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Der Tod der Stadt
Er gießt sich einen Kaffee ein, zwei Milch, zwei Zucker, so trinkt er ihn schon immer. Der tastende Griff in die obere Schreibtischschublade ist vergebens, sein Aspirin hatte er am Montag aufgebraucht. Er sollte später daran denken, in der Apotheke vorbei zu gehen. Seit wann musste er solche Dinge eigentlich selber machen? Offenbar seitdem er nicht mehr in der Lage war, Anweisungen zu erteilen. So weit war es mittlerweile schon gekommen.
Der Duft des frisch gebrühten starken Kaffees steigt ihm in die immer noch verschnupfte Nase und erdet ihn ein wenig. Seine pochenden Kopfschmerzen lindert diese Droge allerdings nicht. Er schleppt die Grippe nun schon seit Wochen mit sich herum. Er hat ganz einfach nicht die Zeit, sie vollends auszukurieren. Woher sollte er sie auch nehmen, die Zeit. Da helfen selbst die allnächtlichen Erkältungstees, die Ruth ihm kocht, nicht. Es tut ihm dennoch jedes Mal gut, für einen kurzen Moment immerhin. Ein kleiner Ausflug in die Welt, als sie noch vollkommen war und das Leben einfach. Viel mehr konnte er wohl auch nicht erwarten.
Er nimmt umständlich die schon seit zwanzig Jahren unmodische Brille von seinem Kopf, auf dem die ergrauten Haare immer weniger werden. Sein Blick geht aus dem großen Fenster seines Büros auf die Stadt, die im Nebel liegt, dicht und feucht, und kaum zu erkennen ist in ihren sonst so kantigen Umrissen. Dieses Fenster diente ihm früher stets als riesiges Auge – als Auge, das ihn die wesentlichen Dinge erkennen ließ, ihn den Menschen dort unten näher brachte und regelmäßig in die Realität zurückholte. Selbst dieser Trick funktioniert schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Er lässt seinen Blick schweifen, über den belebten Marktplatz, den schmalen Kirchturm der nach dem Krieg mühsam wieder aufgebauten Lutherkirche, das überdimensionierte und protzige gläserne Bankgebäude, die überfüllte Fußgängerzone, ohne dass seine Augen irgendwo Halt finden. Die ersten Arbeiter beginnen gemächlich, die opulente Weihnachtsbeleuchtung an den Geschäften zu installieren. All das gehört zu ihm, schon immer, sowie er zu ihr gehört, seiner Stadt. Er stellt fest, dass dieser Moment des Innehaltens der erste Augenblick in dieser Woche ist, für den es sich gelohnt hat, sie zu beginnen. Es ist Donnerstagnachmittag, 16:03 Uhr.
Auch ein unaufmerksamer Beobachter würde bemerken, dass er erschöpft aussieht. Die Augenringe rot und tiefer als sie jemals gewesen sind, die Krawatte nicht zum Hemd passend und nur nachlässig gebunden, die Brille lediglich oberflächlich gesäubert, der Rücken gekrümmt wie noch nie, wie er so am Fenster lehnt. Glücklicherweise ist er allein. Irgendjemand hatte es an diesem Tag offenbar auch geschafft, aufdringliche Fotografen und Journalisten von ihm fern zu halten. Er hat nicht die geringste Ahnung, wem er dafür dankbar zu sein hat. Es interessiert ihn auch nicht.
Er fährt erschrocken zusammen, als durch die Gegensprechanlage die durchdringende Stimme der Frau dröhnt, die ihm früher immer sein Aspirin besorgt hat.
„Herr Oberbürgermeister, der Finanzdezernent für Sie am Telefon.“
Der Angesprochene reibt sich die zerfurchte Stirn und löst sich nur widerwillig von der haltgebenden Wand. Er entgegnet kraftlos: „Jetzt nicht, Frau Michels.“
„Aber Herr Oberbürgermeister – es geht sicherlich um die Etatberatung morgen. Es ist wichtig, dass Sie sich vor der Fraktionssitzung nachher noch mal mit Herrn Dr. Duck abstimmen.“
Die Fraktionssitzung, die er den ganzen Tag verdrängt hatte. Ein Treffen von Heuchlern, die ihn alle schon lange nicht mehr ernst nahmen.
„Frau Michels – jetzt nicht, bitte“, sagt er fast schon entschuldigend. „Nicht den Finanzdezernenten und auch sonst niemanden.“
Auch diese Frau hatte sich daran gewöhnt, dass von ihm keine Befehle mehr zu erwarten waren und ist dazu übergegangen, ihm zu sagen, was zu tun ist. Er kann es ihr nicht verdenken. Und Herr Dr. Duck führte sich schon seit Monaten auf, als ob er diese Stadt regieren würde. Er selbst hatte es zugelassen, wahrscheinlich sogar herausgefordert.
