Der steinige Pfad
Ich sitze im Fenster und sehe hinaus in die Welt, die gerade erwacht. Ich betrachte mir das vorbeiziehende Leben als Außenstehender, die Menschen, und meine Gedanken fliegen, wie die Schwalben da draußen, vor meinem Fenster.
Die Sonne scheint dort, scheint zu mir herein, strahlend und warm; der Himmel ist hellblau und wolkenlos. Ich höre Vögel zwitschernd den neuen Tag begrüßen; freudig steigen sie auf in das leuchtende blau des Morgens.
Doch wie eine neue Welt erwacht, so geht eine alte zugrunde, in einem ewigwährenden Kreislauf. Der Mond nimmt zu und wieder ab, die Flut kommt und macht bald darauf der Ebbe Platz, ein neuer Frühling wird geboren und stirbt für einen Winter; was lebt vergeht, schafft Platz für Neues; das Rad der Zeit dreht sich unaufhörlich, unhaltbar, unachtsam. Es kennt nicht Ruhe, noch Eile, keine Boshaftigkeit und keine Gnade, nicht Freund, nicht Feind: Vor dem Lauf der Dinge sind alle gleich.
Ich habe oft das Gefühl, dass das Leben nur aus Kampf besteht: Kampf, Freunde zu gewinnen und zu erhalten, Kampf mit Dingen, die man ungern tut und mit Dingen, die man am liebsten immer täte, Kampf mit der Alltäglichkeit und mit dem Besonderen, Kampf um das Materielle und das Immaterielle, Kampf um Liebe und Anerkennung, Kampf um die Hoffnung und darum, sie nicht zu verlieren, auf dem steinigen Pfad, der sich Leben nennt.
Wir wandern diesen Pfad entlang, in dem Vertrauen, an einen wundervollen Ort zu kommen, irgendwo, in der Nähe des Horizontes. Wir wandern stetig darauf zu, manchmal stolpernd, manchmal rennend, ab und an auch fallend. Wir verletzen uns auf diesem Pfad, schlagen uns die Knie und die Herzen blutig. Doch immer haben wir ein Ziel vor Augen: einen Ort, den wir manchmal Paradies nennen.
Dieser Ort verheißt uns Glück und Zufriedenheit, ein Ort, an dem wir unser müdes Haupt betten können; ein Ort, der Ruhe ausstrahlt, in dem wir einfach nur sein können, wie wir sind und wer wir sind.
Manchmal fühle ich mich einfach nur müde, der holprige Pfad fordert mir manchmal die letzten Kraftreserven ab. Doch was lebt, bewegt sich weiter, an ein Innehalten ist nicht zu denken. Wo nehme ich nur immer wieder die Kraft her, mich doch aufzuraffen und weiter zu wandern? Denn irgendwie gehe ich doch immer weiter, auch wenn ich denke, ich hätte aufgegeben und mich einfach auf irgendeinen Stein am Wegesrand gesetzt, von dem Wunsch beseelt, einfach nur dort zu sitzen, bis zum Ende meiner Zeit, bis zum Ende aller Zeit. So sind wir Menschen: für uns zählt nur die eigene Zeit: in kosmischen Maßstäben währt unser Leben Sekunden, ja nicht einmal so lange. Und doch sind diese Zeitspannen die einzigen, die uns gegeben sind.
Das merkwürdigste daran ist, dass jeder von uns das Paradies schon einmal erblickt hat, in irgendeiner Form. In den Augen oder Armen eines geliebten Menschen, beim Klang einer wunderschönen Melodie oder beim Anblick eines Sonnenaufganges, beim Trinken von eiskaltem Wasser nach einer Durststrecke, beim Anblick von Sonnenstrahlen, die in schrägem Winkel durch eine nebelverhangene Allee fallen, beim Geruch der Luft nach dem Regen.
Würde man weiterwandern, wenn man nicht wenigstens ab und zu auf diese Vorboten der Verheißung stieße? Andererseits: diese kleinen Paradiese lassen sich nicht halten, sie entgleiten einem, zerfließend wie eine Trugbild in der Wüste. Manchmal möchte man schon fast die Hoffnung aufgeben, noch einmal auf so ein Zeichen zu stoßen, oder gar das wirkliche Paradies zu schauen.
Ich erhebe mich aus meinem Fenster und sehe einfach noch eine Weile nach draußen, auf die Welt. Und plötzlich möchte ich ein Teil von ihr sein, ein Teil von Leben und Vergehen, ein Teil von Tag und Nacht, möchte einer von den Wanderern sein, die dem steinigen Pfad des Lebens folgen. Stillstand ist der Tod. Ich muss meinen Weg wählen, und wenn ich ihn gewählt habe, werde ich ihm folgen. Ich werde mich nicht umsehen, nur nach vorne schauen. Trotz Kampf, trotz Müdigkeit und Schmerz, trotz Hoffnungslosigkeit. Was zuletzt stirbt, ist die Hoffnung auf Frieden, denn ohne diese Hoffnung könnte ich nicht sein, könnte keiner von uns sein. Auch wenn wir sie ab und zu aus den Augen verlieren, sie ist immer da, geleitet uns auf jedem Stück unseres Weges. Sie ist das, was man seinen Schutzengel nennt.
Ich lächle meinen Schutzengel an und trete durch die Tür nach draußen, in das Sonnenlicht. Irgendwo dort draußen liegt ein Pfad, ein steiniger Pfad, der sich Leben nennt und an seinem Ende wartet das Paradies.