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Der Tod und der junge Mann

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18.06.2001
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Der Tod und der junge Mann

Der Tod und der junge Mann

Er kam zu mir wie einst Orpheus, mir dem kleinen Unterschied, dass er nicht mit einer Laute, sondern mit einem Stift Einlass begehrte. Meinetwegen. Wer den Weg zu mir findet – wohlgemerkt: wer zu mir findet und nicht wen ich aufsuchen muss – hat die Chance verdient für Belustigung zu sorgen.
Ich fragte nicht, nach wem er suchte. Einerseits weil das einerlei war, andererseits weil ich es schon wusste. Jede seiner Bewegungen offenbarte es, schrie es geradezu in die Stille meines Reiches. Er trug noch die Spuren des goldenen Puders an sich, der mittlerweile korrodiert war und mit jedem Schritt knisternd zu Boden schwebte. Ich hatte Engel gesehen, die es ähnlich handhabten.
Er war vor mich hingetreten, in die Stille hinein und hatte mich einfach nur angeblickt. Eine ganze Weile in der Weilelosigkeit. Ganz so als wolle er damit sagen: „So, das wäre geschafft, wir zwei verstehen uns."
Ja, ich verstand ihn, aber er verstand mich nicht. Ich empfinde nicht. Ich verzeihe nicht. Weil es nichts zu verzeihen gibt. Es gäbe höchstens etwas zu vergessen, aber vergessen darf ich nicht.
So stand er da und machte die Regeln des Spieles mit sich selber aus, wie er das schon immer gemacht hatte und alles was ich noch zu tun hatte war zu nicken und die immerverschlossenen Türen für ihn zu öffnen. Er schlüpfte hindurch als hätte er nie etwas anderes gemacht.
Ich muss zugeben er spielte sein Schauspiel gut. Es war schon eine ganze Weile in der Weilelosigkeit her, dass das Bühnenbild mich milde gestimmt hatte.
Dante sah ich, ein wenig von P. J. Farmer und natürlich, natürlich Milton’s Illustrator.
Es überraschte mich die Musik. Unpassend möchte man sagen. Unpassend in ihrer Farbigkeit. Unpassend in ihrer Uneinheitlichkeit. Und doch… wie geschaffen für eine endlose Suche. Jahrhunderte verstrichen in der Zeitlosigkeit. Jahrhunderte und tausend Seiten, die er mit den Schritten seiner Füße schrieb, die er mit seinen Wimpern aus der Luft meißelte.
Es gab keinen Weg für ihn. Es gab keine Möglichkeit, dass er jemals zu einem Ende gelangen würde. Nie konnte er finden, was er suchte, denn so war es nun mal, so waren die unbrechbaren Regeln.
Hätte er einen Plan gehabt, der scheitern konnte, dann hätte ich ihn vielleicht zurückgeführt an die Tore, die nur von einer Seite her durchschritten werden können, aber so war es nicht zu leugnen, dass er es darauf anlegte für immer die nimmermüden Pfade zu beschreiten.
Ich kannte ihn, bevor er zu mir kam nicht, so wie ich niemanden kenne, bevor er nicht zu mir kommt. Ich kenne die Gedanken derer, die ihm vorausgingen, ich kenne ihn, wie sie ihn kannten, aber ich kenne ihn selbst nicht. Und nun, da er in meinem Reich war kannte ich ihn auch nicht. Seltsam. Alles in ihm sprach davon, dass er zu diesem Ort gehörte und das alles was davor gewesen war nur Makulatur.
Kriege beanspruchten meine Aufmerksamkeit; und Epidemien. Meine unteilbare Aufmerksamkeit wankte für einen Moment in der Zeitlosigkeit und ich verlor ihn aus den Augen, wie man das Jetzt aus den Augen verliert. Nicht dass es eine Bedeutung gehabt hätte, denn das Beobachtete kommt ohne den Beobachter aus.
Vielleicht hatte er es sogar so geplant, vielleicht auch nicht, einerlei, er hatte keine Chance das zu erreichen, was er verfolgte. Keine Chance.
So war es schon in der anderen Welt gewesen, als er sich treiben hatte lassen und als das noch in seiner Reichweite lag, was er nun so vergeblich erstrebte.

Sie war zu mir gekommen. Ob früher oder später spielt keine Rolle, da hier in meinem Reich die Suche beginnen kann, bevor der Verlust auftritt. Ebenso wenig spielt eine Rolle, ob ich sie rief, oder ob sie freiwillig herabeilte, denn wer einmal aus eigenem Willen den Versuch unternimmt, für den sind alle anderen Wege verschlossen. Ich mochte sie. So wie ich ihn mochte. So wie ich alle Menschen mag.
Und gemeinsam begannen sie ihr berührungsloses Spiel. Sie schrieben in den Himmel, meißelten mit stumpf gewordenen Lippen Worte in den Duft des Bodens und webten die Muster des Verstehens. Ich konnte sie sehen, doch noch nicht einmal sie selber waren dazu in der Lage das selbe zu tun, geschweige denn der jeweils andere.
Allein von ihrem irdischen Dasein befreit waren sie nicht bereit der Erschöpfung Raum zu geben. Oder dem Schlaf. Oder der Verzögerung. In gewisser Weise wurden sie zu einem Ärgernis in der Bedeutungslosigkeit und ich beging einen Fehler. Anstatt den Blick von ihnen abzuwenden, löschte ich ihre unsichtbaren Spuren aus und tilgte alle Erinnerung daran.
Wie oft ich diesen Fehler begangen habe weiß ich nicht, denn der einzige Weg das Auslöschen zu bewerkstelligen ist es die unsichtbaren Muster und die unsichtbaren Worte zurück in die Welt der Lebenden zu schleudern. Und da sind sie nun. Und da liest du sie nun, Lebender, der bald zu mir kommen wird.

