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Der Weg hinaus
Der Weg hinaus
Noch war es dunkel. Sie konnte ihre Zukunft nicht sehen. Alles was sie fühlte was dieser dumpfe Schmerz, den sie sich nicht erklären konnte. Wieso tat es so weh?
Melanie atmete tief ein, spürte die kalt einströmende Luft in ihren Lungen, hielt sie ein wenig an, um sie dann mit einem Stoß wieder von sich zu geben, als ob sie so die Schwärze, die sich vor ihr auftat, verdrängen konnte. Von irgendwo her drang eine Stimme an ihr Ohr, sie konnte nicht verstehen, was da gesagt wurde. Lautsprecherstimmen versteht man nie, dachte sie bei sich, eigentlich sind sie sinnlos. Sie sah auf ihre Uhr, zehn Minuten noch, dann sollte ihr Zug einrollen. Ihr Zug, der sie in die Freiheit brachte. Nein, viel mehr, der sie ins Leben brachte, in ihr Leben. Doch statt Freude schlichen sich Angst in jede Faser ihres Körpers und der irrsinnige Wunsch umzukehren. War sie bereit?
Sie zitterte, warum war es auf Bahnhöfen immer kalt?
Weil hier immer ein kleines Sterben stattfindet? Jemand fährt weg und lässt einen anderen mit einem zerplatzen Traum zurück. Jemand kommt an und ein anderer erkennt, dass die Hoffnung, der Zauber des Besonderen möge sich über diese erste ersten Begegnung legen, verschwunden ist.
Zum wiederholten Mal ging sie noch mal alle Schritte im Geiste durch, einen Fehler konnte sie sich nicht leisten. Mit dem Zug würde sie nach Frankfurt fahren, dort in einem Schließfach, dessen Schlüssel in ihrer Hosentasche steckte, alle notwendigen Papiere sowie den Schlüssel zu einem Bankschließfach finden.
Erneut ein Blick zur Uhr, in zwei Stunden würde ihr Mann nach Hause kommen. Er würde die Wohnung vorfinden, wie immer, als sei nichts geschehen.
Gedanklich schloss sie mit ihm die Tür auf. Stille und der leichte Duft von Chanel No.5 schlugen ihm entgegen, so wie er es wünschte, nie durfte Radio oder Fernseher laufen. Er liebte den französischen Geruch, sie hatte sich zu fügen. Auf der Garderobe würde ihre Handtasche stehen, akkurat fünf Zentimeter von der Kante entfernt. Es hatte sie viel Erziehung, wie er es nannte, gekostet den genauen Standort zu ermitteln, aber diesmal würde alles zu seiner Zufriedenheit sein. Langsam, auf jedes Geräusch achtend hing er seine Jacke auf, streifte die Schuhe von den Füßen und stellte sie in den Schuhschrank, nicht ohne alles auf seine Korrektheit zu überprüfen. Auf seinem Weg in die Stube, warf er einen Blick in die Küche, auch da würde alles in Ordnung sein. Melanie wusste nie, ob es ihn befriedigte oder wütend machte, wenn es keine Beanstandungen gab, manchmal hatte sie das Gefühl, er suchte dann nach irgendwelchen Fehlern, die sie begehen könnte und sei es nur, dass ihm der Ton, mit dem sie ihn begrüßte, nicht gefiel, doch heute würde es keine Begrüßung geben. Ein innerliches Zittern durchlief ihren Körper, was er wohl dachte, wenn er sie nirgends fand? Nichts würde darauf hindeuten wo sie war, keine Kleidung würde fehlen, kein Abschiedsbrief da sein. So als hätte sie sich zu dem Nichts aufgelöst, als das er sie immer bezeichnete.
„Angst?“
Eine warme Frauenhand legte sich auf ihren Arm. Sie blickte die Frau an, schenkte ihr ein gequältes Lächeln, zuckte leicht mit den Schultern.
„Das ist normal.“ Wie von einem warmen Sommerwind getragen drangen die Worte an ihr Ohr. Sie schluckte, leichtes Unwohlsein breitete sich in ihr aus, nochmal ein Blick auf die Uhr, sechs Minuten noch. Sechs Minuten, um gedanklich in die Vergangenheit zu reisen. Sich zu fragen, wie es so weit kommen, warum sie den Wandel nicht aufhalten konnte. Sie liebten sich doch ...
