Was ist neu

Die Ablösung

Seniors
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04.08.2001
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Die Ablösung

Die Ablösung


Kommen Sie!
Kommen Sie schon, ja Sie meine ich, junger Freund! Setzen Sie sich zu mir an den Tisch. Der Platz hier ist ideal, um noch ein wenig Sonne zu genießen. Ich fürchte, das werden die letzten schönen Tage sein, die uns der diesjährige Herbst beschert. Altweibersommer nennt man das. Nun setzen Sie sich schon und schauen Sie mich nicht so ungläubig an! Sehen Sie, so ist es brav. Ist es nicht herrlich hier? Man möchte den ganzen Tag hier sitzen, die warme Sonne genießen und einfach nichts tun. Aber was rede ich da? Das habe ich ja in den letzten Wochen getan.
Wie ist es, junger Freund, darf ich Ihnen einen Kaffee bestellen? Dies Cafe´hier ist berühmt für seinen wunderbaren Kaffee, stark und zugleich sanft. Ich werde den Ober rufen.
Ihr Blick ist immer noch so ungläubig wie der eines Eichhörnchens beim Gottesdienst, doch ich kann ihn verstehen, den Blick. Ich selbst habe ihn ja provoziert. Nun sind Sie tagelang um diesen zotteligen alten Mann herumgeschlichen, sind in der vergangenen Woche mindestens dreimal am Tag hier vorbeigekommen und haben mich stets mit verstohlenem Ausdruck gemustert. Sie meinen natürlich, ich hätte das nicht bemerkt. Sie schließen vom Äußeren eines Menschen auf dessen Verstand. Leider Gottes teilen Sie diese Unart mit einem Großteil der Menschheit, man lässt sich zu leicht von Äußerlichkeiten leiten. Ich weiß nicht, ob das ein Schutzmechanismus ist, diese Angewohnheit, aber ich bin mir sicher, dass durch diese vorschnelle Einschätzung seines Gegenübers schon viel Schaden über die Menschheit gebracht wurde. Und ebenso handelten Sie!
Und trotzdem oder gerade weil Sie sich täuschen ließen, waren Sie neugierig. Sie liefen hin- und her vor diesem Cafe´, ließen sich tausend Gründe einfallen, um hier noch einmal entlangschlendern und einen kurzen Blick auf mich werfen zu können. Und Mal auf Mal, wenn Sie hier vorbeikamen, wenn Sie hofften, dass der Alte, der nun schon seit Tagen auf ein und demselben Stuhl saß und scheinbar nichts anderes tat, als die Zeit an sich vorbeistreichen zu lassen, endlich auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, erwartete ich Sie, wie ein hässliches, protziges, deplaziertes Mahnmal. Ich wartete auf Sie, so schien es Ihnen, und verspottete Sie umso mehr, je öfter Sie Ihre neugierigen Augen auf mich richteten.
Die Neugierde, junger Freund, ist ein Wesenszug im Menschen, der ihm leicht zum Verhängnis werden kann. Welches Verlangen trieb Faust in den Pakt mit Mephisto? Es wird im Allgemeinen angenommen, dass ein Hauptgrund für den Verkauf seiner Seele die Wissbegierde war. Macht und Wissen wollte Faust erlangen und Mephistopheles sollte ihm dabei helfen. Doch ich gehe davon aus, dass ein Gutteil von Gründen für den Vertrag Neugierde war, pure, selbstzweckhafte, nutzlose Neugierde um des Vergnügens willen. Der geneigte Leser der BILD-Zeitung mag ebensolche Beweggründe haben, seine Lektüre zu kaufen.
Wussten Sie, mein Freund, dass der authentische Johann Faust anno 1540 sein Leben bei einem Unfall in seinem Laboratorium lassen musste?
Sie sind schockiert? Das sollten Sie auch, denn ich habe Sie ausgewählt.
Was, meinen Sie, habe ich hier die vergangenen Tage getan? Verabschieden Sie sich von dem Leben, das Sie bis eben kannten! Schauen Sie sich um, der Herbst hat noch einmal seine besten Gesellen über das Land streifen lassen, alles scheint zu leuchten. Selbst die Busse, die im Minutenabstand vorrüberrauschen, scheinen wohlige Wärme auszustrahlen. Lenken Sie Ihren Blick noch einmal auf den Rasen des Parkes dort drüben! Die Kinder, die mit ihren Familien spielen, ahnen nichts vom Lauf der Welt. Für sie zählt nur der jetzige Augenblick, eventuell noch der nächste. Doch was morgen oder übermorgen kommen mag, daran verschwenden sie keinen einzigen Gedanken. Wahrscheinlich sind sie deshalb so glücklich.
Oder nehmen Sie die alte Frau dort, die auf der Bank sitzt und sich von der Sonne nimmt, weil es vielleicht das letzte Mal ist, dass sie sie genießen kann. Hat sie nicht etwas Rührendes, wie sie bemüht ist, verzweifelt ihre letzten Tage mit den kleinen Annehmlichkeiten zu füllen, die ihr das Leben noch zu bieten vermag? Sie hat gelebt und nimmt Abschied auf ihre Art von der diesseitigen Welt.
Doch es ist alles ganz anders! Dies ist nur die eine, die sonnige Seite unseres Lebens. Aber auf der anderen, quasi unter der Oberfläche, brodelt es, die schleimige Suppe schlägt Blasen und wartet darauf, auszubrechen. Wir sind umgeben von den Qualen, und wir vermögen sie selten genug zu sehen.
Oh, Sie wollen gehen? Dann bitte, aber seien Sie sich gewiss, dass Sie die Wahrheit über den zotteligen Alten, der tagein, tagaus in diesem Cafe´saß und Sie sooft anstarrte, sooft Sie hier vorrüberkamen, nie erfahren werden! Es ist allein Ihre Entscheidung.
Ah, sehen Sie, so ist es besser! Sie haben Ihren Kaffee auch noch gar nicht ausgetrunken. Lehnen Sie sich zurück und lauschen Sie, was ich zu berichten habe. Ich will den Versuch machen, Ihren Durst zu löschen mit einigen Erklärungen. Lassen Sie mich Ihnen also meine Geschichte erzählen.