Er lässt sich in den sorgfältig an seine Rückenmuskulatur angepassten Stuhl fallen und sackt langsam in sich zusammen. Wann hatte er zum letzten Mal eine Nacht durchgeschlafen, ohne dass sein rastloser Geist versucht hatte, die Probleme zu lösen, die er bei Tageslicht nie entwirren konnte? Ob Ruth sich wohl schämt für ihren Mann? Er würde auch heute Nacht nicht den Mut haben, sie zu fragen.
Wo war der rote Faden? Er kann sich nur noch dunkel erinnern, dass es ihn jemals gegeben hat. Und wann hat überhaupt das letzte Mal jemand nach ihm gefragt, von ihm verlangt, dass er ihn aufzeigt? Keine der Parteien mehr, seit Wochen nicht, in keinem Antrag im Gemeinderat, keiner Anfrage. Selbst die ewigen Kritiker hatten es mittlerweile aufgegeben, in Opposition zu gehen. Hauptsache, das Geld wurde eingespart. Egal wie. Das sollte seine Sorge sein, damit wollten sie sich die Hände nicht schmutzig machen, keiner von ihnen. Später würden sie behaupten, sie hätten es nie gewollt. Spätestens vor den Kommunalwahlen im Sommer.
Geld. Geld war das Kriterium, nach dem er gezwungen war, die Entscheidungen zu treffen, seitdem es immer schlimmer wurde. Von wegen Entscheidungen treffen: blindes Reagieren, nichts anderes. Neunzig Millionen Euro Haushaltsdefizit. Die aktuelle Steuerschätzung. Das Regierungspräsidium gleichzeitig im Nacken und vor Augen. Die Baugenehmigung für die neue Arena schon erteilt, die nächsten Millionen rannen ihm somit bereits durch die Finger, ohne die geringste Chance, das Rad noch anhalten zu können. Diese Tatsachen schwebten seit dem Frühjahr über seiner Stadt und machten ihm jedes Steuern dieses Schiffes, das er so sehr liebte, unmöglich. Seine Stadt. Er hatte seinen Vater bei ihrem Wiederaufbau beobachtet, sie selbst durch die unruhigen Jahre euphorisch begleitet und durch die guten sicher geführt. Und nun sieht er sie untergehen und ist zum ersten Mal nicht in der Lage, sie zu retten, ihr den Weg zu weisen.
Vor ihm auf dem Schreibtisch liegt ein Ausschnitt der aktuellen Tagespresse, die Frau Michels ihm allmorgendlich zurechtlegt und von der sie erwartet, dass er sie liest. Schlagzeilen über Schlagzeilen, alle mit demselben Inhalt: Geld. Geld, das nicht mehr da ist. Geld, das nicht mehr da ist, das hinten und vorne fehlt und zu Personaleinsparungen, Schließungen von Einrichtungen, gekürzten Zuschüssen führt. Er kann nur ohnmächtig zusehen, wie alles zerstört wird, er seine Mitarbeiter, für die er stets gekämpft hat wie ein Löwe, in die Arbeitslosigkeit entlassen muss, die Stadt zerfällt. Er, ausgerechnet er, ein Sozialdemokrat wie er im Buche steht, muss sich nach all den Jahren des Abbaus sozialer Leistungen bedienen, sich an den Menschen seiner Stadt schuldig machen. Würde all das jemals enden? Hatte er überhaupt eine Chance, das alles zu beenden?
Es kostet ihn Überwindung, sich die Brille wieder aufzusetzen, um doch noch einen Blick in die Tageszeitungen zu werfen. Wenigstens hier, wenigstens in der Presse die vorsichtige Frage nach einem Konzept. Aber wer sollte dies vorlegen?
„Wir können nur hoffen, dass die morgige Etatrede von Oberbürgermeister Rehrig uns endlich einen Weg aus der unerträglichen Misere dieser Stadt aufzeigen und eine Perspektive jenseits der bisher praktizierten Einsparungen nach dem Rasenmäherprinzip bieten wird“, liest er. Er? Sein leises und verzweifeltes Lachen geht über in einen lange anhaltenden Hustenkrampf.
