird, was damit gemeint sein soll. Damit macht der Erzähler es sich aber meiner Ansicht nach zu einfach bzw. hebt damit in (christozentrisch-) elitäre Sphären ab.
  • Die Vorwegnahme persönlicher Einsichten: Die Darstellung lässt mir keinen Raum mehr, eigene Erfahrungen und Weltanschauungen einzubringen. Teilweise beansprucht sie sogar Absolutheitsanspruch (jenes "Wir wandern diesen Pfad entlang..." zB., ein Motiv, das mich eher an Maos "Goldenen Pfad" zur Kulturrevolution oder, wie schon erwähnt, an eine spezifisch christliche Lebensanschauung erinnert als an irgendeinen vermeintlichen "Pfad" in meinem persönlichen Leben).

Rein stilistisch kann ich an dem Text jedoch kaum etwas aussetzen. Es werden anschauliche Bilder geliefert, die ansatzweise sogar poetischen Charakter haben. Vielmehr als dieses Sortiment zusammengestellter Bilder bleibt am Ende jedoch nicht übrig. Dafür schwebt der Text einfach zu sehr auf irgendeiner Wolke phantasievoller Inspirationen. Aufgrund der kaum vorhandenen Identifikationsmöglichkeiten und Verallgemeinerungen werde ich den Text sicher auch schnell wieder vergessen.

 

Hallo..
Ich habe soeben deine Geschichte gelesen. Mir gefällt sie. Ich möchte sie eigentlich auch gerade so stehen lassen und meinen Kommentar ohne Kritik abgeben.
Vom Gefühl her ist es so, wie wenn dich jemand umarmen würde, dich tröstet und dir Hoffnung schenkt. Wirklich schön! Hat mir echt gefallen

 

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