Manfred, vor unendlich langer Zeit, so schien es ihr, war er in ihr Leben getreten. Sie sah ihn noch einmal vor sich, dieser geheimnisvolle Blick, mit dem er sie festhielt, mit sicheren Bewegungen kam er auf sie zu, schenkte ihr ein zauberhaftes Lächeln. Sie erinnerte sich noch genau, dass sie sich eigentlich umsehen wollte, ob er wirklich sie meinte, als er sie ansprach. In seinen Armen vergaß sie die Welt, tanzte mit ihm bis in den Morgen, wünschte sich aus diesem Traum nie aufzuwachen. Ein Traum, der schon bald nach der Hochzeit zu einem Alptraum wurde. Dabei war Manfred ein so zärtlicher Mann, immer hielt er irgendwie Körperkontakt zu ihr, besonders in der Öffentlichkeit und Melanie genoss diese Liebesbeweise, so dachte sie. Doch allmählich änderte sich sein Verhalten, zu Anfang waren es nur Kleinigkeiten, auf die er komisch reagierte, zum Beispiel, wenn sie mit Freundinnen aus war.
“Weißt du, wie ich mich fühle, wenn ich hier ganz allein bin?“, fragte er sie, „als wäre ich nur ein halber Mensch.“
Wie verrückt hatte ihr Herz geklopft, sie hörte Sehnsucht nach ihr, aus seinen Worten, spürte Traurigkeit. Nein, sie wollte nicht, dass er sich einsam fühlte, wollte mit ihm zusammensein, ihn glücklich machen, ließ ihre Freundinnen immer öfter warten. Wenn ihm etwas missfiel, bat sie um Verzeihung, versprach alles zu tun, damit er glücklich wäre. Eine Zeitlang ging es gut, sie richtete ihr Leben auf ihn ein, erkannte nicht, dass sie sich selbst aufgab. Doch immer kürzer wurden die Abstände zwischen Phasen von Zärtlichkeiten und Missbilligungen. Als er das erste Mal die Hand gegen sie erhob, glaubte sie an ein Versehen, einen Ausrutscher, wie er es selbst nannte. Sie wusste nicht einmal, warum sie seinen Versprechungen, dass es nie wieder passieren würde, immer wieder wie ein Verdurstender, das ihm gebotene, wenn auch, abgestandene Wasser, gierig in sich aufsog, denn er hielt seine Versprechen nicht.
Irgendwann, als sie wieder einmal nachts wach lag, wurde ihr bewusst, dass aus der Liebe, die sie für ihn empfand, ein anderes Gefühl geworden war. Angst, die so tief saß, dass sie selbst vor ihr zitterte. Sie betrog sich selbst, in dem sie sich immer wieder einredete glücklich zu sein, ein Lächeln zu Schau stellte, das allen anderen vermitteln sollte, bei ihr sei alles in bester Ordnung.
Immer wieder hatte sie seine Launen ertragen, die Schuld bei sich gesucht, sich bemüht so zu leben, wie er es für richtig hielt. Doch jetzt wollte Manfred Kinder. Wie mittlerweile alles in ihrem Leben, hatte er entschieden, dass der Zeitpunkt gekommen war. Freudestrahlend verkündete er seinen Entschluss eines Tages beim Abendessen. Eisige Kälte umschloss ihr Herz, aber sie musste lächeln, ja sagen und doch fühlte sie die unsichtbaren Reißzähne, die nach ihrer Seele griffen, sie zerfetzten bis nichts mehr übrig blieb.
Nein, schrie es in ihr, nein, sie wollte keine Kinder, nicht mit ihm. Ihr zukünftiges Leben lief wie ein Schwarz –weiß -Film vor ihrem inneren Auge ab. Sein Sohn, sein ganzer Stolz, wie eine Trophäe würde er ihn herumreichen, Erwartungen in ihn setzen, die erfüllt werden mussten. Genau wie ihren, würde er seinen Willen brechen. Ihr Kind, würde nie ein Chance auf sich selbst haben. Auf sie könnte es sich nicht verlassen, sie könnte allenfalls Schläge abfangen, wirklich beschützen könnte sie diese kleine Seele nicht.
