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Der Untermieter
Roland fühlte sich leer.
Er saß auf einem Küchenstuhl und betrachtete mit müden Augen die rote Pfütze vor seinen Füßen. Zwei Nächte hatte er nicht geschlafen, aber das würde er bald nachholen.
Anfangs war es noch ein kleiner Rinnsaal gewesen, aber mittlerweile fiel nur noch gelegentlich ein dicker Tropfen von der Decke.
Roland fragte sich, wessen das Blut das wohl sei.
Draußen ertönte erneut das Heulen eines Megafons.
„Herr Nüsch, hier spricht die Polizei. Legen Sie die Waffe nieder und kommen Sie raus.“
Vielleicht hätte er die Polizei viel früher rufen sollen. Oder den Hausmeister um Hilfe bitten. Dann würde die alte Frau Adams wahrscheinlich noch leben.
Das Jagdgewehr ruhte schwer auf seinen Knien.
Schade, dass ich keine Kugeln mehr habe, dachte Roland.
Der Polizist mit dem Megafon wiederholte seine Aufforderung. Nach einem Augenblick hob Roland den Kopf und sah aus dem Fenster.
Die Polizei hatte alles abgesperrt, nur auf der gegenüberliegenden Straßenseite konnte er viele seiner Nachbarn sehen, die seine letzten Minuten von ihren Balkonen aus verfolgten.
Roland lächelte traurig. So viel Aufmerksamkeit. Er verbeugte sich leicht und flüsterte: „Danke, danke, das ist wirklich eine große Ehre für mich.“ Wie bei einer Preisverleihung.
Das Lächeln verschwand genauso schnell, wie es gekommen war. Frau Adams tat ihm Leid. Sie hatte schon vor einer Viertelstunde aufgehört zu schreien. Wie viel Kraft und Energie in dieser alten Dame noch gesteckt hatte.
Jetzt war sie tot.
Jemand klopfte an der Tür.
„Herr Nüsch, meine Name ist Meier vom SEK.“
Kurze Pause.
„Ich komme jetzt zu Ihnen rein. Ich möchte Ihnen helfen.“
Langsam schwang die Tür auf. Den linken Arm besänftigend gehoben, kam ein junger Mann mit langsamen, bedächtigen Schritten auf ihn zu. Äußerlich schien er entspannt, doch Roland war nicht entgangen, dass seine rechte Hand auf dem schwarzen Lederholster ruhte. Er trug eine dunkelblaue Kevlarweste mit der Aufschrift Polizei. Ansonsten war er in Zivil gekleidet. Sein Blick wanderte von Roland zu der immer größer werdenden Blutlache und wieder zurück.
„Herr Nüsch, ich bitte Sie. Legen Sie die Waffe weg und kommen Sie mit mir raus.“
Roland wollte ihm antworten, doch er wusste nicht was er sagen sollte. Dabei gab es so Vieles über das er mit jemandem sprechen wollte. Er hätte dem jungen Polizisten erzählen können, dass Frau Adams ein fester Bestandteil seines Lebens gewesen war, obwohl er fast nie mit ihr gesprochen hatte. Er hatte sie immer nur gehört. Jeden Tag, wie sie morgens aufstand, ins Bad ging, um danach am Küchentisch zu frühstücken. Er hätte davon berichten können, dass er wusste, wo sich ihr Lieblingsplatz im Wohnzimmer befand, obwohl er niemals ihre Wohnung betreten hatte, denn jeden Nachmittag hatten die kleinen tapsigen Schritte an derselben Stelle aufgehört, bevor sie den Fernseher einschaltete.
Er hätte auch erzählen können, wie er vor zwei Tagen das erste Mal diese anderen Geräusche gehört hatte.
Doch Roland schwieg.
„Es gibt doch kein Problem, das wir nicht gemeinsam in den Griff bekommen. Ich möchte Ihnen helfen, doch das kann ich nur, wenn Sie sich auch von mir helfen lassen.“
Seine Haltung war jetzt lockerer, aber trotzdem verweilte die rechte Hand immer noch auf seiner Dienstwaffe.