Es ist jetzt schon länger her, als die Spanne, die ein kurzes Leben währt. Die Anzahl der Jahre, in der ich schon versucht hatte, mich auf dieser Welt zu bewähren, dürfte der Ihren ziemlich nahe kommen. Ich war ein ebenso neugieriges und impulsives Wesen, neugierig auf das Dasein, das ich lange noch nicht ausgekostet hatte und in dem es noch viel zu entdecken gab und impulsiv in meinem Handeln, wenn es darum ging, das Leben zu erfahren.
Die Zeit war grau, und obwohl wir in diesen Jahren heiße Sommer hatten, schien sich das Wetter nie vollständig aufklären zu wollen. Über allem, was uns umgab, lag ein Schleier. Es war kurz nach dem großen Krieg und der Mangel war unser täglicher Begleiter. Trotzdem hörte man nur wenige Klagen, weil dieser Mangel als solcher kaum jemandem bewusst war. Es war nämlich auch genauso eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung. Wenn ein Wanderer die Senke erreicht hat, dann weiß er, jeder Weg, den er einschlägt, führt hinaus aus diesem Tal. Und dass wir uns in einem Tal befanden und dass es kaum weiter abwärts gehen würde, darin bestand wenig Zweifel. Wanderer waren wir alle in dieser Zeit.
Ich hatte gerade meine erste Stelle als Lehrer angetreten in der einzigen Schule dieser Stadt. Ich war jung, unerfahren und vollkommen allein auf dieser Welt. Ich war verzweifelt auf der Suche nach Bindungen, bereit, jedes Lächeln und jedes nette Wort für den Anfang einer freundschaftlichen Beziehung zu nehmen. Meine Eltern waren beide im Krieg umgekommen, und ich hatte die Trauerarbeit noch längst nicht abgeschlossen. Denkbar ungünstige Bedingungen, um ein neues Leben in der Fremde zu beginnen, finden Sie nicht auch?
Die Verhältnisse, unter denen an der Schule unterrichtet wurde, waren entsprechend denen, die im ganzen Lande herrschten, nämlich katastrophal. Natürlich! Wie wollen Sie verlangen, dass man sich hinreichend um die Bildung der künftigen Generation kümmert, wenn nicht einmal das eigene Überleben für den nächsten Tag gesichert ist. Die Schule war die einzige ihrer Art für die Stadt und die Ortschaften in der näheren Umgebung. Wir waren allerdings schon außerordentlich dankbar dafür, dass wir über ein intaktes, einigermaßen dichtes Gebäude verfügten, in dem wir den Unterricht abhalten konnten. Die Räume waren klein (wenigstens für die Anzahl Schüler, die sie notgedrungen zu beherbergen hatten), baufällig und natürlich nur allernotdürftigst ausgestattet. Lehrmittel gab es so gut wie keine, beim Anschauungsunterricht war man auf die Phantasie der Kinder angewiesen und auf die Fähigkeit der Lehrer, diese zu wecken. An Papier eventuell, an Stifte oder Schulbücher war überhaupt nicht zu denken, und wenn Materialien doch einmal vorhanden waren, dann sprachen sie in der falschen Zunge, lehrten die unrichtige Ideologie.
Trotzdem waren wir motiviert und erfüllt mit einer unersättlichen Gier auf das Leben. Wir wussten, auch wenn der leere Magen sich zu allererst meldete, so war doch nichts schlimmer als den Kopf zu vernachlässigen.
Das Kollegium war klein; es waren mehr Frauen im Lehrkörper der Schule. Und die wenigen Männer waren entweder alte Nazis mit einer schnarrenden Stimme oder junge Schnösel, die ihrer eigenen Erscheinung ganz entschieden zuviel Aufmerksamkeit widmeten. Mit den Frauen kam ich besser zurecht. Vielleicht war es ihre mütterliche Seite, die ihnen sagte, dass man mich wegen meines Verlustes noch immer mit samtenen Handschuhen anfassen müsste. Eine Freundschaft oder eine Beziehung baute sich trotzdem nicht auf.
Ich hatte mir in einem Ort, etwas entfernt von der Stadt, ein Zimmer genommen. Die Vermieter waren ein freundliches älteres Ehepaar, das sich gemeinsam in seinem Lebensabend eingerichtet hatte und mit rührender Geschäftigkeit darum bemüht war, das Haus, in dem sie lebten und von dem sie zwei Zimmer vermietet hatten, in Schuss zu halten. Sie waren sehr darum besorgt, dass es mir gut ging während meines Aufenthalts bei ihnen. Ihr einziger Sohn, an dem sie sehr gehangen haben mussten, war im Krieg gefallen, ein Schicksal, das sie mit zu vielen anderen zu teilen hatten. Und für mich hatte es den Anschein, als hätten sie mich dazu auserkoren, die Rolle zu übernehmen, die von Natur aus ein anderer hätte ausfüllen sollen. Jeden Morgen, wenn ich aufstand in der Früh, stand das Frühstück für mich bereit, obwohl es nicht allzu viel zu verteilen gab. Aber ein Ei, einige Scheiben selbstgebackenen Brotes und oft genug jede Menge frisches Obst lagen für mich bereit, egal um welche Zeit das war. Ich hatte es gut bei ihnen und es schien mir, als spendeten wir uns gegenseitig Trost und machten uns stark, um den jeweils erlittenen Verlust zu verkraften.
Um zu meinem Arbeitsort zu kleinen Schule in der Stadt, zu gelangen, musste ich einen Weg von etwa vierzehn Kilometern zurücklegen. Der Hausherr meiner Wohnung hatte mir ein Damenfahrrad überlassen, alt zwar, aber stabil und mächtig und, wie es schien, unverwüstlich. Er hatte ein Alter erreicht, in dem es nicht mehr nötig schien, Orte möglichst schnell zu verlassen oder zu ihnen zu gelangen, und zu deren Merkmalen es außerdem gehört, dass man ganz von selbst auf solche haarsträubenden Abenteuer verzichtet, wie zum Beispiel das Fahrradfahren. Für den alten Herrn war mehr und mehr wichtig geworden, was für uns alle gelten sollte: Das Hauptsächliche ist der Weg, das eigentliche Ziel ist nebensächlich.
Und so trat ich morgens, oftmals im Dunkeln, wenn die halbe Welt noch schlief, und abends, auf dem Weg zurück in mein Heim, vorbei an den Häusern, in denen sich manches Mal die Menschen rüsteten, zur Ruhe zu gehen, kräftig in die Pedalen. Vierzehn Kilometer hin und nach getaner, mühevoller Arbeit wieder vierzehn Kilometer zurück. Und soll ich Ihnen etwas sagen, es machte mir nichts aus! Auch wenn es regnete in Strömen, so dass ich kaum die Augen zu öffnen vermochte und ich mich, angekommen in der Schule, zunächst kräftig trockenrubbeln musste, oder wenn es stürmte und der Wind mich hinderte, weiterzufahren, so dass ich absteigen und mich sogar anstrengen musste, zu Fuß voranzukommen. Es machte mir nichts aus, ich nahm es hin, auch wenn ich dann und wann fluchte. Wissen Sie, in Sachen Leidensfähigkeit ist unsere moderne Bevölkerung nicht einmal halb so gut wie die damaligen Menschen. Ein Großteil der heutigen Probleme wären wie weggewischt, wenn man wieder einiges in Kauf nehmen könnte und dabei weniger jammerte.
Mein Weg führte mich überwiegend eine herrliche, ruhige Allee entlang, gesäumt von riesigen Linden. Wie auf eine Schnur gereiht standen die Bäume, nicht abschätzbar in ihrer Anzahl, stoisch und gleichmütig bis hin zum Horizont und ließen gelassen die wenigen Wanderer und Radfahrer, die hier entlang mußten, an sich vorüberziehen. Im Sommer war es stets dämmerig auf dem Weg und im Winter schienen die Bäume die Straße gegen die eisige Kälte abschirmen zu wollen. Sooft es ging fuhr ich langsam und entspannt diesen Weg entlang, um die Stille und die Erhabenheit zu spüren, die von diesem Fleckchen Erde ausgingen. Hier konnte ich mich treiben lassen, und jeder Rhythmus meiner Füße, die die Pedalen traten, schien mir noch immer zu schnell und unangebracht zu sein, angesichts der Würde, die diese Allee ausstrahlte. Ich war froh, täglich diese vierzehn Kilometer hinter mich bringen zu dürfen.
Vor den Toren der Stadt, und somit auf meinem Weg zum Arbeitsort, lag ein kleines, unscheinbares Dorf, das aus wenig mehr als einem Dutzend Häuser bestand. Sie lagen beiderseits der Straße und sie schmiegten sich so eng an den Weg, als fürchteten sie, von ihm abfallen zu können und damit in die vollkommene Bedeutungslosigkeit zu stürzen.
Es ging stets sehr friedlich zu in dem kleinen Ort. Wäre ich zynisch, würde ich sagen, er wirkte verlassen; und das wäre nicht einmal gelogen. Selten, dass mir auf meinen täglichen Fahrten einer der Bewohner der Häuser begegnete. Hier herrschte zu jeder Tageszeit eine gespenstische Stimmung, die man nicht im mindesten mit der würdevollen und von Leben erfüllten Stille der Allee, die ich soeben passiert hatte, vergleichen konnte. Mich befiel, sooft ich das Dorf durchquerte, ein Schauder, so dass ich unwillkürlich das Tempo erhöhte, um diese Ortschaft so schnell als möglich hinter mich zu lassen.
Angesichts des Ziels, das ich so kurz vor Augen hatte, denn immerhin hatte ich auf meinen Fahrten zur Schule meine Arbeitsstelle fast erreicht, kann man diesen Impuls sicher besser verstehen.
Ich weiß nicht, wann ich sie zum ersten Mal bewusst wahrnahm, es steht aber zu vermuten, dass ich Dutzende Male an ihr vorrübergeradelt war, ohne sie auch nur aus den Augenwinkeln zur Kenntnis zu nehmen. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, diesen verwunschenen Ort hinter mich zu lassen. Und als ich sie dann wirklich bemerkte, nahm ich kaum Notiz von ihr, weil sie mir nicht außergewöhnlich erschien. Sie fiel mir erst zu dem Zeitpunkt tatsächlich auf, als ich mir vergegenwärtigt hatte, dass sie, sooft ich auch an ihrem Haus vorbeifuhr, an ihrem Platz war, als schiene sie nur auf mich zu warten.
Ich denke, es war an einem lauen Oktoberabend, als ich auf die alte Frau aufmerksam wurde. Ich hatte, wie häufig in jener Zeit, bis spät in den Abend gearbeitet, und als ich mich nun anschickte, auf mein Fahrrad zu steigen, hatte die Sonne, die den ganzen Tag geschienen hatte, ihre Bahn beendet und begann langsam unterzugehen. Die Dämmerung zog herauf.
Ich hatte einen arbeitsreichen Tag hinter mir, war abgespannt und müde. Die Kinder hatten mich geschafft und ich war mit meinen Klassen kaum fertig geworden. Sie waren lernbegierig, das konnte man nicht abstreiten, aber die Not um sie herum, der Mangel und das Leben, das geprägt war von der ständigen Jagd nach dem Notwendigsten, forderten ihren Tribut. Sie waren unausgeglichen, selten konnte man sie auf eine Sache konzentrieren und manchmal schien es mir, als würden sie von Tag zu Tag aggressiver. Einer der Jungen hatte es mir besonders angetan. Trotz seines Alters von gerade neun Jahren hatte er ganz sicher das Zeug dazu, wenigstens zwei Klassen zu überspringen. Er war wirklich intelligent, das merkte man sofort, aber er war wenig interessiert und überaus aufmüpfig, sowohl mir gegenüber, meinen Kollegen als auch seinen Klassenkameraden. Ich wollte ihm meine ganze Aufmerksamkeit widmen, doch er sträubte sich dagegen, als gelte es, einen Kampf zu gewinnen.
Er war an diesem Tage in eine Rauferei mit mehreren Schülern verwickelt gewesen, bei der es mit überhöhter Brutalität zugegangen war, und ich machte mir Sorgen um seine Gesundheit. Daher hatte ich mir vorgenommen, an diesem Abend noch seinen Eltern einen Besuch abzustatten, doch als ich aus der Schule heraustrat, um zu meinem Fahrrad hinüberzugehen, wurde mir bewusst, dass es schon zu spät war für solch einen Besuch. Also beschloss ich, mich am nächsten Tag darum zu kümmern und radelte los.
Wie gesagt, die Dämmerung war hereingebrochen, aber bis es dunkel war, würde noch etwas Zeit vergehen. Und so fuhr ich langsam, widmete der Gegend mehr Aufmerksamkeit als sonst und freute mich auf meine Allee.
Das kleine Dorf, das ich vorher durchqueren musste, wirkte verlassener als je. Obwohl ich jetzt schneller ausfuhr, fielen mir Dinge auf, die ich bis zu diesem Zeitpunkt übersehen hatte. Die Häuser wirkten durchweg verfallen, verlassen und machten auf mich den Eindruck, als wohnte keine Menschenseele darin. Keine kleineren Zeugnisse menschlichen Lebens waren zu erkennen. Der leichte Wind, der aufgekommen war, eher eine Brise und alles andere als lästig, ließ vereinzelte Sandfontänen über die trockenen Wege wehen. Vor einem Anwesen war der Zaun, bestehend aus morschen, schäbigen Latten, vollständig eingefallen; niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn wieder aufzurichten oder auch nur die Überreste wegzuräumen. Allein das Tor vor der Einfahrt zum Hof war intakt und verwehrte dem Besucher um so nachdrücklicher den Einlass.
Keine Spuren, weder von Menschen, von Tieren noch von Fahrzeugen waren auf den Wegen zu erkennen. Nur meine eigene, einsame Fahrradspur war jetzt im Entstehen, wurde aber gleich wieder zugeweht vom Staub der Landstraße. Es war gespenstisch.
Und dann fiel mein Blick auf das Fenster in dem einzelnen Haus fast am Ende des Dorfes. Vor Schrecken wäre ich beinahe von meinem Gefährt gefallen, so überrascht war ich, in dieser Einöde einem menschlichen Wesen zu begegnen.
Ganz offensichtlich saß dort an diesem Fenster eine alte Frau. Sie saß unmittelbar davor und wandte mir den Rücken zu. Sie trug eine alte, zerschlissene Strickjacke, das konnte ich erkennen. Das graue, strähnige Haar war im Nacken mit einem Knoten festgesteckt worden. Von ihrem Gesicht war nichts zu erkennen, sie war abgewandt, blickte in das Zimmer hinein.
Instinktiv, durch bestimmte Merkmale, die nicht bis an die Oberfläche unseres Bewusstseins gelangen, können wir in den allermeisten Fällen richtig entscheiden, wen wir vor uns haben, einen Mann oder eine Frau. Es gibt Züge im Gesicht einer Frau, die werden wir im Antlitz eines Mannes vergeblich suchen, ebenso umgekehrt. Aber welche Male sind dies? Wer vermag mit Sicherheit zu sagen, woran er das Gesicht einer Frau erkennt? Was machen die Züge eines Mannes aus, außer dass sie härter und schroffer sind. Mit einerdumpfen Gewissheit können wir sie unterscheiden und wir wissen nicht, warum.
Ebenso verhält es sich mit dem Alter eines Menschen. Es fällt uns zwar schwer, die genauen Jahre einer Person zu schätzen, aber wir können sehr gut sagen, ob unser Gegenüber jugendlich oder ein Greis ist.
Gerade in den Zeiten, von denen hier die Rede ist, traf man viele Leute, die durch die Schrecknisse der Welt vorzeitig ergraut waren. Manche von ihnen hatten schon, bevor sie dreißig Jahre zählten, schlohweißes Haar, doch niemand wäre auf die Idee gekommen, sie alt oder greise zu nennen.
Das Haar, das durch die Jahre ergraut ist, unterscheidet sich von dem, das sozusagen über Nacht seine Farbe verloren hat. Letzteres erscheint uns trotz der Gräue oder Weiße noch voll, während das alte Haar dünn geworden und strähnig wirkt, nur noch mit Mühe in der Lage, das Durchschimmern der Kopfhaut zu verhindern. Es ist müde geworden und schwach, deshalb hat es seine Farbe verloren.
Diese Frau, die da an dem Fenster saß (es war eindeutig eine Frau), war alt. Ihr gekrümmter Rücken deutete darauf hin, ihre Kopfhaltung, das weiße Haar.
In der kurzen Zeit, bis sie meinem Gesichtsfeld entschwand, bemerkte ich, dass sie stillsaß, wie eine Statue. Sie bewegte sich um keinen Zentimeter, sie saß nur da und starrte ins Zimmer. Oder sie schlief.
Ich muss zugeben, dass mich diese Begegnung damals nicht im mindesten so berührte, wie es mir im Nachhinein scheinen will. Wäre es bei diesem einen Erlebnis mit der alten Frau geblieben, hätte ich sie mit Sicherheit nach wenigen Tagen vergessen.
Doch schon am nächsten Morgen als ich noch im Dunkeln wieder auf dem Weg zur Schule war, bemerkte ich, dass sie noch immer oder schon wieder in exakt derselben Pose dasaß wie am vorherigen Abend. Der Mond, der noch nicht untergegangen war, warf sein fahles Licht auf die Gestalt, die wie ein Gespenst schien. Sie saß wiederum mit dem Rücken zum Fenster, so dass man ihr Gesicht nicht sehen konnte.
Den anschließenden Tag über hatte ich viel zu tun. Nichts besonderes also. Die Kinder waren zu bändigen, auf jeden einzelnen musste eingegangen werden, sie verhielten sich wie eine Herde junger, ungestümer Pferde. Der Junge, der am gestrigen Tag bei der Keilerei verletzt worden war, verhielt sich dagegen auffällig ruhig. Er folgte dem Unterricht kaum, wirkte abwesend und wenn ich ihn ansprach, zog er sich völlig in sich zurück. In den Pausen hielt er sich demonstrativ abseits von seinen Klassenkameraden, als wolle er durch diese Abgrenzung nur unterstreichen, in welchem Licht er uns alle sah. Ich machte mir Sorgen seinetwegen.
Dann geriet ich zu allem Überfluss in Streit mit einem älteren Kollegen über meine Unterrichtsmethoden. Er meinte allen Ernstes, ich ginge zu nachsichtig und übertrieben weich mit den Schülern um, meine Verfahren wären nicht dazu geeignet, vernünftige Menschen aus den Kindern zu formen. Ich war fassungslos.
Er war ein Vertreter der alten Schule, und ich musste ihm vorkommen, wie ein jugendlicher Heißsporn, als wir uns beide lautstark auf dem Flur unterhielten. Es kam zu einem hitzigen Wortgefecht, in dessen Verlauf einige Dinge gesagt wurden, die besser unerwähnt geblieben wären. In jedem Fall war ich hocherregt als die Schule beendet und das Gebäude weitestgehend leer war. In einem winzigen Teil meines Hirn lauerte aber den ganzen Tag über die seltsame Frau und wartete darauf, hervorzukriechen. Und als ich mich auf den Heimweg machte waren meine Gedanken sofort wieder bei ihr. Ich versuchte so gelassen wie möglich zu sein als ich auf meinem Fahrrad die Stadt verließ und das kleine, unheimliche Dörfchen vor mir auftauchte, aber meine Mühe war umsonst. Je näher ich dem besagten Häuschen kam, diesem einen Fenster, das mich als einziges im gesamten Ort interessierte, desto aufgeregter wurde ich. Ich schien nicht über die Straße zu fahren, die tatsächlich immer noch von der wärmenden Herbstsonne beschienen wurde, vielmehr kam es mir so vor, als kämen die Bäume und Häuser auf mich zu und zogen schließlich an mir vorbei, während sich in meinem zentralen Sichtfeld nur dieses eine Haus befand.
Sie saß wieder da. In eben derselben Positur wie am frühen Morgen, als hätte sie sich den ganzen Tag über nicht gerührt.