Jedoch, da war noch etwas, dass ihr entsetzliche Angst machte. Was würde geschehen, wenn das Kind seine Gene hätte? Diese Vorstellungen, einem Tyrannen das Leben zu schenken, war ihr unerträglich. Sie schämte sich dafür. Hieß es nicht, die Umwelt präge den Charakter eines Menschen mehr als seine Gene? Sie glaubte nicht so recht daran, denn wie oft kamen gerade Gewaltverbrecher aus einem, wie es immer so schön hieß, intakten Elternhaus. Aber vielleicht waren auch dieses intakten Elternhäuser, wie ihre Ehe, nur Fassaden.
Eigentlich glaubte sie nicht an Fügung des Schicksals, und doch kam es ihr beinah so vor, als sie den Brief in ihrem Postkasten fand. Den Brief von einer Lebensversicherung, die sie vor Jahren, zu Beginn ihrer Lehre, auf Drängen ihres Vaters, abgeschlossen hatte. Als sie drei Jahre nach ihrer Ausbildung arbeitslos wurde, hatte sie diese Versicherung ruhen lassen, weil eine Kündigung zu dem Zeitpunkt nicht möglich war. Später war sie einfach in Vergessenheit geraten. Ihre Namensänderung hatte sie dort nie bekannt gegeben , demzufolge wurden ihr keine Jahreskontoauszüge zugestellt, so dass Manfred davon keinerlei Kenntnis hatte. Doch nun war die Versicherungsdauer erreicht und die Gesellschaft bemühte sich die Versicherungsnehmerin ausfindig zumachen, natürlich nur um darauf hinzuweisen, dass es sinnvoller wäre, die Zahlungen wieder aufzunehmen.
Dieser Brief, so schien es ihr war eine Antwort auf die vielen „Was soll ich nur tun Fragen“, die ihr nachts den Schlaf raubten. Fast hatte sie das Gefühl, ihr Vater hätte ihr noch aus dem Grab, die Hand gereicht, damit sie nicht in den Abgrund stürzte.
Noch immer zitterten ihre Hände, als sie an das Telefonat, das sie selbstverständlich von der Zelle aus mit der Versicherung geführt hatte, dachte. Sie bat um ein Gespräch für den nächsten Tag, doch die Sachbearbeiterin enttäuschte sie, erst in zwei Tagen hätte sie einen Termin für sie frei. Zwei Tage, die sich endlos lang hinzogen, immer hatte sie Angst es könnte Post kommen oder ein Anruf der Versicherung im Beisein ihres Mannes, doch nichts geschah.
Melanie hatte einen Plan, sie wollte sich das Geld von der Versicherung bar auszahlen lassen, es war kein all zu großer Betrag, aber er würde ihr helfen, weg zu kommen.
Zwei Tage später verließ sie mit Tränen in den Augen das Versicherungsgebäude, in ihrem Kopf drehte sich alles, was hatte sie eigentlich gedacht? Dummes Mädchen, schalt sie sich selbst, natürlich konnte ihr die Versicherung, das Geld nicht bar auszahlen, so etwas wusste sie doch. Ihr selbstgebastelter Strohhalm glitt ihr durch die Finger, die Verzweiflung in ihr wurde so groß, dass ihr schlecht wurde. Ich kann ihm nicht entkommen, dachte sie, schloss für einen Moment ihre Augen und lehnte sich an eine Häuserwand. Dann geschah etwas:
„Frau Stein, geht es Ihnen gut?“
Eine Hand griff nach ihrem Arm, sie öffnete die Augen, vor ihr stand, die Sachbearbeiterin, vor der Melanie eben die Nerven verloren und die sie so angeschrieen hatte. Beschämt senkte sie den Blick.
„Es tut mir leid“, brachte sie leise hervor.
„Ist schon in Ordnung.“ Beinah zärtlich sprach die Frau diese Worte aus.
„Ich hab Mittagspause, wie wärst mit einem Kaffee?“
Zustimmend nickte Melanie und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie gingen in ein nahegelegenes Cafe.