 

Hallo Sebastian!

Erstmal großes Lob, mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen.
Auch wenn ich sie zwei- dreimal lesen musste, bin ich sie ansatzweise verstanden habe.
Erstmal zum Stil:
Da habe ich keine Kritikpunkte. Der Text liest sich einfach nur fließend und du hast sehr schöne Metaphern eingebracht.
Jetzt zum Inhalt:
Ich schildere einfach mal mein Verständnis der Geschichte und wenn ich etwas missverstanden haben sollte, korregier mich bitte.
Die Geschichte wird erzählt in der Ich-Form aus der Perspektive des personifizierten Todes: Ein Junge nimmt sich
(mit einem Stift? Wie macht er das?)
das Leben. Er scheint etwas Besonderes zu sein.
(nur aufgrund des Selbstmords oder ist er vielleicht Dramaturg oder ähnliches und "amüsiert" den Tod? Vielleicht daher die Anspielungen auf den Stift, die Musik und die Schauspielerei?)
Der Tod beobachtet ihn. Der Junge ist auf der Suche nach etwas, das er verdammt ist nie zu finden.
(die Frau, die am Ende auftaucht oder vielleicht eine Erkenntnis? eine Inspiration?).
Die groben Umrisse sind leicht zu verstehen, aber es ist schwierig einzelne Andeutungen von dir richtig einzuordnen (s.o.)- vorausgesetzt du hast etwas mit diesen Andeutungen beabsichtigt, wovon ich ausgehe.
Zu der Hauptaussage:
So wie ich deine Geschichte verstanden habe, liefern die letzten beiden Sätze den Sinn deines Textes. Da heißt es, alles hier Erzählte geschehe wirklich und die Tatsache, dass man es lesen kann beruhe auf der "Auslöschung" von "Spuren" im Jenseits durch den Tod. Daraus ließe sich deuten, dass alle Geschichten über den Tod, die wir kennen, auf wahren Begebenheiten beruhen und nur aufgrund eines "Fehlers" seitens des Todes zu uns durchdringen konnten. Super Idee! :-)
Eine Frage hätte ich noch: wieso löscht er ihre Spuren? Dass es ein Fehler ist, kann ich verstehen, aber wieso löscht er sie überhaupt? Davon ausgehend, dass der junge Mann auf der Suche nach der jungen Frau ist: Damit sich die beiden nicht finden können?

Jetzt bin ich mal gespannt auf deine Antwort und darauf wie sehr meine Deutung wohl von deiner eigentlichen Aussageabsicht abweicht ;-)

lg, Babelfish

 

Die Geschichte spielt auf mehrere Geschichten an, die Josephine Wallenberger und ich hier vor ziemlich langer Zeit geschrieben hatten. Wenn sie noch zu finden sind, dann unter "Goldpuder" oder "goldener Puder". Daher auch die Affinität zum Theater.

Auch als Autor hat man finde ich keinen Unfehlbarkeitsanspruch in Bezug auf die eigene Geschichte, aber ich will versuchen, meine Deutung, bzw. meine Vorüberlegungen klar zu machen, ohne darauf zu bestehen.

Es gibt tatsächlich Leute, die sich mit Stiften umgebracht haben. Wie, muss ich hier nicht ausbreiten, dafür gibt es andere Seiten...

Das Beispiel von Orpheus ist Absicht. Orpheus liebte und auch der junge Mann liebt. Ob die Frau, oder Inspiration, Erkenntnis, die Kunst an sich lasse ich offen.

Der Tod ist nicht so ganz souverän, wie er das gerne hätte. Er macht Fehler - wie er selber zugibt - und er schätzt sich falsch ein.
So hat er eben doch Empfindungen. Belustigung ist ihm bekannt, Neugier und Wut.
Wahrscheinlich auch Zweifel und genau das könnte der Grund für das Auslöschen der Spuren sein. Ist sich der Tod noch sicher, dass seine Regeln ohne sein Zutun perfekt funktionieren? Ist es am Ende gar möglich, dass die Menschen ihn übers Ohr hauen?

Zuletzt habe ich das Thema Selbstmord und verpasste Chancen anklingen lassen. Der junge Mann hat sich getötet, die Frau hat es zumindest einmal versucht. Der Tod macht da keinen Unterschied. Und nun versuchen beide Menschen im Tod das zu verwirklichen, was sie im Leben nicht erreichen konnten. Sie tun das mit unendlicher Ausdauer, aber dafür auch gegen einen unbesiegbaren (?) Gegner.

 

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