Der kurze Moment, in dem ich sie sehen konnte, erschien mir wie eine unendlich lange Spanne, ganz so, als hätte sich die Zeit gerade auf diesem Stück Wegs gedehnt. Ich konnte Einzelheiten erkennen, die mir sicher ohne diese Wahrnehmung verborgen geblieben wären. Ich sah ein winziges Härchen auf ihrem Kopf in einem unbestimmten Luftzug wehen, die Strickjacke, die sie trug, war alt und fleckig und über der linken Seite ihres Gesichtes, derjenigen, die in meinem Blickfeld lag, zog sich ein Netz feinster Runzeln und Fältchen.
Und sie saß ganz stille.
Als ich vorbei war, einige hundert Meter mechanisch weitergestrampelt, war mir, als erwachte ich aus einer Art Trance. Ich konnte wieder klare Gedanken fassen und die erste und drängendste Frage, die ich mir stellte, war die: Wer tut so etwas, wer setzt sich so dicht an ein Fenster und schaut dann nicht hinaus? Hätte die alte Frau gelesen, eine Zeitung oder ein Buch, so wäre es nachvollziehbar gewesen, wenn sie sich gerade so gesetzt hätte, um besseres Licht zu haben. Aber die Frau las nicht, sie saß nur da und starrte ins Zimmer hinein.
Den Rest der Fahrt brachte ich grübelnd hinter mich, ich hatte keinen Blick übrig für die Schönheit der Allee. Die Fragen schwirrten mir durch den Kopf, Fragen, auf die ich keine einzige Antwort wusste.
Von diesem Tag an lag mein Augenmerk bei den Fahrten zur Schule und wieder zurück nicht mehr auf meiner geliebten Allee mit ihren majestätischen Bäumen. Egal welches Wetter herrschte, ob Termine mich drängten oder nicht, ob ich gereizter Stimmung war oder gelassen und heiter, ich beeilte mich mit meinem Fahrrad in dieses merkwürdige kleine Örtchen zu gelangen, dessen einziger Bewohner diese Frau zu sein schien. Und jedes Mal, wenn ich mit angehaltenem Atem an ihrem Haus vorbeifuhr, saß sie da und wartete auf mich, als hätten wir beide eine geheime Abmachung, einen Termin, den wir zwei einzuhalten hatten.
Ich begann tagsüber an die Gestalt zu denken, mir Fragen zu stellen. Was, wenn sie Hilfe benötigte, wenn sie sich nicht mehr bewegen konnte? Sie war immerhin eine alte Frau. Was war, wenn sie schon tot war, gestorben an Hunger und Durst, weil sie unfähig war, auch nur einen Finger zu rühren. Aber jedes Mal, wenn ich solche Überlegungen angestellt hatte und ich konnte auf meiner Fahrt vorbei an ihrem Fenster einen Blick auf sie werfen, schien sie sich zu bewegen, ein winziges Stück nur, die Schulter vielleicht oder den Kopf. Und ich hatte das Gefühl, als würde sie hämisch grinsen über mich, weil ich mir Sorgen gemacht hatte, die völlig unbegründet waren. Ich hatte dann den starken Eindruck, sie würde mich auslachen, obwohl ich doch ihr Gesicht gar nicht zu sehen vermochte.
Das Gesicht! Im Laufe der Tage und Wochen, in denen mich diese Gestalt zunehmend beschäftigte, fiel mir auf, dass die einzige Sache, über die ich wirklich nachgrübelte, ohne dass es mir recht ins Bewusstsein drang, das Gesicht der alten Frau war. Ich hatte einen Körper vor mir, doch sosehr ich mich bemühte, so langsam ich auch fuhr, es war mir nicht möglich, auch nur den kleinsten Blick auf das Antlitz der Frau zu werfen. Unzählige Details, die mich interessierten. Hatte sie die Augen geschlossen oder nicht, blickten sie gütig oder ernst, wenn sie geöffnet waren. Oder war die alte Frau gar blind? War ihr Gesicht von Falten zerfurcht, die Stirn und die Wangen, das Kinn und die Lider? Von Runzeln übersät durch das Auf und Ab eines langen Lebens?
Ich begann nach Hinweisen zu suchen in meiner Umgebung. Unauffällig fragte ich Kollegen aus, Nachbarn und Bekannte von Nachbarn, niemand schien etwas zu wissen über die Frau. Es hatte sogar den Anschein, als wollte niemand über sie etwas erfahren; das Dorf, der kleine unheimliche Ort, durch den ich jeden Tag fuhr, übte offensichtlich eine Art Bann aus auf die Gedanken meiner Gesprächspartner. Jedes Mal wenn das Thema auf diese winzige Ansammlung von Häusern kam, zog sich ein jeder zurück, den ich befragte. Das wenige, das ich trotzdem erfuhr, war nur dazu geeignet, meine Verwirrung zu vergrößern und meine einmal angestachelte Neugierde noch mehr zu forcieren.
Meine Vermieter, die mich bis dahin betreut hatten und sich liebevoll um mich kümmerten, schreckten sogar körperlich ein wenig vor mir zurück, als ich sie eines Tages fragte, ob sie Bescheid wüssten über die Frau im Nachbardorf. Ich beschrieb ihnen die Person und ihr Wohnhaus, aber das war nicht notwendig. Schon in dem Moment, in dem ich den Ort erwähnte, der nur wenige Kilometer entfernt lag, nahmen ihre Gesichter einen Ausdruck an, als hätte ich über das Armageddon geredet. Sie schauten sich beide an, übereinstimmend in ihrem Wissen und in ihren Sorgen, und schwiegen.
Nach langem, gutmütigem Zureden gelang es mir endlich, ihnen einige wenige Fakten abzuringen über das Objekt meiner Wissbegierde.
Wie es schien hatte die alte Frau schon seit jeher einen Ruf des Geheimnisvollen und Mystischen. Die Leute mieden sie und ihren Sohn, der bei ihr lebte, und ebenso war es umgekehrt. In früheren Zeiten wäre sie wahrscheinlich eine Hexe genannt worden, doch jetzt nahm man das Wort nicht in den Mund, und wenn, sprach man darüber nur hinter vorgehaltener Hand. Teufelsanbetung und schwarze Messen, Kräuterfrau und der böse Blick, dazu dunkle Gestalten, die um ihr Haus schlichen. Es war ein wilder Mix aus diversen Zutaten, den ich zu hören bekam. Doch etwas Konkretes, einen Fakt, der begann mit der Formulierung "Ich weiß, dass...", den erfuhr ich nicht. Sicher waren nur einige betrüblich wenige Details. Ihr Sohn war in den Krieg gezogen, wie Hunderttausende anderer junger Männer in dieser Zeit. Und ebenso wie viele andere war er nicht zurückgekehrt. Dieses Schicksal hatte scheinbar ein Großteil der Männer des kleinen Dorfes getroffen. In die Schlacht gezogen mit lautem Hurra, kleinen Kindern ähnlich, die im Walde pfeifen. Den Kampf ausgetragen für andere Herren, das Leben gelassen für einen Grund, den man nicht verstand. Die Frauen und Kinder der Kriegsgefallenen zogen verbittert fort aus dieser Gegend und zurück blieb ein fast vollständig verwaister Ort, in dem nur eine alte Frau ausharrte, auf ihrem Posten am Fenster, als warte sie noch immer auf ihren Sohn. Aber sie schaute nicht hinaus, ihr Blick ging hinein in das Zimmer!
Ich wagte nicht, die Erkundigungen über die alte Frau öffentlich zu betreiben. Allzuschnell wäre ich als Neuling selbst in eine Schublade gesteckt worden, und dort hinauszukommen wäre mir mit einiger Sicherheit leichtgefallen.
Also lebte ich das Leben, das man von mir erwartete, und nur wenn ich mich allein und unbeobachtet wähnte, dachte ich über das kleine Dorf und seine unheimliche Bewohnerin nach.
Ich fuhr die Allee entlang und empfand keine richtige Freude dabei, ich gratulierte mir selbst, wenn ich es wieder einmal geschafft hatte, die Stadt zu erreichen, ohne verflucht worden zu sein oder ähnlichem Teufelszeug zu erliegen, und ich fuhr fort, die Kinder zu unterrichten, obwohl ich mich immer häufiger dabei ertappte, wie ich unkonzentriert war und nicht bei der Sache.
Das Leben in der Schule indes ging seinen gewohnten Gang - meinte ich. Im Allgemeinen ging es recht lebhaft zu in dem Gebäude. Nicht dass die Kinder ausgelassen gewesen wären, fröhlich oder gar übermütig. Das war in dieser Zeit auf keinen Fall erwünscht und die Kinder hielten sich entsprechend daran. Aber eine gewisse Geschäftigkeit, ein emsiges Umherwuseln sozusagen legten die Flure in der Schule selbst in den Unterrichtsstunden an den Tag. Es gab immer Leute, die hier etwas zu erledigen hatten, die von einem Raum zum anderen eilen mussten. Es gab stets etwas zu reparieren oder auszubessern am Haus, was aus naheliegenden Gründen in den meisten Fällen von einem Mitglied des Lehrkörpers übernommen wurde. So war gewährleistet, dass das übliche Leben mit allen seinen Aufgeregtheiten weiterging, und die Veränderungen, die um uns herum erfolgten, von kaum jemandem wahrgenommen wurden.
Der Streit mit dem älteren Kollegen war scheinbar beigelegt. Niemand hatte sich beim anderen entschuldigt, kein Wort des Bedauerns, nicht einmal nur so dahingesagt. Es war einfach so, dass keiner von uns beiden mehr ein Wort über diese unselige Sache verlor. Wir erwähnten sie nicht mehr, wahrscheinlich auch deshalb, weil wir peinlich berührt waren von unserem eigenen Verhalten. Es war unfassbar, wie schnell man die Beherrschung verlieren konnte und alle notwendigen Regeln des Zusammenlebens vergaß. Wir versuchten uns aus dem Wege zu gehen, auch wenn das nicht immer möglich war. Wenn wir uns trotzdem sprechen mussten - dienstlich - so geschah das fortan kühl und mit dem Unterton gegenseitiger Verachtung.
Im Laufe meines kurzen Berufslebens hatte ich es mir zu eigen gemacht, alle meine Schüler mit demselben Respekt zu behandeln. Niemanden bevorzugen, aber auch keinen zu benachteiligen, war meine Devise, mit der ich bis dahin recht gut gefahren war. Allerdings gab es immer wieder Schüler, denen man mehr Aufmerksamkeit zollen mussten, als seinen Kameraden, um sie zu fördern oder zu fordern. Ein solcher war zweifelsohne mein kleiner Freund, der so unrühmlich in eine Schlägerei verwickelt gewesen war. Ich war überzeugt davon, mit etwas Zuneigung und Vertrauen zu ihm, würde ich das Eis, das er um sich herum aufgebaut hatte, brechen können. Und es würde die Mühe lohnen! Seine Augen blitzten mir jedes Mal, wenn wir uns unterhielten wach und intelligent entgegen. Er täuschte Desinteresse vor, ihm schien jedes Gespräch langweilig, aber ich wusste, er war stets auf der Suche nach Gegnern, die sich mit ihm messen konnten.
Doch diese Prügelei und die daraus resultierende Verletzung hatte ihn noch verschlossener und misstrauischer werden lassen. Er ließ sich auf keine Unterhaltung mehr ein und wurde immer einsilbiger. Erkundigte man sich nach seinem Zustand, dann wich er aus und ließ gar niemanden mehr an sich heran. Und gerade dieses Verhalten stachelte mich zu noch mehr Engagement an, gerade sein Widerstand war der Motor für meine Versuche, ihn aus der Reserve zu locken. Es gelang mir sogar zeitweise, die alte Frau zu vergessen, wenn ich mich mit dem Schüler beschäftigte. Ich hatte praktisch zwei Themen gefunden, die sich bei mir zu einer Manie auszuweiten drohten.
Doch die Frau, einsam auf ihrem Wachposten, hielt mich um ein Vielfaches mehr in Atem. Ich fuhr noch immer jeden Morgen und den Abend an ihrem Fenster vorbei und sie schien immer auf mich zu warten. Sie fehlte nicht ein einziges Mal. Es was wie ein Ritual, das da Tag für Tag ablief, stumm und wie inszeniert. Auch an dem Fakt der Bewegungslosigkeit wurde nicht gerüttelt. Sie blieb ebenso starr wie am ersten Abend.
Und ich wurde immer besessener von ihr. Ich habe mir später wieder und wieder die Frage gestellt, warum ich nicht einfach abgestiegen und zu ihr hineingegangen bin. Warum ich nicht den Mut aufbrachte zu einer direkten Konfrontation. Einerseits war mir sicher bewusst, dass die alte Frau mich sehr wohl wahrnahm, dass sie über mich Bescheid wusste und jeden meiner Schritte vorausahnen konnte. Das wusste ich einfach, rational zu belegen war es nicht. Trotzdem sie nie einen Blick auf mich geworfen hatte, kannte sie mich besser als ich mich selbst. Das ahnte und fühlte ich, auf eine nicht zu beschreibende Weise.
Andererseits war ich in meinem Unterbewusstsein froh, dass diese Frau mir ihren Blick nicht zuwandte. Das Ungewisse, was würde ich erkennen, war einfach zu groß. Der Wille und die Macht dieses Wesens am Fenster, das ich nur durch seinen Rücken kannte, schien ungeheuerlich zu sein. Auf irgendeine geheime Weise schienen wir beide verbunden.
Und dann fehlte plötzlich der Schüler, dem ich meine ganze Aufmerksamkeit widmen wollte. Er kam eines Tages einfach nicht zur Schule, niemand wusste, warum er nicht erschien. Ich machte mir Sorgen von dem Augenblick an, in dem ich von seinem Fernbleiben erfuhr.
Am selben Abend besuchte ich die Eltern des Jungen. Und war erschüttert.
Ich hatte sie bis jetzt noch nicht kennengelernt gehabt, und schlagartig wurde mir klar, warum das Kind so misstrauisch und abweisend war. Der Vater war ein trunksüchtiger, grobschlächtiger Bauer, der keine Widerworte duldete und sogar mir Angst einflößte. Die Mutter hatte sich in ihrer häuslichen Situation derart eingerichtet, dass sie ihrem Gatten jeden Wunsch erfüllte, um seinem Zorn nur ja zu entgehen. Es musste eine furchtbare Lage für den Jungen und seine zwei kleineren Schwestern darstellen, denn, wie ich aus dem Gespräch mit dem Vater erfuhr, sah der die Schule als reine Nebensache an.
"Der Junge hat gefälligst für den Unterhalt der Familie zu sorgen", grummelte er. "Nicht umsonst habe ich ihn zehn Jahre durchgefüttert. Soll etwas tun für sein Essen." Dass die Mutter mit dieser Meinung nicht einig war, konnte ich lediglich an ihren Augen erkennen, trotzdem sie nachdrücklich nickte.
"Aber der Junge ist hochintelligent", versuchte ich anzumerken. "Wenn wir ihn nicht schulen, wenn er nicht vorbereitet wird auf das Leben, dann wird er sich sein ganzes Leben lang Vorwürfe machen."
"Das Leben hat für ihn jetzt schon begonnen!"
Das war das Ende der kurzen Diskussion mit einem störrischen, angetrunkenen Mann, der verantwortlich war für das Leben von drei Kindern und einer Frau. Ich war frustriert.
Der Junge lag im Bett und ihn plagten arge Schmerzen. Ich fragte ihn, was der Arzt gesagt hätte, doch der Vater erwiderte, für einen Arzt wäre kein Geld im Haus.
"Der Junge hat Schmerzen", herrschte ich ihn schroffer an als ich wollte. "Sehen Sie nicht, dass er unbedingt einen Arzt braucht?!"
Ich war fassungslos, über die Ignoranz, die sich mir hier bot. Daß dieses Kind hier einen Arzt unbedingt benötigte, darüber herrschte nicht der geringste Zweifel. Doch die Art, in der mit dieser Tatsache umgegangen wurde, ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Unfähig, auch nur ein einziges weiteres Wort zu verlieren, verließ ich die Familie mit Gefühlen, widerstreitend zwischen Ekel, Abscheu und grenzenlosem Mitleid. Mir war klar, daß ich etwas unternehmen mußte.
Und das tat ich schon am nächsten Morgen. Nachdem ich meinen Pflichtbesuch bei der alten Frau am Fenster absolviert hatte, konsultierte ich einen jungen Arzt, mit dem ich eine lockere Bekanntschaft pflegte und von dem ich wußte, daß er mir helfen würde. Gemeinsam kehrten wir bei der Familie ein, die uns offensichtlich nicht erwartet hatte.
Nach einer kurzen Untersuchung des Jungen, der nunmehr apatisch dalag, war die Diagnose klar. Mehrere gebrochene Rippen, jede Menge Schürfungen und einige Quetschungen. Alles eben, das man bei einer Schlägerei davontragen konnte. Der Arzt wies den Jungen sofort in ein Krankenhaus ein.
Ich begleitete ihn, um es ihm ein wenig leichter zu machen, doch der Junge wirkte völlig abwesend, als hätte er überhaupt kein Interesse an seinem Schicksal. Er blickte starr geradeaus und wenn man ihn ansprach, wandte er die Augen nur ganz kurz, um sie dann wieder auf einen Punkt zu richten, der irgendwo weit weg zu liegen schien.
Ich verspätete mich um einige Minuten in der Schule. Der Unterricht hatte schon begonnen, und vor meinem Klassenzimmer wartete der alte Kollege auf mich, mit dem ich in Streit geraten war.
Demonstrativ sah er auf seine Uhr und sagte mit triefendem Sarkasmus in der Stimme: "Das ist also Ihre Art, aus den Schülern vernünftige Menschen zu machen, die wissen, daß es auch auf Pünktlichkeit ankommt im Leben."
Ich wollte wortlos an ihm vorbeieilen, um einem neuen Streit aus dem Wege zu gehen. Doch er baute sich vor mir auf und schien nur auf ein falsches Wort von mir zu lauern.
Das letzte was ich in dieser Situation gebrauchen konnte, war ein eskalierender Streit mit einem Kollegen. Doch ich sah den blanken Haß in seinen Augen, der Haß des Alters auf die Jugend, wie ich annahm.
"Lassen Sie mich in meine Klasse!" sagte ich so fest ich konnte.
"Sie sind doch das allerletzte", zischte er mir entgegen. "Durch Leute wie Sie gerät die ganze Ordnung durcheinander, Menschen mit Ihren Ansichten sind die wahren Störenfriede der Welt. Nichts ist ihnen gutgenug, Sie stellen alles in Frage."
"Wir haben verschieden Auffassungen von unserem Beruf", versuchte ich ihn zu beruhigen. "Aber im Prinzip ziehen wir beide am selben Strang."
Dann passierte etwas, das ich bis heute nicht verstehe und das mir immer noch Angst macht. Der Alte machte einen Schritt auf mich zu und hob die Hand. Im ersten Augenblick meinte ich, er wolle sein Haar richten um danach eine neue Haßtirade gegen mich zu starten. Doch völlig unerwartet und nicht vorherzusehen schlug er mich mit der Faust gegen meine Schläfe.
"Das soll Sie lehren, das Alter zu achten", keifte er mit schriller Stimme und begann auf mich einzutrommeln. Immer härter wurden seine Schläge und ich konnte mich nur ducken und versuchen,sie mit den Armen abzuwehren. Und dann schlug ich zu, einmal nur, aber so fest ich konnte. Ich hatte mich gewehrt, das versuchte ich hinterher mir und allen anderen einzureden, doch im Inneren wußte ich es besser. Ich hatte darauf gewartet, daß er mich angriff, der Haß gegen ihn saß so tief, daß ich ihm körperlich Ausdruck verleihen wollte. Im selben Moment, in dem meine Faust sein Gesicht traf, wurde mir das blitzartig klar.
Scham und Reue erfüllten mich, als der alte Mann davonhinkte. Es war eine Flucht, wie er den leeren Flur in gebückter Haltung davonschlich.
Niemand hatte unseren Ausbruch bemerkt, der Unterricht war in vollem Gange, und ich eilte in meine Klasse und versuchte, den Vorfall zu vergessen und den Tag fortzusetzen, als wäre nichts geschehen.
Nur zu natürlich, daß mir das nicht gelang. Immer wieder mußte ich an den Vorfall denken, der mir zutiefst peinlich war und den ich mir nicht zu erklären vermochte. Ich gab den Kindern Aufgaben und eine Zeitvorgabe, um in Ruhe überlegen zu können.
