Der Wanderer
Das Blaulicht brach sich in den Wellen des kleinen Sees. Die Scheinwerfer der beiden Polizeiautos ließen die dunkle Tannenwand neben der Straße undurchdringlich erscheinen. Auf dem kleinen Parkplatz stand ein roter Fiesta im Schotter. Zwei Frauen warteten daneben. Wie unbeteiligt an dem Schauspiel, das sich in der Stille des warmen Herbstabends abspielte. Polizeifunk drang unverständlich aus den beiden Streifenwagen, die Beamten standen in einer kleinen Gruppe zusammen, einer gab Anweisungen. Ein Mann in seinen späten Vierzigern, breitschultrig mit leichtem Bauchansatz aber sonst nichts, was ein Hinweis auf mangelnde Härte sein könnte.
Klara und Andrea waren oft gemeinsam unterwegs in den Bergen. Ihre Männer verstanden sich, die Frauen mochten sich. Klara war ein paar Jahre älter als Andrea aber beide hatten eine ähnliche körperliche Fitness und eine Vorliebe für kräftezehrende Wanderungen. Naturnah nannte man das wohl. Für Andrea und Klara war wandern ein mehr als nur ein Sport. Die Berge waren ihre Zuflucht. Ein stiller und kraftvoller Ort, an dem man sich austauschen konnten. Ohne Andreas Kinder oder die Männer. Ohne den ganzen Alltagsmüll. Hier draußen in den Bergen war ihre Freiheit und sie suchten sie regelmäßig.
Klara lebte er seit ein paar Jahren im Dorf. Sie war nicht aus der Gegend und für die Meisten eine Fremde, die man vorsichtig aus der Ferne beäugte. Andrea mochte Klara sehr, sie wusste wie es war, hier neu anzufangen. Als Andrea ins Dorf gekommen war, war sie viel jünger gewesen und hatte mit nichts eine Familie gestartet. Das Haus war nicht mehr als ein Rohbau als das erste Kind kam, das Geld war knapp. Sie hatte sich durchgeschlagen. Taten es immer noch. Noch war die Älteste nicht mit der Schule fertig.
Klara hatte ihre Familie hinter sich gelassen als die vier Kinder erwachsen und ausgezogen waren. Sie hatte Paul geheiratet und war mit ihm hier in die Wildnis gezogen. Es gab nicht mehr viel in Klaras Leben, was ihre ganze Aufmerksamkeit gefordert hätte. Paul war nicht sehr anspruchsvoll und außer der Retrieverhündin Bella stellte niemand Ansprüche an sie. Nicht mehr. Sie war inzwischen 61 Jahre alt und hatte 7 Enkelkinder. Aber die kamen nur selten zu Besuch.
Die beiden waren an diesem Morgen früh aus dem Dorf und hatten den Fiesta schon kurz vor halb neun auf dem Parkplatz abgestellt. Klara trug wie immer Funktionswäsche und eine hellblaue Windjacke. Andrea, die gerade in der Mitte deutlich fülliger war als ihre Freundin, trug helle Jeans und wie meist ein T-Shirt mit einem kleinen weiblichen Hauch, einem winzigen femininen Detail, einer Rüschenleiste am Kragen, einer Schleife unter der Brust. Solche Sachen liebte sie zu ihrem sonst sehr schlichten Outfit. Klara hatte Bella heute zu Hause gelassen. Paul wollte mit ihr wegen der Wurmkur zum Tierarzt in die Stadt. Also rannte keine Bella neben ihnen auf den Weg auf und ab. Klara ertappte sich dabei, wie sie sich immer wieder unbewusst nach ihr umsah obwohl Bella gar nicht da war.
Auf dem Parkplatz hatte ein alter an den Ecken schon ziemlich rostiger beige-brauner Wohnwagen gestanden. Beide hatten ihn nicht weiter beachtet. Er schien leer gewesen zu sein. Die weißen Gardinen am Fenster hatten einen grauen und verlorenen Eindruck gemacht. Bestimmt Touristen, die hier zum wandern waren, hatte Klara gedacht und Andrea hatte sich gefragt, ob das ein Paar war, das mal eine Nacht allein sein wollte. Nichts deutete auf Camping hin, ein Abfall, keine Gasflasche. Nichts.
Sie waren kaum eine Stunde unterwegs gewesen, als sie zu ihm aufschlossen. Der Mann trug eine helle Treckinghose und eine leuchtend rote Goretex-Jacke. Auf dem Kopf hatte er eine dunkelblaue Strickmütze. Er trug keinen Rucksack und ging nicht schnell. Sie hatten ihn bald eingeholt. Der Mann konnte eigentlich nur zu dem Wohnwagen auf dem Parkplatz gehören. Das war der einzige Ort im Umkreis von einigen Kilometern, an dem man sein Fahrzeug abstellen konnte. Als er sich zu ihnen umdrehte schien es Klara und Andrea so, als hätte er auf sie gewartet. Der Mann lächelte ihnen entgegen und wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatten. Er hatte suchende Augen, die nie still zu stehen schienen während sein Gesicht weitgehend unbewegt blieb. Eine seltsame und befremdliche Kombination.