Roland schaute den Polizisten an. Er glaubte ihm sogar. Wenn es einen Ausweg geben würde, wäre Roland aufgestanden und mit ihm rausgegangen. Doch es gab keinen Ausweg. Frau Adams war tot und der Andere auch. Außerdem wusste Roland, dass er sich nie mehr von dieser Nacht erholen würde. Er wollte es auch gar nicht.
Der Polizist schien etwas in Rolands Gesicht gelesen zu haben, denn er begann erneut, beruhigend auf ihn einzureden.
„Das Ganze ist doch ein bedauernswerter Unfall. Machen Sie es doch nicht noch schlimmer. Sie müssen doch auch an Ihre Familie und Ihre Freunde denken.“
Anscheinend hatte die Polizei nicht genügend Zeit gehabt, um ihn auf diesen Einsatz vorzubereiten, dachte Roland. Sonst hätte er gewusst, dass er keine Freunde hatte und seine Mutter vor einem halben Jahr gestorben war. Doch er nahm es ihm nicht übel. Irgendwie tat es Roland Leid, dass der Polizist seinetwegen schon so früh am Morgen arbeiten musste, anstatt gemütlich mit seiner Familie zu frühstücken.
„Anfangs dachte ich ja auch, dass es nur eine Ratte sei.“, sagte Roland mit gebrochener Stimme und einem unsicheren Lächeln.
Der Polizist schaute ihn irritiert an.
„Eine Ratte?“
„Ja, eine Ratte. Sie wissen doch, dass die sich gerne auf Dachböden oder in Heizungskellern einnisten. Halt überall da, wo es feucht und dunkel ist. Und der Hohlraum in der Decke ist fast vierzig Zentimeter hoch, ich habe das im Treppenhaus nachgemessen. Da ist also genügend Platz...“
„Haben sie deswegen in die Decke geschossen?“, unterbrach ihn der Polizist verwirrt und deutete auf die beiden Einschusslöcher in der Decke.
Roland hob den Kopf und betrachtete den Polizisten fassungslos. Dachten die wirklich, dass er Frau Adams töten wollte?
„Ich wollte auch erst warten, bis der Hausmeister Sprechstunde hat...“, versuchte er sich zu rechtfertigen, aber seine Stimme versagte.
Sein Gegenüber hatte inzwischen wieder seine Professionalität zurückerlangt. Er ging einen Schritt auf Roland zu.
„Ich verstehe Sie. Sie wussten nicht, was Sie tun sollten und hatten Angst.“
Damit lag er falsch. Roland wusste sehr genau, was er getan hatte.
„Einen Tag und zwei Nächte hat er versucht, sich dort durch zu kratzen.“, sagte er und wies auf den kleinen Mauervorsprung zwischen Flur und Küche, in dem ein faustgroßes Loch prangte.
„Die erste Nacht hat er die Außenwände abgesucht. Zentimeter für Zentimeter. Dann hat er mit der Arbeit begonnen. Irgendwoher wusste er wohl, dass die Wand am Vorsprung nicht besonders dick ist.“
Der Blick des Polizisten war wieder auf das Loch gerichtet.
„Als das Kratzen dann vorhin auf einmal aufgehört hat, hab ich mit einem Hammer dagegen gehauen. Die Wand war nur noch hauchdünn. Fast hätte er es geschafft.“
Der Polizist starrte ihn mit halb offenem Mund an. Anscheinend wollte er etwas sagen.
Rolands linke Hand wanderte in seine Tasche und umschloss den kleinen, gebogenen Gegenstand. Er spürte, wie eine Träne seine Wange hinunterlief.
„Wer hätte es fast geschafft?“
Roland schaute ihn nur an.
„Herr Nüsch, legen Sie die Waffe weg und kommen Sie mit mir raus.“
Meiers Stimme war ungewollt lauter geworden. Er fühlte sich mittlerweile alles andere als wohl in dieser kleinen Zweizimmerwohnung. Sein Blick wanderte zum Fenster. Seine Kollegen hatten draußen alle Hände voll damit zu tun, die eingetroffenen Medienvertreter hinter der Absperrung zu halten. Er wollte einfach nur hier raus. Weg von diesem Psychopathen, weg von der Blutlache und vor allem weg von dem seltsamen schwarzen Loch in dem Mauervorsprung.