Zu Beginn redete ich mir ein, die alleinige Schuld liege bei meinem Widersacher, dem alten Kollegen, der mich herausgefordert hatte und auf dessen Angriff ich lediglich reagiert hatte. Es war reine Notwehr, sagte ich mir. Doch das war eine Lüge. Je länger ich nachdachte, desto klarer trat vor meine Augen, ich hatte ihn mit purer Absicht provoziert. Irgendwie hatte ich mir gewünscht, er möge zuschlagen, damit ich anschließend auf diese Weise kontern würde können.
Ich fühlte mich elend, und ich war froh, als der Unterricht endlich beendet war. Körperlich hatte ich keinen Schaden davongetragen, die Schläge des alten Mannes waren dazu nicht hart genug gewesen. Ich konnte nur hoffen, daß ich ihn nicht verletzt hatte.
Ich machte an diesem Tage recht früh Feierabend, um im Krankenhaus vorbeischauen zu können. Der Junge sah in etwa so elend aus, wie ich mich fühlte. Allerdings kam es mir so vor, als wäre er nicht mehr ganz so apathisch wie in den vergangenen Tagen. Er blickte wacher und interessierter, und das erfüllte mich mit Freude. Das kurze Gespräch mit ihm bildete einen kleinen Hoffnungsschimmer für diesen Tag.
Dieser wurde aber schon frühzeitig wieder zunichte gemacht. Als ich den Weg hinter mich gebracht hatte, durch das unheimliche Dorf, vorbei an der alten Frau - von der ich zunehmend den irrealen Eindruck hatte, sie wache über die Geschehnisse der Umgegend - meine geliebte Allee entlang und schließlich endlich angelangt war in meinem Heim, wartete die Vermieterfrau schon völlig aufgelöst vor der Haustüre auf mich. Die alte Frau zitterte vor Aufregung am ganzen Körper und war den Tränen nahe. Unter Schluchzen und mit erstickter Stimme teilte sie mir mit, dass Einbrecher das Haus heimgesucht und fast den gesamten Keller leergeräumt hatten. Tränen liefen ihr über die Wangen, als wir in der Küche saßen und sie mir erzählte. Ihr war anzusehen, dass sie die Dreistigkeit und die Frechheit der Verbrecher nicht zu fassen vermochte. Eingemachtes Obst hatten sie gestohlen und geräucherte Wurst, die damals in Gold aufzuwiegen war. In jenen Zeiten kam es häufig vor, daß Menschen sich gegenseitig Lebensmittel stahlen, ja dafür sogar Gewalt anwandten. Doch diese hier waren eine besonders abscheuliche Spezies. Nicht nur daß sie den beiden alten Leuten ihr Essen nahmen, das sie den Sommer über mühevoll zusammengesucht hatten. Zur Krönung ihres Raubzuges zerstörten sie sämtliches Mobiliar, dessen sie im Keller habhaft wurden. Sie hatten Scheiben zerschmettert und Schränke zerstört, die Räume des Kellers waren eine einzige Wüstenei. Ob der Überfall des Nachts stattgefunden hatte, als alles schlief oder ob sie am Tage gekommen waren, als das Haus leer war, vermochte meine Vermieterin nicht zu sagen. Es war jedoch wahrscheinlich, dass sie das Haus über Tage heimgesucht hatten, da der Lärm vermutlich sämtliche Bewohner geweckt hätte.
Der Hausherr hatte ob der Verwüstungen einen Schock erlitten, als er am frühen Nachmittag hinabgestiegen war. Er hatte sich furchtbar aufgeregt, erklärte mir seine Gattin, soweit, daß er schließlich mühevoll nach Luft ringen mußte. Und dann war er zusammengebrochen. Voller Panik hatte sie den Arzt verständigt und der hatte ihn umgehend in das kleine Krankenhaus geschickt. Zur reinen Vorsorge, wie er versichert hatte.
Ich schlief unruhig in dieser Nacht. Träume, wie im Fieber plagten mich, voll von Gewalt und Aggressionen. Unzusammenhängend und auf geheimnisvolle Weise doch zusammenpassend. Einige Male wachte ich auf, schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd. Ich lag in der Finsternis und benötigte mehrere Minuten, um zu erkennen, wo genau ich mich befand. Ich vermutete damals, eine erste Grippe in diesem Jahr würde sich ankündigen. Ich lag so falsch! Nicht ich war krank.
Elend fühlte ich mich am folgenden Tag noch. Ich hatte das Gefühl mitverantwortlich zu sein für die Vorfälle in der Gegend, für die Gewalt und den Haß, der so plötzlich wieder zu Tage getreten war. Und als ich mit dem Fahrrad an dem Haus vorüberfuhr, spürte ich in mir, daß wir zusammengehörten, die alte Frau, die täglich auf mich wartete und sich nie bewegen zu schien, und ich.
Ein leichter Nebel lag über den Landen, als ich das Dorf durchquerte und er machte mich frösteln. Ich sah die reglose Frau und fragte im Stillen: Was hast du damit zu tun, alte Frau? Bist du schuld am vielen Unglück, das sich schon wieder in dieser Gegend breit macht?
Obwohl es vollkommen sinnlos schien, irgendeinen Zusammenhang herzustellen zwischen einer gebrechlichen, alten Frau, die offensichtlich nicht einmal imstande war, sich zu bewegen und dem Unheil, das um mich herum hereinbrach, kam es mir doch logisch vor, diese Frage auf ebendiese Art zu stellen.
Auch über der Schule schien ein Schleier zu haften, der kaum durchdringbar schien. Die Schüler waren außergewöhnlich still, sie folgten dem Unterricht oder zumindest hatte es den Anschein. Ich versuchte weiterhin, ihnen beizubringen, was ich wußte, Begeisterung bei ihnen zu wecken, dazu war ich nicht fähig. Voll ängstlicher Neugier hatte ich versucht einen Blick auf meinen Kontrahenten zu werfen, von weitem nur, natürlich. Aber ich brauchte mich nicht zu verstecken, er hatte sich sofort nach unserer Auseinandersetzung krank gemeldet. Ohne Angabe von Gründen war er zu Haus geblieben, er fühle sich nicht wohl.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, und für einen Moment überlegte ich mir, ihn zu besuchen. Doch diesen Gedanken verwarf ich wieder.
Die anschließenden Tage zogen in ihrem Gleichmaß an mir vorüber, ohne daß ich es kaum bemerkte. Ich fuhr zur Arbeit, unterrichtete, hielt mich im Anschluss noch etwas auf in der Schule und begab mich dann ins Krankenhaus, wo zwei Personen auf mich warteten. Mein Vermieter war bald genesen, er hatte keine gravierenden Schäden davongetragen, außer das Misstrauen in die Welt, das jetzt stärker war. Er freute sich jedes Mal wenn ich kam, wir unterhielten uns kurz, und wenn ich wieder ging machte er eine Bemerkung, daß er am nächsten Tag mit mir kommen würde, das Krankenhaus verlassen.
Bei meinem jungen Freund war die Sache schwieriger. Er lebte auf, keine Frage. Mit jedem Besuch, den ich ihm abstattete, gewann er mehr und mehr sein Interesse am Leben zurück, soweit er es jemals vorher in diesem Maße besessen hatte. Ich hatte den Eindruck, die Umgebung, die Atmosphäre im Krankenhaus, die Ärzte und Schwestern, die sich um ihn kümmerten und ihm das Gefühl gaben, jemandem sei etwas an seinem Wohl gelegen, taten ihm außerordentlich gut. Und er schien sich tatsächlich zu freuen, mich zu sehen.
Körperlich machte sein Genesungsprozess nicht so sichtbare Fortschritte. Das Gegenteil war eher der Fall. Der Arzt sprach von Komplikationen und einem möglichen Rückfall. Eine gebrochene Rippe schien ihm mehr Kopfzerbrechen zu bereiten, als er zuzugeben bereit war.
Nichtsdestotrotz freundete ich mich mit dem Jungen an. Zum ersten Mal sprach ich ihn mit seinem Vornamen an: Mark. Es war eine Art Besiegelung unserer Freundschaft. Er zeigte sich einverstanden und ich hatte darauf schon lange gehofft.
Wir unterhielten uns so lange es ging. Meist war der Schlusspunkt unserer Gespräche die Schwester, die mich freundlich aufforderte zu gehen, weil die Besuchszeit schon längst beendet sei. Oft ließen wir uns dadurch nicht im geringsten stören und diskutierten weiter, bis sie mich ein zweites und ein drittes Mal, energischer jetzt, aufforderte zu gehen.
Die Themen, über die wir redeten, waren stets dieselben. Es ging im Kern um die Verwirklichung des eigenen Lebens, der Wünsche des Einzelnen, seiner Ziele und ihr Erreichen. Es zeigte sich, daß er sich in seiner selbstgewählten Abgeschiedenheit mehr Gedanken darüber machte, als ich es für möglich gehalten hatte. Für einen Neunjährigen war es geradezu phänomenal, über welche Themen er sich Gedanken machte. Er hatte Ansichten, die ich einem achtzehnjährigen noch nicht zugetraut hätte. Und je aufgeschlossener er wurde, desto geistreicher wurden die Gespräche, die wir führten.
"Was willst du später werden?" fragte ich ihn.
"Besser", antwortete er lakonisch. "Ich arbeite an mir."
"Warum versteckst du dich in dich selbst?"
"Warum rollt sich der Igel ein, was treibt die Schildkröte unter ihren Panzer?"
Ich vergaß die alte Frau und freute mich auf meine Besuche im Krankenhaus.
Und dann kam der Tag, an dem mein Vermieter entlassen werden sollte. Man hatte ihn mehrere Tage beobachtet und war zu dem Schluss gekommen, dass er wiederhergestellt war, zumindest soweit, daß er seine Pflege zu Haus fortsetzen konnte. Der Tag war ebenso gleichförmig verlaufen wie die vorangegangenen, die Schule und die anschließende Visite im Krankenhaus. Ich war vorbereitet, den alten Mann nicht mehr vorzufinden, er hatte mir von seiner bevorstehenden Heimkehr erzählt.
Doch als ich das Hospital betrat, kam mir schon der behandelnde Arzt von Mark entgegen. In dem Augenblick, in dem ich sein Gesicht sah, wusste ich, es war etwas furchtbares geschehen. Doch wie schrecklich es war, konnte ich nicht ahnen.
"Er ist tot", sagte der Arzt tonlos. "Wir haben Mark verloren."
Die eine Rippe, die noch Sorgen gemacht hatte, war dem Jungen zum Verhängnis geworden. Sie hatte sich in den rechten Lungenflügel gebohrt, unbemerkt vorerst, aber mit tödlichen Folgen. Der Doktor vermutete, dass das Kind nicht geringe Schmerzen gelitten hatte, aber es hatte sich nicht geäußert. Und als der Junge sich dann mitteilte (die Schmerzen mussten unerträglich geworden sein), da war es zu spät.
In dem Bestreben, mich auf einen Stuhl zu setzen, fiel ich der Länge nach auf den Boden. Ich wusste, ich sollte etwas fühlen, Trauer oder Mitleid zumindest, aber ich war völlig leer. Der Arzt half mir wieder auf und erkundigte sich, ob es mir gut ginge. Ich brachte ein Nicken zustande.
Mit einer erschreckenden Logik dachte ich über meine Gefühle nach. Ich hatte für kurze Zeit einen Freund gefunden, die Einsamkeit, die mich ohne Zweifel so viele Monate umgeben hatte, war zerrissen worden. Doch nun stürzte die Finsternis umso grauenvoller auf mich ein.
Draußen war es schon dunkel, als ich auf die Straße trat und auf das Fahrrad stieg. Es war eine angenehme, laue Mondnacht. Einige Wolken zogen am Himmel, aber es waren eher Fetzen, als dass sie das Licht des Mondes zu behindern imstande waren. Es war fast taghell und als ich mich betäubt auf mein Fahrrad schwang, glitt vor mir mein dunkler Schatten her.
Aus der Stadt heraus und auf die Landstraße fuhr ich, ohne daß ich viel von der Umgebung erfuhr. Ich war in Gedanken versunken, ich horchte in mich hinein und versuchte immer noch, irgendeine Art Gefühl zu entdecken. Doch ich fand nur absolute, trostlose Stille vor.
Als ich die Grenze zu der kleinen, gespenstischen Ortschaft passierte, traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag: Ich war allein! In meiner Nähe wurden viele, allzu viele Menschen von Unglück heimgesucht, schreckliche Dinge stießen ihnen zu und ich konnte es nicht verhindern.
Dieser Gedanke brachte mich auf direktem Wege zu der alten Frau. Was hatte sie damit zu tun? Sie hatte etwas damit zu tun!
Und so kam es, daß ich zum ersten Male anhielt vor ihrem Haus, vor ihrem Fenster. Ich stieg vom Fahrrad und schaute hinüber zu der reglosen Gestalt. Das Mondlicht fiel auf ihren Rücken und verlieh ihr ein unnatürliches Aussehen. Das Fenster, in dem sie sichtbar war, erschien wie ein Bild, wie ein Gemälde eines alten Meisters inmitten dieser dunklen, nur unzureichend beleuchteten Welt. Ich stand da, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hielt das Fahrrad in meiner Hand und starrte sie an. Ihre Figur füllte mein Hirn zur Gänze aus, es füllte mein gesamtes Inneres, und mir kam zu Bewußtsein, daß ich besessen war von dieser Frau, seitdem ich sie das erste Mal erblickt hatte.
Irgendwann glitt mir das Fahrrad aus der Hand und fiel auf den Weg. Es kümmerte mich nicht, ich nahm es nur nebenbei wahr. Das Geräusch des Metalls, das auf dem Pflaster aufschlug, war das einzige, das für einen kurzen Moment herrschte. Der Wind hatte nachgelassen und war schließlich ganz abgeebbt, die Vögel hatten ihren Gesang eingestellt, keine Tiere waren zu hören. Die Stille war unnatürlich und doch überaus passend.
Dann wurde ich wütend auf diese Person, die mich zu narren schien, indem sie mir den Rücken zukehrte, unbeteiligt wirkte, als hätte sie tatsächlich mit dem Ganzen hier nichts zu tun. Aber ich wußte, wie man etwas nur wissen kann, daß sie der Ausgangspunkt war, der eigentliche Auslöser der Tragödien, die um mich her passierten.
Und so baute ich mich auf der Straße auf in meiner ganzen Größe und schrie ihr aus Leibeskräften entgegen: "Zeige dich! Komm heraus!"
Stille! Immer noch. Das ganze Dorf wirkte wie tot. Ich war unschlüssig. Das Gesicht, dachte ich, das Gesicht will ich sehen.
Ich hatte nur noch das Antlitz der Frau im Sinn. Und während in mir die Überzeugung immer stärker wurde, daß sie es war, die für alles verantwortlich zeichnete, bewegte sie sich.
Langsam, mit einer Behäbigkeit, die an Arroganz grenzte, drehte sie ihren Oberkörper in meine Richtung. Zentimeter für Zentimeter schob sich ihr Leib durch die Luft, die zäh und dickflüssig zu werden schien. Und ganz sachte wandte sie mir ihr Gesicht zu.
Sie lächelte mich an. In ihr uraltes, von Runzeln übersätes Antlitz schien dieses Lächeln hineinzugehören, niemals hatte sie irgendetwas anderes getan. Dann winkte sie mir, und schaute plötzlich ernst und gar nicht mehr freundlich. Eine Stimme in meinem Kopf sagte: "Komm herein zu mir! Ich warte auf dich!"
Wäre ich in diesem Moment auch nur einer Regung fähig gewesen, ich hätte mich auf mein Rad geschwungen und wäre davongebraust, wie der besagte Wind. Doch nicht ein Glied konnte ich rühren, ich stand auf der Straße und starrte noch immer hinüber zu ihr. Und wieder ertönte die Stimme in meinem Kopf.
"Komm! Komm zu mir! Ich brauche dich."
Warum bewegte sich mein Fuß kein Stück vorwärts, obwohl ich doch all meinen Willen anstrengte und mein Gehirn doch dem Körperteil den unmißverständlichen Befehl gegeben hatte?! Mir war, als führten meine sämtlichen Glieder, Arme wie Beine, die Hände und Füße ein Eigenleben und waren nicht mehr zu steuern.
Doch von einem Augenblick auf den anderen befand ich mich vor dem Tor und war dabei, es aufzustoßen. Ich hatte mich aufgemacht, das Grundstück der alten, mysteriösen Frau zu betreten und hatte davon nichts mitbekommen.
Der Hof war in gespenstisches, fahles Mondlicht getaucht, vereinzelt lagen Holzstücke herum, in der Mitte stand ein riesiger Hauklotz. Man konnte Blut an seinen Rändern erkennen, als wäre vor kurzem ein Tier geschlachtet worden. Die Stallungen, durch die dieses Grundstück eingeschlossen war, waren verfallen, die Türen standen offen oder hingen schief in ihren Angeln. Ein Geruch der Verwesung lag über allem, Fliegen umschwirrten mich.
Die Eingangstür zum Haus stand ebenfalls offen - wie eine schwelende Wunde. Zögernd trat ich näher und nur allmählich wurde ich mir meines Tuns vollends bewußt. Ich hatte den Hof wie ein Einbrecher betreten, und doch fühlte ich mich eingeladen.
Aus dem Inneren des Hauses quoll nur Finsternis hervor, unergründlich und bedrohlich und mein kurzzeitig aufkeimender Mut war wieder verflogen gleich den Blättern der Linden, die vom Herbstwind davongetragen worden waren.
Ich schob die Tür beiseite und wagte es vorsichtig einzutreten. Mit größtem Bedacht setzte ich einen Fuß in das Haus, dann noch einen, und als ich einige Schritte gegangen war, da wußte ich plötzlich mit niederschmetternder Gewißheit, daß es nun kein Zurück mehr gab für mich. Ich hatte soeben mein Leben hinter mir gelassen, und ein neuer Abschnitt lag vor mir. Eine Kreuzung war dies hier, ein Scheideweg.
Drinnen war es nicht halb so dunkel wie es von außen den Anschein gehabt hatte, aber mindestens ebenso verlassen und verfallen. Ich kam in eine Art Veranda, in der eine alte, verwitterte Anrichte, von der die Farbe abblätterte, stand und den kleinen Raum beherrschte. Durch die Glastüren des Möbelstückes konnte ich erkennen, daß in seinem Inneren nichts war, außer einer zentimeterdicken Staubschicht. Der Eindruck, den dieses Zimmer machte, war traurig und verlassen. Ebenso wirkte der Raum, der sich hinter der nächsten Tür verbarg. Abgewetzte Möbel, ein dunkler, schäbiger Tisch in der Mitte, keine Bilder an den Wänden, Tapeten, die vergilbt waren und schimmelten. Das ganze Haus schien unbewohnt und kalt.
Spinnenweben hingen in den Ecken, ihre Enden wehten leise in einem unangenehmen, eisigen Durchzug. Die Fenster waren größtenteils scheibenlos, die kalte, mondbeleuchtete Welt, die man dorthindurch sah, erschien unglaublich weit entfernt. Ein neues Leben!
Von diesem trostlosen Raum ging wiederum nur eine Türe ab. Sie war geschlossen, erweckte aber keinen besonders stabilen Eindruck. Dahinter verbarg sich ein ebenso schmutziges Zimmer, das aber im Gegensatz zu dem vorherigen vollkommen leer war, bis auf eine kleinen Kinderbadewanne, die in der Mitte stand. Sie war gußeisern, verziert bis in die kleinsten Einzelheiten und wirkte wie aus einem gutbürgerlichen Haushalt entnommen. Langsam ging ich auf die Wanne zu, hohl klangen meine Schritte und einsam. Ich konnte Ringe auf dem Wasser erkennen, Bewegungen des Nasses, als wäre gerade eben erst das Kind aus dem Bade genommen. Bedächtig tauchte ich meine Hand in die Flüssigkeit. Sie war angenehm warm. Als ich zögernd die Hand heraushob, ließ ich sie einen Moment über dem dunklen Spiegel schweben. Mit quälender Behäbigkeit löste sich ein Tropfen von der Haut und erzeugte erneut Ringe, als er endlich auf die Wasseroberfläche auftraf. Ich hörte das Geräusch des Tropfens mit übernatürlicher Deutlichkeit und auch das leise Plätschern der Wellen vermochte ich wahrzunehmen. Obwohl mir ein Teil meines Verstandes sagte, daß dies unmöglich sei, wunderte ich mich nicht darüber.