Sie hätten nicht mehr sagen können, wie es gekommen war, dass er sich ihnen angeschlossen hatte. Er hatte mit ihnen geplaudert, sich vorgestellt, war neben ihnen her gegangen und irgendwie hatte er sich in ihre Wanderung geschlichen. Gefragt hatte er nicht, er hatte sich aufgedrängt. Sich in die kleine Gruppe gezwängt. Die Höflichkeit der beiden Frauen hatte ihm dieses Eindringen leicht gemacht. Er hatte einen dieser dünnen, spärlichen Bärte, die den Hauch von Erbärmlichkeit im Gesicht verbreiten. Seine Haare waren unter der Mütze nicht zu erkennen. Große helle Augen zielten an einer langen Nasen entlang auf das Gegenüber. Sein Mund war klein mit einer schmalen Oberlippe. Ein bleiches Bibliothekarsgesicht, fand Andrea. Ein Langeweilergesicht dachte Klara. Er hatte sich als Klaus vorgestellt.
Sie gingen zu dritt neben einander solange der Weg noch breit genug war. Bald aber wurde er schmaler und Klaus ließ beide Frauen voran gehen. Sie spürten ihn hinter sich und hörten ihn reden. Klaus erzählte wenig aber war voller Fragen. Ob sie oft in den Bergen waren? Wie weit sie gewöhnlich wanderten? Ob sie immer gemeinsam gingen? Er wollte nichts über ihrer beider Leben wissen, nichts über die Familien oder ihre Berufe. Stattdessen fragte er, wann sie hatten aufstehen müssen, um so früh hier zu sein. Jede Antwort schien ihm von brennender Wichtigkeit. So als hätte er den ganzen Tag darauf gewartet. So als gäbe es gerade nichts, das wichtiger war.
Die beiden Frauen sahen sich an. Klara zog die Augenbrauen hoch und Andrea schüttelte den Kopf. Man konnte sie förmlich innerlich seufzen hören. Sie würden ihn so schnell nicht loswerden. Das war beiden inzwischen klar geworden. Einen nervigen Langeweiler im Schlepptau, der Tag schien schon jetzt trüber zu werden, als er am Morgen zu werden versprochen hatte.
Das disharmonische Trio hatte die erste Berghütte erreicht. Klara setzte sich auf die schmale Mauer, die sich um den Grillplatz zog und begann ihren Rucksack nach etwas zu durchforsten, auf das sie Lust hatte. Ihr war nach Obst. Klaus inspizierte die Rückseite der Hütte und Andrea stand einfach nur da und starrte ins Tal hinunter. Sie hatten gerade mal ein Drittel des Aufstiegs hinter sich gebracht und dieser Klaus ging ihr schon gewaltig auf die Nerven. Sie konnte nicht einmal genau sagen, warum. Es war so ein schleichendes Gefühl von Unwohlsein, das sie in seiner Gegenwart hatte.
Klara schien das nicht so zu gehen. Andrea sah sie dem Mann zuhören und gelegentlich nicken während sie sich weiter an ihrem Rucksack zu schaffen machte. Andrea ging zu ihnen hinüber. Sie redeten über Funktionswäsche und Klaus beschrieb was er wo auf der Haut trug und wo es rieb oder die Nähte drückten. Dann wollte er wissen, etwas für Unterwäsche sie trugen und ob sie beim wandern im Schnitt rieb. Andrea war kurz davor zu platzen aber so wie er es sagte, konnte man ihm nicht einmal sexuelle Anzüglichkeit vorwerfen. Er erkundigte sich schließlich nur nach ihrer Zufriedenheit mit der Funktionswäsche. Unanstößig eigentlich und dennoch nistete sich ein leichtes Unwohlsein ein. Andrea schnitt mit ihrem großen Messer die Tomaten in Scheiben und sah Klaus dabei direkt an. Ihre Augen sagten ihm, dass sie es bereit war zu nutzen, wenn es denn nötig sein sollte. Sie hatte allerdings nicht den Eindruck, dass diese Nachricht bei ihm ankam. Egal, schon das senden hatte ihr ein Gefühl von Stärke vermittelt. So als sei sie gänzlich Herrin der Situation. Klaus blasse Augen sahen an ihr vorbei in den Himmel.