„So etwas ist nicht meine Art“, entschuldigte Melanie sich nochmal. „Ich weiß auch nicht was in mir vorging.“
Die Frau sah sie lange an, bevor sie fragte:
„Wirklich nicht?“
Überrascht hob Melanie den Kopf, ihr Herz schlug so laut, dass sie glaubte alle müssten es hören. Was wusste diese Frau von ihr, fragte sie sich ängstlich, doch ehe sie überhaupt weiter denken konnte, ergriff die Frau sanft ihre Hand.
„Keine Angst, ich kann Ihnen helfen“, ganz leise kamen diese Worte über ihre Lippen.
„Wie?“ Wollte Melanie wissen und schüttelte dabei unbewusst mit dem Kopf, als wollte sie die noch nicht gestellten Fragen verneinen.
Die Frau blickte sich kurz um, „Ich möchte Ihnen etwas erzählen“, begann sie.
„Ich kann mir denken, wozu sie das Geld brauchen, aber ...“ Sie beugte sich zur ihr hinüber, „wenn es so ist, sollten Sie es richtig machen.“
Melanie schluckte, ihr Hals war trocken, mit zittrigen Fingern griff sie nach der Kaffeetasse, die leise klirrte, als sie sie umständlich anhob und gegen die Untertasse stieß.
Wie durch einen Nebel hörte sie die Geschichte einer Frau, die von ihrem Mann misshandelt wurde. Von Gefühlen, die sich in Hass verwandelten, so dass sie bereit war ihren Mann zu töten, um sich von ihm zu befreien. Sie hörte von einer Frau, die Hilfe bekam, von einer Organisation, die sich um solche Frauen kümmerte, ihnen eine neue Identität gab, ihnen half zu gehen ohne je gefunden zu werden. Zunächst war sie unsicher.
„Ich weiß nicht“, sagte sie, „ich wollte eigentlich nur weg.“
„Ich verstehe, aber dann wird er Sie finden und nie in Ruhe lassen, stets werden Sie seine Schritte hinter sich hören.“
Nie in Ruhe lassen, diese Worte hallten in ihr wieder, wie der Schuss aus einer Pistole. Die Frau lächelte sie an, „Denken Sie darüber nach, Sie wissen wo Sie mich finden“, mit diesen Worten stand sie auf und ließ Melanie allein.
Die Tage vergingen, immer wieder dachte sie über den Vorschlag der Sachbearbeiterin nach, lag nachts wach, bis sie eines Morgens ihr Spiegelbild genauer betrachtete. Sie sah eine verbitterte Frau, die sich selbst um ihr Leben betrog. Nein, dies Bild wollte sie nicht sehen, ihr Entschluss stand fest – sie rief die Versicherung erneut an.
Die Organisation verfügte über Kontakte, die in der Lage waren, neue Papiere zu besorgen.
Das Geld, aus ihrer Versicherung sollte auf ein Konto, das von einer Mitarbeiterin der Organisation eingerichtet wurde, überwiesen werden, so verschwand der Vertrag im Archiv. Diese Mitarbeiterin sollte das Geld abheben, es in einem Schließfach am Bahnhof deponieren und das Konto auflösen. Alles schien perfekt, keine Spur würde zu ihr führen und doch spürte sie Unbehagen in sich aufsteigen. War es nicht feige? Sie hatte ihren Traum zerplatzen lassen, ebenso, wie sie ihren Traum nicht hegen konnte, wollte sie nun nicht einmal die Scherben zusammenfegen?
Der Zug fuhr ein und verursachte einen leichten Windzug, der Melanie ins Gesicht blies. War es eine Träne, der Traurigkeit, die über ihre Wange lief?
Sie stand auf, wie durch kalten Brei, der an ihr klebte, schritt sie die paar Meter bis zur Bahn. Drehte sich noch einmal um, schluckte, nickte ihrer Begleiterin leicht zu, als wollte sie sich bei ihr vergewissern, dass es richtig war. Sie stieg ein, ging in ihr Abteil, hörte nur den Klang ihrer eigenen Schritte ... und lächelte.