Als ich aufblickte, war ich plötzlich und ohne Übergang in dem Zimmer mit der alten Frau. Die Wanne war verschwunden, stattdessen stand am Fenster ein zerschlissener Sessel, in dem die Gestalt in würdevoller Pose thronte. Ich konnte nur ihre Umrisse erkennen, das Mondlicht, das durch das Fenster fiel, war zu grell. Außerdem saß sie wiederum mir abgewandt, so daß ich keinen Blick auf ihr Gesicht hatte.
Sie war wieder völlig bewegungslos, es herrschte Totenstille, und eine Spannung lag in der Luft, die unerträglich war. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich jedes Detail der Frau in mich aufzunehmen. Ich ahnte mehr als daß ich sah wie ihr Nasenflügel bebte, ein Lufthauch fuhr durch ihr Haar und ließ einige feine Strähnen schweben. Ich versuchte einen Schritt auf sie zuzumachen, doch meine Beine versagten mir zum zweiten Male den Dienst. Ich konnte nur hilflos dastehen und abwarten. Ich spürte, daß ich ihr ausgeliefert war, aber es machte mir nichts aus. Eine wohlige Wärme umfaßte mich und mir kam der widersinnige Gedanke, ich wäre zu Haus. Die Neugierde war abgefallen von mir- kein Wissensdurst mehr, kein Lechzen nach Wahrheiten.
"Du bist gekommen", sagte die Alte.
Obwohl ich es nicht wollte, setzte ich ein weiteres Teil dem Puzzle hinzu: die Stimme. Sie war brüchig und müde, doch man fühlte förmlich den früheren starken Willen darin.
Sie bewegte sich immer noch nicht.
"Du meinst, du hast mich gefunden."
"Ja", sagte ich.
"Das ist falsch", erwiderte sie."Gesucht habe ich dich. Und du bist mir gefolgt. Ich habe dich gerufen und du bist gekommen."
"Das ist nicht wahr. Sie sind mir aufgefallen. Und aus freiem Willen kam ich hierher um Sie kennenzulernen."
"Du weißt, daß es nicht so ist. Warum ist der Junge gestorben?"
"Seine Zeit war gekommen."
"Unsinn!" Sie wurde wütend. Mit einem Ruck drehte sie sich um und starrte mich an. "Völliger Unsinn! Ich bin schuld. Hörst du? Ich trage die Verantwortung. Ich habe nicht verhindern können, daß es so kam."
Ihre Augen funkelten vor Zorn. Ich wich einen Schritt zurück, doch dann stieß ich mit dem Rücken gegen die Wand. Langsam kehrte die Angst wieder, und mit ihr das Unverständnis.
"Das kann nicht sein", wandte ich ein. "Sie haben keinen Anteil am Tod des Jungen. Wie hätten Sie ihn verhindern können? Sie haben sich nicht einen Millimeter aus ihrem Haus bewegt."
"Das ist richtig. Das brauche ich nicht. Ich hätte es trotzdem verhindern müssen, aber ich bin zu schwach, zu alt. Sieh mich an! Meine Hände zittern, der Kopf wackelt, es bereitet mir Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Mit diesem Körper bin ich zu nichts mehr nütze."
Ich war peinlich berührt von diesem offenen Selbstmitleid der alten Frau. Mir fiel keine passende Antwort ein.
"Du mußt helfen", fuhr sie stattdessen fort. "Ich habe dich gerufen, darum bist du hier. Ich werde nicht mehr lange durchhalten, und dann wird alles noch schlimmer werden."
"Aber ich verstehe nicht. Wie sollte ich Ihnen helfen können?"
"Nicht mir, du Dummkopf, allen! Du mußt uns allen helfen. Ich bin ganz unwichtig, und du auch. Was zählt ist die Gemeinschaft."
"Aber ich verstehe noch immer nicht. Erklären Sie es mir! Sagen Sie mir, was hier vorgeht."
"Hast du es immer noch nicht begriffen? Du bist der Retter, wie ich es war vor vielen Jahren. Und in ebensovielen Jahren ein anderer das sein wird. Setz dich!"
Damit wies sie mit dem Kopf auf einen Stuhl, der in einer Ecke stand. Er war alt und verbraucht, wie alles in diesem Haus. Ich zog ihn mir heran, bis ich der Greisin gegenübersaß.
"Glaubst du an Gott?" fragte sie mich.
Ich war verwirrt, hatte ich doch mit solch einer Frage am wenigsten gerechnet. "Was hat das damit zu tun?"
Doch sie fragte noch einmal :"Glaubst du an Gott?"
Zögernd gestand ich : "Ja."
"Das brauchst du nicht."
Verblüfft schaute ich sie an, und sie lachte. "Im allgemeinen wird davon ausgegangen, daß, wenn es einen Gott gibt, auch ein Gegenpart existiert. Das Gute, auf der einen Seite und auf der anderen das absolut Böse. Wir wissen, das ist der Teufel, Satan. Wir wissen auch, Luzifer war der bevorzugte Engel Gottes. Er war schön, stolz - und überheblich. Er glaubte, Gott herausfordern zu können. So wurde er Rebell und schließlich der Gefallene Engel. Er wurde verbannt in die Hölle, trotzdem ließ sein Stolz nicht nach - er nahm den Kampf auf gegen Gott. In der Apokalypse 12,4 wird gesagt, ein Drittel aller Engel hätte sich gegen Gott empört, sie wechselten die Seite. Das ist ein Haufen Dämonen, nicht wahr. Salomon, König Israels, wollte sie zählen. Durch eine List lockte er sie in eine riesige Flasche, nahm sie gefangen und zählte sie. Er kam auf 6666 Teufel. Johann Weyer ermittelte im 16. Jahrhundert genau 7 409 127 Widersacher, aufgeteilt in 79 Fürstentümer. Eine Menge Arbeit für Gott. Kaum zu bewältigen. Viel Wahres daran, glaub mir. Aber nicht alles, alles trifft nicht zu."
Ich nickte und war beeindruckt von soviel Fakten. Man konnte stehen dazu wie man wollte.
"Denn es ist viel schlimmer!" kreischte sie plötzlich. Ich zuckte zusammen, sie schien Blitze zu schleudern.
"Gott existiert nicht."
Stille ob dieser bedeutenden Aussage. Ich wollte ihr erklären, daß man nicht beweisen konnte, daß etwas nicht existierte, doch sie fuhr fort.
"Aber das Böse sehr wohl. Er kann machen, was er will, der Versucher, in all seinen Gestalten. Wir sind ihm schutzlos ausgeliefert."
"Das ist eine Glaubensfrage."
Doch sie war vertieft in ihrer Erzählung. Sie blickte mich nicht an und schien mich auch nicht zu hören. Ganz in sich selbst versunken brachte sie sich die Geschichte selbst dar.
"Wir sind wenige Ausgewählte. Wir sind verstreut über die Lande und haben die Pflicht, die Menschen zu schützen. Wovor? Nenn es den Teufel, Satan, das Böse oder die Versuchung. Die Namen sind verschieden, aber es ist immer das Gleiche. Menschen tun sich gegenseitig Leid an, sie bringen sich um, es interessiert sie nicht, was mit ihresgleichen geschieht. Es ist ihnen gleichgültig, was mit Menschen passiert. Die Humanität, die Menschlichkeit hat einen schweren Stand, seit sich der Homo sapiens sapiens entschloß, sich zu zivilisieren. Er erfand Normen und Regeln, die das Zusammenleben erleichtern sollten, Tabus, die zu übertreten sich niemand wagen dürfte, wollte er Mitglied dieser Gemeinschaft sein. Oberflächlich betrachtet sind diese Gesetze gültig. Doch sie wurden immer schon übertreten. Man hielt sie einfach für nicht wichtig genug. Wir kämpfen gegen diese Dämonen, ich und meinesgleichen. Wir helfen den Menschen, ihre Triebe zu kontrollieren, damit sie damit so umgehen können, daß sie niemandem schaden. Über Äonen von Generationen hinweg wurde dieser Stab von einem zum anderen gereicht, er wurde eingewiesen in diese hehre Kunst und mußte ihr ein Leben lang dienen. Bis er zu schwach wurde. Dann sucht er sich seinen eigenen Nachfolger.
Wir halten die Versucher in Schach, wir pressen sie unter die Oberfläche, mit all unserer Kraft, und sollte diese Kraft nachlassen, kann es zu schlimmen Dingen kommen. Kinder werden getötet, sinnlos, es herrscht Gewalt allerorten, die Menschen werden aggressiv, aggressiver als sonst, anfällig für die Verlockungen des Bösen. Und niemand weiß warum dies geschieht."
"Das sind Dinge, die Sie mir erzählen, die zu glauben sehr schwer sind", sagte ich schüchtern. "Sie geben sich selbst die Schuld für all das Elend auf der Welt, die Not, die Gewalt. Bei allem Respekt, schätzen Sie sich nicht einwenig zu hoch ein?"
Die Alte schien amüsiert zu sein. Um ihre Augenwinkel bildeten sich winzige Fältchen. Ich mußte erkennen, daß sie lautlos in sich hineinlachte.
"Ich will dir beweisen, daß ich Recht habe." Sie schloß die Augen. "Ich muß vorsichtig sein. In jungen Jahren war ich fähig für solche Kunststücke. Du weißt wahrscheinlich, daß der Teufel auch Herr des Misthaufens oder Herr der Fliegen genannt wird."
Ihre Stimme war leise geworden, so daß ich Mühe hatte, ihre Worte zu verstehen. Ich hörte ein Rauschen, das anschwoll und immer lauter wurde. Ich blickte mich um, aber ich konnte den Ursprung diese Geräusches nicht erkennen. Doch es wurde von Sekunde zu Sekunde lauter. Entsetzt blickte ich die Alte an. Doch sie schien das Surren überhaupt nicht wahrzunehmen.
Panisch und voller Schrecken sprang ich auf, während die Frau mir gegenüber völlig ruhig blieb. Das Summen, wie aus tausend verschiedenen Kehlen hatte ohrenbetäubende Ausmaße angenommen, es schien von allen Seiten zu kommen.
Und dann sah ich die Ursache. Millionen und Abermillionen winziger Fliegen drangen in dichten, schwarzen Schwärmen ins Zimmer ein. Sie durchflogen, ich schwöre, die Wände des Gebäudes und schienen aus dem Nichts aufzutauchen. Der ganze Raum bebte von dem Lärm und überall bildeten sich dunkle Wolken, die immer dichter wurden. Ich hielt mir die Ohren zu und mußte angeekelt feststellen, daß sich die Fliegen schon auf meinem Körper und in den Ohren befanden. Ich wollte schreien, doch sofort setzte sich mein Mund zu mit diesem krabbeligen Getier. Über meine Zunge, den Gaumen bis hinein in den Rachen, überall krochen sie herum. Ich spuckte und hustete, doch es war, als hätten die kleinen Tiere sich mit winzigen Krallen in meinem Fleisch verankert. Panik breitete sich in mir aus. Ich schlug um mich und wollte die finsteren, wütend summenden Schwaden auf diese Art verjagen. Es war sinnlos. Der Raum füllte sich, die Wolken wurden immer dunkler. Ich war nicht mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Im Mund, in den Ohren, in der Nase und auf den Augen spürte ich die kleinen, behaarten, vieltausendfachen Beine. Ich warf mich auf die Erde und versuchte mich mit den Armen zu schützen, so gut es ging. Doch ohne Übergang, von einem Moment auf den anderen kehrten die Fliegen wieder um. Sie stoben in die andere Richtung, durch die Mauern zurück, dorthin wo sie hergekommen waren. Das unheimlich Rauschen ihrer winzigen Flügel wurde immer leiser, bis es schließlich ganz erstarb. Die Stille, die folgte, tat weh im Kopf.
"Ich habe den Teufel ein Stückweit hinaufgelassen", sagte die Alte immer noch mit geschlossenen Augen. Winzige Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, sie wirkte erschöpft.
Ich erhob mich vom Boden und war viel zu verwirrt, um irgendwelche Fragen zu stellen. Das brauchte ich auch nicht zu tun, denn in meinem Innersten hatte ich verstanden.
"Ich habe nur ein ganz klein wenig losgelassen", sagte die Alte und sah mich wieder an. "Vielleicht kannst du jetzt ermessen, was passiert, wenn meine Kräfte schwinden. Luther schrieb in seinem Großen Katechismus: Wenn Gott uns nicht schützen würde, wären wir nicht einmal eine Stunde sicher vor seinen Anschlägen. Du weißt, wen er meinte und so unrecht hatte er nicht. Doch er hatte sicher eine andere Vorstellung von Gott. Ich bin Gott, einer von vielen!"
So wie sie das sagte, mußte man ihr glauben. Ich hatte mich wieder auf den Stuhl gesetzt und hockte ihr nun gegenüber.
"Und du wirst einer sein", setzte sie hinzu.
Das hätte ich erwarten müssen und ich war nicht halb so geschockt, wie ich es hätte sein sollen. Und trotzdem reichte der Schreck aus, mich aufspringen zu lassen und zu rufen: "Was?"
"Setz dich wieder", meinte sie nur. "Du hast gar keine Wahl. Ich habe dich gerufen und du bist gefolgt. Wir haben nicht mehr viel Zeit!"
Damit erhob sie sich langsam und schwerfällig aus ihrem Sessel. Ich konstatierte, daß sie außerordentlich klein war, kaum größer als einen Meter fünfzig. Und doch strahlte sie eine Stärke und Rigorosität aus, die ich würde niemals erreichen können. Glaubte ich damals.
Sie kam mit kleinen, schlurfenden Schritten auf mich zu, ich wich zurück, mich vorsichtig nach hinten tastend. Sie hob ihre dünnen Arme und streckte sie mir entgegen, dabei sprach sie beruhigend auf mich ein. "Es wird nicht wehtun", sagte sie. "Das verspreche ich dir, es geht ganz schnell. So war es bei mir damals auch. Gebe dich mir hin!"
Als ich mit dem Rücken an die Wand stieß, atmete ich hörbar aus. Ich war gefangen, die Frau kam immer dichter auf mich zu und es gab keinen Ausweg. Ich hatte Angst, abgrundtiefe Angst. Ich war verunsichert, der Boden war mir unter den Füßen weggezogen worden. Eine greifbare Realität gab es für mich nicht mehr.
Ich versuchte nach der Seite auszuweichen. In blinder Hast machte ich einen großen Schritt nach rechts und wäre um ein Haar gestolpert.
"Setz dich auf den Stuhl", herrschte sie mich mit scharfer Stimme an. "Setz dich hin und folge mir!"
Sie war mir überlegen! Trotzdem sie von geringem Wuchs war, hatte sie die Macht über mich. Ich war geschlagen und tat was sie verlangte.
"Siehst du, so ist es besser." Sie nahm mir gegenüber Platz in dem alten Sessel und blickte mich wieder mit ihren sanften Augen an. "Ich werde dich jetzt all das lehren, was ich weiß. Hab keine Angst, es wird nicht weh tun. Jedenfalls nicht allzu lange." Und damit legte sie mir ihre kleinen alten, von unzähligen Runzeln übersäten Händen auf die Stirn. Sie waren kalt und hart. Ich ließ es mit mir geschehen, war willig wie ein Kleinkind. Mein Widerstand, sofern jemals welcher existiert hatte, war gebrochen.
Ich schloß die Augen.
Blitze stoben mir durch die Lider. Gleißende Helligkeit erfüllte mich, ich zuckte zurück. In meinem Kopf tanzten Gestalten und Formen, irre Farben breiteten sich aus und wollten mich sprengen. Ich sah Explosionen, die alles wieder fortraften und winzige Körper, die anwuchsen, bis sie mich wieder voll ausfüllten. Ein Kampf tobte in mir, dessen Zuschauer ich war, verdammt dazu, nicht eingreifen zu können und nur dazustehen und zu staunen. Und doch war ich Teil dieser Naturgewalten.
Plötzlich sah ich den alten Lehrer vor mir, der mich mit haßverzerrtem Blick anstarrte. Der Lärm des Schulhauses ließ in dem Augenblick nach, in dem er sagte: "Sie sind das Letzte." Dabei lächelte er höhnisch, weil er wußte, daß er mich so schwer beleidigt hatte, daß ich reagieren mußte. Doch sofort wurde er kleiner vor meinen Augen. Er schrumpfte, bei Gott. Und er bemerkte ebenfalls, daß er schrumpfte. Er schaute mich ängstlich an, das gab mir zu denken. Warum graute es ihm vor mir? Weshalb machte ich ihm Angst, wo er sich doch vor dem fürchten müßte, was mit ihm geschah.
Er wurde nicht kleiner, ich war es, der sich veränderte. Ich wuchs. Ich kam mir vor wie Alice im Wunderland, und mir kam der Gedanke, daß ich noch nicht einmal wußte, auf welchen Befehl hin die kleine Dame gewachsen war. War es "eat me!" oder war es "drink me!" gewesen? Das war wichtig, so hatte ich das Gefühl, doch ich konnte mich nicht erinnern.
Ich wurde größer und größer. Mein Kollege vor mir erschien mir als winzig kleine Person, die ich mit einer Bewegung meines Fußes hätte zerquetschen können. Undeutlich sah ich, daß er mich noch immer ungläubig anstarrte, mit erhobenem Kopf. Schon war mir das Schulhaus zu klein und ich sprengte seine Mauern, ich reckte mich der Sonne entgegen und hätte sie mit der Hand greifen können.Ich war riesig und wurde immer größer.
Dann war ich von einem Moment zum anderen im Krankenhaus und hatte den toten Jungen im Arm. Ich spürte, wie heiße Tränen meine Wangen hinunterliefen. Ich preßte den toten Körper an mich als könnte ich ihm neues Leben einhauchen. Der Arzt kam auf mich zu und brach in schrilles Kreischen aus. "Sie haben ihn getötet! Sie Mörder!" schrie er. Und alle kamen gerannt um zu glotzen. Die Schwestern, die wenigen, die hier Dienst taten, die anderen Patienten in schäbiger Krankenhauskleidung und auch die Eltern des Jungen. Sie alle blickten mich haßerfüllt an und kreischten, ich wäre ein Mörder und Ungeheuer.
Sie kamen immer dichter und begannen, mit ihren Fäusten auf mich einzuschlagen, mit dem Mobiliar, mit Steinen. Ich versuchte, mich so gut es ging zu schützen. Und den Leib des toten Jungen.
Danach Stille.
Ich öffnete die Augen und sah, daß ich auf meiner Allee lag. In der Ferne zuckten Blitze, ein Unwetter kündigte sich an, doch hier herrschte noch Totenstille. Der Junge hatte sich aus meinen Armen befreit und ging nun, ohne sich umzuschauen, den Weg durch die Linden davon. Ich wollte ihn rufen, doch kein Laut drang aus meiner Kehle. Auf meiner Haut brannten immer noch die Tränen.
Das Unwetter kam schnell näher. Es begann zu regnen und ein Sturm kam auf. Blitze und Donnergrollen als vorherrschende Elemente. Es wurde rasch dunkel und diese Dunkelheit wurde nur durchbrochen von der stakkatoartigen gleißenden Helligkeit der Blitze. Ich war wieder allein auf der Welt. Es gab nur mich und das Unwetter. Peitschender Wind bog die Bäume nieder, die schweren, kalten Tropfen schlugen mir ins Gesicht, so daß ich kaum die Augen zu öffnen vermochte. Dazu immer und immer das tosende Donnergrollen. Mächtige Gewalten waren am Werk, doch ich fühlte mich ihnen gewachsen, ich spürte wie die Kraft in meinem Inneren ohne Pause zunahm. Faser für Faser füllte sich mit Energie, es war als sog ich die Kraft des Gewitters auf. Blitze schlugen neben mir ein und ich genoß es. Ich wärmte mich am Feuer und wurde immer größer. Immer riesiger und stärker, bis ich geradezu gigantisch und in der Lage war, die Welt zu verschlingen.
Ich zerbarst in tausende Teilchen und ich setzte mich selbstständig wieder zusammen und wuchs an zu einem unermeßlichen Ungeheuer; ich fraß die Erde und spie sie wieder aus. Ich wußte, ich war der König der Welt und sie würde mich vernichten. Ich war Gott.
Und dann war plötzlich und mit einem Schlag alles vorbei. Stille und Dunkelheit. Ich öffnete die Augen und ich saß allein in der kleinen Hütte. Ich hatte kein Leben mehr, und ich wußte, was ich zu tun hatte. Eine lange, schreckliche Zeit stand mir bevor, doch ich war gerüstet.