Er dreht seinen Stuhl in Richtung Fenster und sieht für einige Minuten durch die Glasfront auf seine Stadt. Es ist immer noch trübe. Menschen sind von hier oben daher heute nicht zu erkennen, was ein Segen ist. Er könnte ihnen nicht einmal mehr guten Gewissens auf den Kopf sehen. Gegenüber von seinem Büro flattert das Transparent „Rettet die Städte jetzt“ unruhig im Wind. Unruhig und auffordernd. Er hat es bis heute nie wahrgenommen, hing es dort auch bereits seit Tagen. Rettet die Städte jetzt. Kam dieser Hilferuf bereits zu spät? War zumindest seine Stadt nicht längst verloren und er mit ihr?
Minuten später stellt er die leere Kaffeetasse schwungvoll ab und wundert sich selbst darüber, dass er soeben eine Entscheidung getroffen hat. Er durchschreitet sein Büro mit zwanzig großen Schritten und öffnet die schwere Tür zum Vorzimmer energisch. Die ungewohnte Dynamik lässt Frau Michels zusammenfahren. Hektisch streicht sie sich die Haare aus dem Gesicht.
„Frau Michels – rufen Sie Herrn Dr. Duck an. Er soll in zehn Minuten in mein Büro kommen. Und dann verbinden Sie mich bitte mit diesem Menschen von der Baufirma der Arena, Herrn Monet. Anschließend machen Sie Feierabend.“
Frau Michels schaut mit hochgezogenen Augenbrauen skeptisch auf die große Wanduhr in Form des Stadtwappens. 16:22 Uhr.
„Machen Sie sich einen schönen Abend“, entgegnet er ungeduldig, als er ihren irritierten Blick zur Uhr wahrnimmt. „Und sehen Sie zu, dass Sie weg sind, bevor Herr Dr. Duck hier auftaucht. Wir wollen doch vermeiden, dass er auch ihnen noch den Tag verdirbt.“
Entschlossen dreht er sich um und geht zurück in sein Büro, so dass er nicht mehr sieht, wie Frau Michels ihm fragend nachschaut und ungläubig den Kopf schüttelt. Seit wann gab es Probleme mit Herrn Dr. Duck? Und wann hatte sie das letzte Mal solch eine eindeutige Direktive von ihm erhalten? Sie weiß es nicht. Sie tätigt den Anruf, stellt die gewünschte Verbindung her und verlässt das Rathaus.
Während der üblichen Begrüßungsfloskeln mit Herrn Monet läuft er unruhig mit dem Telefon zum Fenster. Er öffnet das größte von ihnen, das gestern erst von einem Fensterputzer gereinigt wurde. Eine klare Sicht gibt es immer noch nicht. Nun würde er dafür sorgen. Die kühle Novemberluft, die ungefragt hereindringt, erfrischt ihn und durchwirbelt die Etatrede auf seinem Schreibtisch. Der Nebel hatte seine Ziele, seine Stadt, den Sinn der letzten Jahre längst verschwimmen lassen. Hatte er sich in den letzten Monaten überhaupt jemals gelichtet? Es ist schon lange nichts mehr übrig von den ursprünglichen Konturen, dem Profil dieser Stadt und ihres Oberbürgermeisters. Wie hatte er dies nur zulassen können? Trüber Dunst, milchiger Einheitsbrei, unerträglich nichts sagend. Ärgerlich steigert er die Lautstärke seiner Stimme.
„Doch, Herr Monet, Sie haben mich richtig verstanden… Ja, darüber bin ich mir durchaus im Klaren. Lassen Sie den Gemeinderat mal meine Sorge sein.“ Er hatte beinahe vergessen, wie viel Freude es machen konnte, Entscheidungen zu treffen. Er war noch lange nicht bereit, mit ihr unterzugehen. Beschwingt streicht er mit seiner Hand den Staub vom Fenstersims.
Er füllt seine Lungen mit frischer Luft und durchdringt den Nebel, der so lange seine Gedanken verschleiert hat, endlich. Herr Dr. Duck, der wenige Augenblicke später das Büro erreicht, erschaudert aufgrund der dort vorherrschenden Kühle und bleibt für einen Moment irritiert an der Türschwelle stehen. Langsam breitet sich ein zufriedenes Grinsen über das Gesicht des Oberbürgermeisters aus, als er ihn schließlich hineinkommen sieht. Er beendet das Telefonat, dessen letzte Worte dem Finanzdezernenten den Schrecken in die Augen getrieben haben. „Herr Dr. Duck – schön, dass Sie da sind. Gehen wir in die Fraktionssitzung?“ Im Vorübergehen greift er nach der Etatrede auf seinem Schreibtisch und lässt sie in den Papierkorb fallen. Dies würde eine lange Nacht werden.