Die Sonne schien warm als sie weiter gingen. Ein herrlicher Tag für die Berge. Klara ging voran. Der Pfad, der nun weiter zum ersten Kamm führte, war nun deutlich schmaler als der, auf dem sie gekommen waren. Er war ausgetreten, ausgewaschen und sehr trocken, es hatte seit Wochen so gut wie nicht geregnet. Die wenigen Laubbäume, die es hier oben noch gab, fingen gerade an, sich mit Herbstfarben zu tarnen. Ein leichter Wind kam von den Gipfeln, Wolken zogen. Friedlicher kann es nicht sein in den Bergen. Klara vermisste nichts außer Bella. Es war einer dieser Momente in denen das Leben für einen kurzem Moment still hält, um perfekt zu sein. Und dann gleich wieder zeigt, wie wenig perfekt es wirkllich ist.
Klaus schnäuzte sich die Nase und hustete ein wenig Schleim hoch. Er entschuldigte sich und dennoch war es widerlich. Es war etwas Unappetitliches an ihm. Die Art, wie er die Nase hochzog oder sein Taschentuch benutzte. Dann wollte Klaus wissen, wie oft sie beide krank waren, ob sie bei Fieber nackt schliefen und ob zu viel Husten bei Frauen Brustschmerzen verursachte. Ihr Ekel wuchs.
Sie hatten ihm mehrfach erzählt, wie gerne sie alleine wanderten. Er hatte es nicht verstanden. Sie bedauerten, nicht sein Tempo gehen zu können. Er gab vor es zu genießen, auch mal langsamer unterwegs zu sein. Was die beiden Frauen auch an höflichen Gründen vortrugen warum Klaus nun endlich verschwinden sollte, er hatte immer ein Argument dagegen oder er gab vor, die sanften Hinweise nicht verstanden zu haben. Und so hatten sie eine Patt-Situation, in der sich die beiden Frauen unwohl fühlten. Klaus schien sich immer mehr aufzudrängen, je mehr sich die beiden vor ihm zurückzogen.
Eine Gemse sprang auf dem gegenüber liegenden Hang aus dem Blickfeld. Wolkenschatten zogen träge dahin. Es roch nach Ginster und Erde. Insekten summten. Der Friede schien perfekt.
Andrea musste mal. Sie gab Klara ein Zeichen, die nickte und deutete an, dass sie auch mal musste. Klaus war einfach nicht loszukriegen. Als sie sich in die Büsche zurück ziehen wollten, philosophierte er über Freiheit und Scham und seinen Wunsch ihnen beim pinkeln zu zusehen. Der Gedanke daran hinterließ bei Klara ein würgendes Gefühl im Hals. Sie konnte nur den Kopf schütteln. Seine Aufdringlichkeit schien sie zu lähmen und das machte es schwer, sich zu widersetzen. Klaus war nur wenige Schritte von den Büschen entfernt stehen geblieben. Er würde hören können, wenn sie sich unterhielten. Vielleicht sogar, wenn sie flüsterten. Die beiden trauten sich nicht, trauten sich kaum zu pinkeln weil sie nicht wussten, ob er ihnen hinterher kommen würde oder ob er ihnen beim pinkeln zuhörte. Sie sahen sich an und beiden war klar, dass die Situation ihnen langsam über den Kopf wuchs. Sie konnten nur hoffen, dass sie bald noch ein paar Wanderer treffen würden, denen sie sich anschließen konnten. Sie brauchten nicht zu sagen, sie wussten, was die andere dachte und fühlte. Sie hatten Angst. Alle beide. Angst vor diesem freundlichen Klaus, der Dinge sagte, die immer merkwürdiger wurden. In einem ganz normalen Tonfall in einem ganz normalen Gespräch. So als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, zwei fremdem Frauen zu sagen, dass man ihnen gerne beim pinkeln zusehen möchte.
Sie waren alleine mit diesem unheimlichen Fremden am Berg. Hier konnte sie niemand sehen oder hören und die Handys hatten keinen Empfang. Nirgends. Das wusste Andrea noch vom letzten Mal, als sie diese Tour hier gemacht hatten. Die ganze Konsequenz der Situation wurde mit dem Satz klar, der beiden Frauen nun durch den Kopf ging. Sie waren auf sich selbst angewiesen, sie waren allein.
Der Weg war nun steil und steinig und wand sich in kleinen engen Serpentinen hinauf zum Grat. Dort gab es zwei Möglichkeiten zu gehen. An der schmalen Stelle des südlichen Wegs, der direkt auf dem Grat hinüber zur anderen Seite führte, hielten sie kurz an und ließen Klaus den Vortritt. Keine der Frauen wollte ihn in ihrem Rücken haben. Es ging zu beiden Seiten steil nach unten. Ein kleiner Schubs wäre genug.
Klaus ging mit großen Schritten los. Er machte Pläne. Sie könnten alle gemeinsam in der nächsten Berghütte übernachten. Zu dritt in einem Bett. Die natürlichste Sache der Welt. Alles offen. Alles easy. Seine Phantasien durchdrangen die kleine Gruppe dort oben auf dem Grat. Der Wind strich kühl über den Kamm. Die Sonne stand flach als sein entrüsteter Schrei den Hang hinab klang.