Sehen Sie, junger Freund, das ist meine Geschichte. Und auch die Ihre. Mein Leben war nicht mehr das, was ich kannte. Ich saß und kämpfte, ich versuchte sie in Schach zu halten, die Dämonen, die uns alle quälen, die uns locken und deren Versuchungen wir so oft nachgeben wollen. Ich litt Qualen und konnte mich bei niemandem beschwerem, denn niemand kennt meine Geschichte. Ich träumte von der Allee, die ich so bewunderte, ich dachte an Menschen, denen meine Aufmerksamkeit galt, früher einmal. Und ich durfte nichts davon auskosten, ich mußte kämpfen und das Leid aller auf mich nehmen.
Doch die Zeit der Enthaltsamkeit ist vorbei, meine Kräfte schwinden, ich werde schwächer. Sie haben es sicher bemerkt in welch einem Taumel sich die Welt um uns herum befindet. Es scheint wie verhext. Ich suche einen Nachfolger, und ich denke, ich habe ihn gefunden.
Kommen Sie, lassen Sie mich meine Hände an Ihre Stirn legen! Niemand beachtet uns und wenn Sie kein Aufhebens machen, zeige ich Ihnen die Geheimnisse der Welt. Sie wollten sie doch schon immer erfahren. Nun kommen Sie schon, haben Sie keine Angst, es tut nur einen Augenblick weh. Sie haben keine andere Wahl!"