„Ich weiß zwar nicht, was hier vorgegangen ist, aber ich bin mir sicher, dass es für alles eine Lösung gibt.“, sagte er, um einen zuversichtlichen Tonfall bemüht.
Meier überlegte, ob Nüsch das Gewehr überhaupt nach den zwei Schüssen in die Decke nachgeladen hatte. Es lagen keine weiteren Waffen in seiner Reichweite und der Gegenstand in seiner Tasche war zu klein, als dass es sich um etwas Gefährliches hätte handeln können.
Es gab keinen Eintrag im Strafregister über Nüsch und seine Nachbarn hatten ihn als sehr zuvorkommend und zurückhaltend beschrieben.
Einen Augenblick spielte Meier mit dem Gedanken, sich einfach auf ihn zu stürzen. Der Abstand zwischen den Beiden betrug nur noch etwa zwei Meter und Nüsch sah nicht so aus, als ob er auf einen Angriff vorbereitet wäre. Doch er verwarf den Gedanken. Egal, was dieser Verrückte in seiner Decke vermutete oder aus welchem Grund er sich am frühen Sonntagmorgen entschlossen hatte, zwei Kugeln hinein zu ballern, Meier würde ihn überzeugen aufzugeben. So wie er es schon Dutzende Male zuvor gemacht hatte.
„Ich weiß, dass Sie kein Gewalttäter sind. Sie sind ein ganz normaler Mann, der sich in einer extremen Situation befand und nicht wusste, wie er sich daraus befreien sollte.“
Seine Worte zeigten keine Wirkung bei Nüsch. Tränen quollen ihm aus den Augen und er stammelte Unzusammenhängendes vor sich hin.
„Ich weiß nicht, was Sie in Ihrer Decke hatten, aber...“
„Das stimmt, Sie wissen gar nichts.“, sagte Nüsch mit tränenerstickter Stimme.
Meier sah, wie sich seine Hand in der Tasche zu einer Faust ballte.
„Gar nichts wissen Sie!“
Jetzt schrie Nüsch fast.
„Bitte, Herr Nüsch, beruhigen Sie sich.“
Doch anscheinend wollte er sich nicht mehr beruhigen. Er stand auf und blickte an Meier vorbei ins Leere.
„Ich wollte ihn nur erlösen von seinem Leid. Ich wusste doch nicht, dass Frau Adams so früh aufgestanden war. Wen hätte ich denn um Hilfe bitten sollen? Mir hätte doch niemand geglaubt. Was hätte ich denn sagen sollen, wenn mich jemand gefragt hätte, wie der da hin gekommen ist? Ich weiß es doch selber nicht!“
„Ich glaube Ihnen, Herr Nüsch. Aber bitte...“
Weiter kam Meier nicht.
„Sehen Sie sich an, was ich dort oben gefunden habe! Sehen Sie es sich an und sagen Sie mir dann, was Sie getan hätten!“
Nüsch holte seine Hand aus der Hosentasche und öffnete sie. Mit einem Anflug von Entsetzen und Faszination betrachtete Meier den Gegenstand in der Handfläche des Verrückten. Der kleine Fingernagel war vollkommen verdreckt und ungefähr an der Hälfte des Nagelbettes abgebrochen. Noch während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, ließ Nüsch den Nagel fallen und schwenkte mit einem irren Aufschrei sein Gewehr in Meiers Richtung.
Meiers jahrelange Ausbildung zahlte sich aus. In einer fließenden Bewegung ging er in die Knie, zog seine Waffe und schoss.
Die erste Kugel traf Nüsch in der Brust, die zweite durchschlug seinen Kehlkopf. Er taumelte rückwärts und fiel über den Küchenstuhl. Sekunden später war die Wohnung voller Polizisten.
Beim Abschluss der Untersuchung wurden Meier zwei Dinge mitgeteilt. Erstens, dass Nüschs Jagdgewehr nicht geladen war, er sich aber trotzdem richtig verhalten hatte und, dass Nüsch bereits tot war, bevor er auf dem Boden aufkam.
Über das Loch im Mauervorsprung oder über die Dunkelheit dahinter erfuhr Meier nichts mehr, aber er fragte auch nicht.