Auszug aus einem Artikel der regionalen Tageszeitung:
"Wie uns erst heute mitgeteilt wurde, hat sich am vorgestrigen Montag Nachmittag in einem kleinen Cafe´am zentralen Marktplatz unserer Stadt ein Drama ereignet. Ein alter Mann, ein stadtbekannter Säufer, erlitt während der Nachmittagsstunden einen Herzanfall und verstarb noch am Ort des Geschehens. Ein jüngerer Mann, der ihn zu kennen vorgab, wurde im Anschluß verhaftet, weil er sich höchst verdächtig benahm. Es besteht Anlaß zu der Vermutung, daß er etwas mit dem Tode seines Begleiters zu tun hat, da die beiden beobachtet wurden, wie sie offensichtlich miteinander rangen.
Der Geisteszustand des jungen Mannes scheint mitgenommen zu sein, er faselte ständig etwas davon, er müsse die Welt beschützen vor irgendwelchen Teufeln und Dämonen. Er wurde in die städtische Irrenanstalt eingeliefert, wo er hoffentlich für den Rest seines Lebens in Verwahrung bleiben wird, denn ganz ohne Zweifel ist dieser Mann gemeingefährlich."


ENDE

 

Hervorragende Geschichte! Schön ausschweifend, wie ich es mag (gell, Ponch???), ungemein dichte Atmosphäre, lebendige Figuren, ungewöhnlicher Schauplatz (welche Horror-Story spielt schon im Nachkriegsdeutschland?).
Ich wüsste wirklich nicht, was es daran zu bemängeln gäbe! Auch stilistisch macht sich die Story gut, du bist ein fabelhafter Erzähler.
Ehrlich, ich hoffe, noch einiges von dir lesen zu können!

 

Ach Gottchen, hab ich dich mal als ausschweifender Erzähler geschimpft? Wenn ja, sorry. Bin doch selbst so ein Schwafl... äh, Schweifer, was denn jetzt?

@Hanniball: Welche eine Ehre, von unserem Ösi so ein dolles Urteil zu bekommen! Ich persönlcih habe "Die Ablösung" noch nicht gelesen, aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Ob das allerding jemals was mit unserem Rainer wird... :p

Poncher - Ich sollte halt nicht im Stehen schlafen...

Bis bald, muß jetzt nach Hause, wo Chaos und Akte X auf mich warten!

 

Ach Gottchen, hab ich dich mal als ausschweifender Erzähler geschimpft? Wenn ja, sorry. Bin doch selbst so ein Schwafl... äh, Schweifer, was denn jetzt?

Ach, deine Selbstbeschreibung bei dieser John Connor-Story als "Arschloch" war sympathisch und aufrichtig genug. Dabei bleiben wir, okay? *G*

@Hanniball: Welche eine Ehre, von unserem Ösi so ein dolles Urteil zu bekommen!

Ehre, wem Ehre gebührt... Amen.

Ich persönlcih habe "Die Ablösung" noch nicht gelesen, aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Du solltest sie aber unbedingt lesen, Ponch!

Ob das allerding jemals was mit unserem Rainer wird... :p

Versteh mich nicht falsch, Ponch, ich mag dich wirklich, du bist intelligent, schlagfertig, witzig, aber... Hm. Na ja, DU bist ein Mann, ICH bin ein Mann... Es tut mir leid, aber ich bin noch nicht soweit! :D

Gute Nacht Ponch, und angenehme Alpträume von Gillian Anderson, wenn sie mal wieder David anmacht - und dann doch per Sie bleibt...
:rolleyes:

 

Halli-Hallo!
@Rainer
Ich kann dir nur zustimmen ;)
Hat mir auch ungeheuren Spaß bereitet, diese Geschichte zu schreiben.

@Poncher
Hast du sie denn jetzt schon gelesen?

___________________________________

Möge der Saft mit Euch sein!

 

So, nun hab ich mein Versprechen eingehalten und die Geschichte gelesen, jepp!

Neidlos erkenne ich an, daß "Die Ablösung" einer der besseren Geschichten ist, die man hier findet!

Ein sehr gutes Thema, spannend (manchmal aber etwas allzu ausschweifend) geschrieben.

Wenn man die erste Hälfte gelesen hat, bleibt man zwangsläufig dran, und dazu gehört schon was, angesichts der Länge.

Dennoch zwei Sachen, die mich stören, bzw. mir aufgefallen sind.

"Du bist gekommen", sagte die Alte.
Obwohl ich es nicht wollte, setzte ich ein weiteres Teil dem Puzzle hinzu: die Stimme. Sie war brüchig und müde, doch man fühlte förmlich den früheren starken Willen darin.
Sie bewegte sich immer noch nicht.
"Du meinst, du hast mich gefunden."
"Ja", sagte ich.
"Das ist falsch", erwiderte sie."Gesucht habe ich dich. Und du bist mir gefolgt. Ich habe dich gerufen und du bist gekommen."
"Das ist nicht wahr. Sie sind mir aufgefallen. Und aus freiem Willen kam ich hierher um Sie kennenzulernen."

Entweder fehlt da meiner Meinung nach ein Satz oder du hast da was durcheinandergebracht.

Zweitens, an manchen Stellen etwas "Luft" zwischen den Absätzen. Aber da laß ich mir auch immer nicht gern reinreden...

Sei es drum: Eine wirklich gut gelungene Gruselgeschichte!

Sodele!

Poncher

Kann ich dann nun endlich mal auch meine Hände auf irgendeine Stirn legen? :(

 

Halli-Hallo, Freunde!

Zunächst vielen Dank für die wohlmeinende Kritik. Hat mich gefreut, zumal ein Freund von mir gerade diese Geschichte böse verrissen hat. Er hatte wohl etwas anderes erwartet.

@Poncher:
Eines habe ich nicht verstanden: Das Zitat,das du angeführt hast, ist doch in Ordnung oder habe ich etwas übersehen? Was meintest du, wäre falsch daran?

___________________________________

Möge der Saft mit Euch sein!

 

Eine gewaltige Geschichte: hervorragend geschrieben, der Inhalt so beklemmend, dass ich mich erst einmal von dem Gelesenen erholen muss.

Ich gratuliere, Hanniball. Fabelhaft!

Günter

 

Hi Hannibal!

Diese Geschichte muss unbedingt wieder nach oben geholt werden, sie ist nämlich wahnsinnig gut.
Trotz der Länge hab ich sie in einem Rutsch durchgelesen, ich war wirklich gefesselt vom Geschehen - und auch sehr positiv überrascht. Denn eigentlich steh ich ja nicht besonders auf Stories, die damit beginnen, dass unbedingt jemand seine persönliche Geschichte erzählen will. Meistens endet so etwas recht klischeebeladen. Aber bei Dir hat es auf jeden Fall gepasst und innovativ war "Die Ablösung" auch.

Charaktere, Atmosphäre, Umgebung - in meinen Augen alles stimmig. Besonders gefällt mir, dass das Ganze auch aufgelöst wird. Das ist meistens ein Ballance-Akt, und den hast Du gut gemeistert. :thumbsup:

Wenn Du Interesse hast, werfe ich einen zweiten Blick auf die Geschichte. Allerdings fiel mir bisher außer ein paar kleinen Fehlern nichts groß auf.

 

Hallo Bib!

Na, das ist mal 'ne Freude, dass du so ein altes Baby von mir ausgegraben hast. Ich hab richtig Herzklopfen gekriegt, als ich den Titel gelesen habe.

Ich würde mich natürlich freuen, wenn du einen zweiten Blick draufwerfen würdest, ist immer gut und man lernt nie aus.

Im Übrigen hatte ich tatsächlich dran gedacht, die alten Stories mal zu überarbeiten, man bleibt eben nicht stehen.:D

So, jetzt muss ich aber los, hetz-hetz. Vielen Dank für die Grabungsarbeiten und

Viele Grüße!

 

Cool, gräbst du die alten Perlen aus? Schön, dann nimm dir noch "Falkenfraß" vor, und auch die Eskimo-Story von Wendigo. Lies mal so die erste Seite im Empfehlungsthread hier, Sachen aus der guten alten Zeit, als es noch überschaubar war, und nicht Splatterelemente und Ekelfaktor Zehn wichtig für eine gute Geschichte waren...

Wie? Offtopic? Ein Glück, dass ich bereits was zur Geschichte gesagt habe.

@Hanni&Nanni:

Ich denke, dass da immer noch ein Satz fehlt, bzw. du einmal zuviel auf Enter gedrückt hast:

"Du bist gekommen", sagte die Alte.
Obwohl ich es nicht wollte, setzte ich ein weiteres Teil dem Puzzle hinzu: die Stimme. Sie war brüchig und müde, doch man fühlte förmlich den früheren starken Willen darin.
Sie bewegte sich immer noch nicht.
"Du meinst, du hast mich gefunden."
"Ja", sagte ich.

"Du bist gekommen", sagte die Alte.
Obwohl ich es nicht wollte, setzte ich ein weiteres Teil dem Puzzle hinzu: die Stimme. Sie war brüchig und müde, doch man fühlte förmlich den früheren starken Willen darin.
Sie bewegte sich immer noch nicht. "Du meinst, du hast mich gefunden."
"Ja", sagte ich.

Und selbst dann würde ich es anders sagen: "Und du meinst, du hast mich gefunden, richtig?" "Ja..."

 

Hallo Zwei!

Cool, das funktioniert ja wirklich:D

Blackwood! Du hast nichts zu tun? Ich habe hier mindestens zwanzig Stories, die es sich lohnt zu lesen.
Freut mich, dass du den Weg hierher gefunden hast, und ich habe genügend Abstand zu dem Text, dass ich ihn einigermaßen objektiv deuten kann.
Dies hier ist in der Tat meine erste Geschichte mit - ich sag mal - Botschaft. Ich schäme mich mittlerweile nicht zu sagen, meine besten Stories hätten eine Botschaft, weil ich tatsächlich dieser Meinung bin. Man kann sie auch anders nennen, Frey nennt sie Prämisse, ich glaube Egri sagt der rote Faden dazu. Ich meine, eine wirkliche Story hat soetwas, auch wenn man sie im ersten Moment nicht immer deuten oder erklären kann.

Der Prolog ist geschwätzig, ich weiß, der Text stammt aus einer Zeit, da war ich geschwätzig. Aber der Mensch ist lernfähig.

Den Abschnitt, den du besonders ansprichst, mit dem Altern und so, ich war richtig stolz damals, weil ich glaubte, was kluges geschrieben zu haben, und merkte doch nicht, dass es nahezu überflüssig war.

Das Gute und das Böse - wir beide könnten hier eine Grundsatzdiskussion führen, und die wäre nicht mal langweilig, denke ich. Nur soviel: Du interessierst dich für die Auswirkungen des Bösen, ich dafür, wo es herkommt. Auch im religiösen Sinne und natürlich macht sich ein Archetyp am besten.

Der Epilog: Schuldig im Sinne der Anklage :D

Vielen Dank also, jetzt habe ich endlich Frieden gefunden:cool:

Poncher: Ich musste lange Jahre warten, bis diese Diskussion fortgeführt werden kann.
Nach reiflichem Überlegen kann ich dir, zumindest im Sinne der Verständlichkeit Recht geben. Tatsächlich.

Aber wirklich, die von dir angesprochenen Stories sind des nochmaligen Lesens wert!

Viele Grüße von hier!

 

Guten Morgen Hanniball,

cool, da verschwindet Blackwood mal eben auf dem Dachboden, kramt in diversen, verstaubten Truhen herum und fördert einen kleinen Schatz zu Tage.

Das also war er, dein Einstand? Damit hast du sicherlich einige Wellen geschlagen. Beeindruckend, wie geschickt du verschiedene Handlungsstränge hast parallel laufen lassen, um sie letztendlich sinnvoll zu verknüpfen (auch wenn bei einer Story dieser Länge schnell mal etwas verloren geht).

An der erklärenden Stell im Text habe ich mich wahnsinnig darauf gefreut, etwas über die Zusammenhänge zwischen dem gerade beendeten Krieg und den Auserwählten zu erfahren. Du weißt, ich mag es Fiktion mit Realität zu verbinden, aber vielleicht hätte das den Rahmen gesprengt und wäre Stoff für eine eigene Geschichte.

Rechtschreibung und Grammatik fein wie immer, eine Kleinigkeit ist mir aufgefallen:

Die Humanität, die Menschlichkeit hat einen schweren Stand, seit sich der Homo sapiens sapiens entschloß, sich zu zivilisieren.
Außerdem hast du damals hin und wieder zwischen alter und neuer Rechtschreibung gewechselt.

Fazit: Es lohnt sich eben doch, auf Schatzsuche zu gehen.

Viele Grüße, Murphy

Übrigens: es war „Eat me“, aber du weißt das ja, nur eben nicht dein Prot ;)

 

Hallo Xeno!

Ich weiß natürlich um dein Recht auf eine Antwort :D , und jetzt habe ich mir den Vormittag frei genommen, um meine Schulden abzuarbeiten.

Vielen Dank für deine Mühe, denn eine verstaubte Story zu lesen macht wohl Mühe. Freut mich, wenn sie dir gefallen hat, ja, das ist so ziemlich die erste Story, die ich mit einem gewissen "Anspruch" geschrieben habe.
Natürlich ist das relativ mit dem Anspruch, aber ich kann sagen, ich habe die Story nicht nur der Unterhaltung willen geschrieben.

Ja, sicher, der Zusammenhang zwischen Krieg und Dämonen ist natürlich nur angedeutet. Aber es kann verstanden werden. Übrigens, wenn du aufmerksam liest, wirst du erkennen, dass gerade dieses Verhältnis - das Böse im Menschen und diejenigen, die dagegen kämpfen - einen Großteil meiner Erzählungen beherrscht, ( Gerade das "Haus, größer als die Welt", ich dachte, dass darauf jemand anspielt, weil es ja ähnliche Stories sind).

Und ich werde es nicht schaffen, auch wenn ich es in letzter Zeit probiert habe, locker-flockige Geschichten zu schreiben, die nur was erzählen.

Danke also und ich denke, wenn es meine Zeit zulässt, werde ich mich demnächst per Mail bei dir melden.

Viele Grüße von hier!

 

Hallo Hanniball,

Deine Geschichte reiht sich zumindest auf meiner persönlichen Top 10 an erster Stelle ein. Gut, ich habe noch nicht wirklich alle im Empfehlungsthread empfohlenen Perlen gelesen und bin alles andere als ein alter Hase, was kg.de angeht, aber diese Geschichte hier ist wirklich toll und hebt sich von den anderen Geschichten ab. Wirklich Klasse. Also ich hatte echt spaß. Auch klasse fand ich, dass es absolut keine Möglichkeit gibt die Handlung vorherzusehen. Man ahnt nicht worauf Du hinaus willst und wird dann am Ende wirklich überrascht. Klasse. super gut.

Ach ja: Der Prolog ist wunderbar geschwätzig (das im positiven Sinne gemeint) und erinnert mich an Kings Prolog in Needful Things. Wobei natürlich Blackwood recht hat. Der ein oder andere, der nicht weiß, dass hinter Hanniball hochwertiger Horror steht, wird wohl schnell abschalten. Glücklicherweise haben die durchweg guten Kommentare angedeutet, dass ein weiterlesen lohnend ist. Und glücklicherweise habe ich auch weiter gelesen.

Hier noch eine kleine Anmerkung:

Allzuschnell wäre ich als Neuling selbst in eine Schublade gesteckt worden, und dort hinauszukommen wäre mir mit einiger Sicherheit leichtgefallen.

Es wäre ihm wohl eher schwergefallen, oder eben nicht leichtgefallen. Füge einfach noch ein nicht ein, dann stimmt der Satz wieder.

Gruß

 

Hallo Versager!

(Ich hoffe mal, hier ist der Name nicht Programm :D )

Eine Freude, so was zu hören, und richtig rot wurde ich, als ich das hier las:

dass hinter Hanniball hochwertiger Horror steht

Man vergisst immer, dass es genügend Leser gibt, die zwar nicht in Erscheinung treten, sich aber sehr wohl eine Meinung bilden. Huhh, der Kritiker im Hintergrund :D

Wie gesagt, der Prolog ist eines der Dinge, die ich jetzt, nach wohl fünf Jahren dazu gelernt, anders machen würde. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die Story dereinst überarbeiten werde.

Danke, und bis bald!

Viele Grüße von hier!

 

hi hallöchen hanniball!
na, dann geh ich dir mal richtig auf die nerven ... ;)

An Papier eventuell, an Stifte oder Schulbücher war überhaupt nicht zu denken, und wenn Materialien doch einmal vorhanden waren, dann sprachen sie in der falschen Zunge, lehrten die unrichtige Ideologie.
sehr gut

Und so trat ich morgens, oftmals im Dunkeln, wenn die halbe Welt noch schlief, und abends, auf dem Weg zurück in mein Heim, vorbei an den Häusern, in denen sich manches Mal die Menschen rüsteten, zur Ruhe zu gehen, kräftig in die Pedalen.
nicht in die Pedale?

Die anschließenden Tage zogen in ihrem Gleichmaß an mir vorüber, ohne daß ich es kaum bemerkte.
hä? ohne kaum? also bemerkte er es ja ziemlich. doppelt gemoppelt.

ich glaub, es waren noch ein, zwei fehlerchen im text. rein formal also.

ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. eine wahnsinns-geschichte, und ich bereue es, sie noch nicht früher gelesen zu haben.
gott als sterblich darzustellen - einfach phantastisch! es gibt ja einen haufen filme oder bücher, in denen die darst. bzw. prots sich von gott auswerwählt glauben, die gottlosen oder dämonen zu töten und so selbstjustiz verüben.
aber so! klasse, ganz ehrlich.

stilistisch bist du hier tatsächlich etwas ausschweifend, was ich aber schön finde (als riesen-king-fan).
du erzählst so routiniert, dass es keine sekunde lang langweilig wird, obwohl die lunte ja erst ab der hälfte abgeht, wenn du verstehst.

am besten: der schluss. eine echte horror-vorstellung. die welt ist kurz vorm untergang und dem gott sind die hände gebunden.

hach, bevor ich in lobeshymnen untergehe, hör ich lieber auf.

liebe grüße
Tama

p.s.: ich hätte noch mehr tolle stellen zitieren können, aber ich war einfach zu mitgerissen.

 

Hallo!

Wenn ich nicht ausführlich auf deine Kritik antworte, heißt das nicht, dass ich mich nicht drüber freue und darauf nichts sagen will. Soooooooooooobald ich Zeit habe, werde ich mich dir widmen. :D

Grüße!

 

Hallo Tamira!

Tut recht gut, mal 'ne positive Kritik zu einer Geschichte von mir zu lesen. Danke! :D

Tja, was soll ich sagen? Die Story setzt sich aus zweien zusammen, so entstand die Idee bei mir. Die alte Frau, die ständig am Fenster sitzt, geheimnisvoll sozusagen und herausfordernd fast.
Dazu die Geschichte der Reihe der...Beschützer oder wie du sie nennen willst. Die beiden Enden habe ich verknüpft, nebenbei gesagt, die Zwischenhandlung hat mir gar nicht so gefallen. Und ich sage dir, irgendwann - ängstlichzurSeiteschiel - wenn ich Zeit habe, überarbeite ich das Teil, ich schicke es weg und werde berühmt. :shy:

Kleine Anekdote am Rande: Ist ja wirklich meine erste ernsthafte Horrorgeschichte, so mit Plan und so. Ich habe sie dann einem Freund gegeben und der hat sie gnadenlos verrissen (oder sagt man zerrissen?). Ich war genau an dem Punkt, nie wieder was zu schreiben.
Und dann habe ich mich eines anderen besonnen und so manche Kacke verzapft :D .

Na ja, vielleicht merkt man der Geschichte an, dass sich ein Stück Weltsicht von mir drinsteckt.

Danke für die Mühe und die Kritik.

Viele Grüße von hier!

 

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