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15.10.2003
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Wäre das Universum so groß wie es geordnet und berechenbar ist, würden einige Wissenschaftler ins Grübeln geraten, weswegen das Weltall in einen Reisekoffer passt, während ein Reisekoffer, der im Grunde genommen zum Universum gehört, es in sich bergen könnte.
Einige, wie gesagt. Der Rest ihrer Zunft würde weiterhin versuchen, das Weltall vom Koffer in ihre Formeln zu pressen und sich am Ende eine passende Theorie zusammenzimmern, weswegen das All mit einem Gürtel zusammengehalten wird.
Dies ist natürlich ein hypothetischer Fall und vollkommen unrealistisch. In Wahrheit liegt unser Universumherrlich chaotisch verstaut und schlampig beschriftet mit einer ganzen Reihe weiterer Universen im Inneren einer abstrakten, multidimensionalen, bis zum Rand vollgestopften Hohlform. Doch dies ist eine andere und sehr lange Geschichte.
Von jener anderen, sehr langen, jedoch überaus interessanten Geschichte wussten die Wissenschaftler von Beta Tuirus-3 nichts. Und selbst wenn sie diese faszinierende Geschichte gehört hätten, hätten sie sich um keinen Preis von ihrem Experiment abbringen lassen. Ganz sicher nicht.
Wohl eher hätten sie zunächst ihre kleinen, drahtigen Brillen zurechtgerückt, beiläufig ihre Denkfalten zur Schau gestellt und dann mit Beharrlichkeit jedes einzelne Quark dieser Geschichte sorgfältig von allen Seiten betrachten, mit Formeln in Präonen zerlegt um schließlich festzustellen, dass eben jene Theorie auf jeden Fall ganz klar und eindeutig lächerlich ist, man aber aufgrund der Unmöglichkeit, Wahrheit und Lüge zur gleichen Zeit messen zu können zwar keinen direkten Gegenbeweis erbringen kann und auch nie können wird, aber zumindest mit Bestimmtheit sagen kann, dass diese Vorstellung unzutreffend sein muss, da sie sich nicht mit der Wirklichkeit vereinbaren lässt. Daraufhin werden die Formeln wieder sorgfältig in ihr Weltbild eingeschlichtet und dann noch einmal die Brille zurechtgerückt.
Und jene Wissenschaftler hatten eine Theorie. Eine Theorie, von der sie überzeugt waren, sie hielte das Universum in Schach und würde gleichzeitig den Eindruck erwecken, bahnbrechend zu sein.
Oberflächlich betrachtet ging es darum, ein Loch in die Raum-Zeit zu stechen, hatte mit dunkler Energie und einer Menge altbekannter und altbekannt-neukombinierter Formeln zu tun und sollte fatal enden, so wie es bei angewandtem Halbwissen durchaus der Fall zu sein pflegt.
An einem wundervollen Herbstmorgen lief nach jahrelangen Planungen und monatelange Pausen, in denen über finanzielle Mittel, deren Beschaffung, eventuelle Verwendungsmöglichkeiten und Kaffeepausen diskutiert wurde, das Projekt "Türöffner" an.
Es war ein wirklich hübscher Herbstmorgen auf Tuirus, die Blätter der Bäume hatten begonnen, sich grün zu verfärben und glänzten im Licht der G-Typ-Sonne; in einer unbedeutenden Ansiedlung nahe der Hauptstadt eines der technisch am höchsten entwickelten Staatengemeinschaften war, wie in der Nähe von allen Metropolen dieser Staaten riesige Leinwände aufgebaut, auf denen der Verlauf des Experiments live übertragen werden sollte. Ursprünglich war dies nicht geplant gewesen, jedoch hatte sich die Presse darauf gestürzt, weil in diesem Monat eine Sensations-Flaute herrschte; nirgendwo brach gerade ein Krieg aus, alle Promis hatten plötzlich aus unerfindlichen Gründen das Bedürfnis treu zu sein, keine geplante Steuererhöhung erschütterte die Nation, also musste des Weltraumforschungsprogramm herhalten.
Im Vorfeld wurden Unmengen von Wissenschaftssonderspecialexclusivsendungen gedreht, in denen das Experiment natürlich nur als Aufhänger diente, denn welcher Normalsterbliche interessiert sich schon für angewandte Quantenphysik?! Dennoch, es war ein ganz besonders Erlebnis für alle Tuiraner, die ganze Welt war plötzlich viel positiver der Zukunft gegenüber eingestellt. Lag wohl daran, dass sie aus jeder Fernsehsendung, Zeitschrift, Flugblatt, Neonreklame, Kaffeesatz und Zeitung erfuhren, dass sie an der Schwelle zu einem wundervollen neuen Zeitalter standen, und dass es bald nie wieder Kriege, Hunger und Krankheiten geben werde.
Fanclubs schossen wie Schlagzeilen aus dem Kopf eines Bild-Redakteurs, und die üblichen Autogrammadressen für die am Projekt beteiligten Forscher wurden eingerichtet. Eine Weile wurde sogar überlegt, die Wissenschaftler während ihrer Arbeit mit Kameras überwachen zu lassen und das Ganze im Fernsehen zu übertragen. Dies scheitere leider zum einen daran, dass die wenigen Frauen in dem Projekt über 40 waren, doch hauptsächlich wurde das Filmprojekt verworfen, weil sich in den Toiletten keine Kameras installieren ließen.
Und so kam es wie es kommen musste: Aus einem wissenschaftlichen Experiment, welches zugegebenermaßen einen Durchbruch bedeutet hätte, wenn alles gelaufen wäre wie es hätte laufen sollen - wurde ein Volksfest. Insgesamt 420 Quadratkilometer Ackerland und Wiesen wurden provisorisch zu Parkplätzen umfunktioniert; Souvenirverkäufer stellten kurzfristig ihr Angebot auf "Neues-Zeitalter" -Produkte um, indem sie ästhetische kleine Aufkleber und Aufnäher mit dem Logo der Weltraumforschungsgesellschaft und dem eigens für dieses Ereignis entworfenen Symbol des Neuen-Zeitalters daran befestigten.
Je mehr Zeit verstrich, desto gespannter wurde die Öffentlichkeit aus den Ausgang des Projekts, welches in jenem großartigen Experiment gipfeln sollte. Jenes großartige Experiment, welches aufgrund technischer Defekte zeitlich verschoben werden wusste. Nachdem die Zeitungen nun vier Tage lang nur noch Schlagzeilen brachten, in denen zumindest zweimal das Wort "Skandal" vorkam, ließ das Interesse am Projekt "Türöffner" langsam nach.
In einem nahezu verzweifelten Versuch der Medien, ihre Felle vom Davonschwimmen zu bewahren, brachten sie kurzfristig eine engagierte junge und äußerst freizügige Studentin in das Projekt. Dass sie eigentlich Medizin studierte, dies wurde allgemein vergessen in Anbetracht ihres Miniröckchens.
Das eigentliche Experiment war eher eine Enttäuschung. Auf den großen Videoschirmen sah man nur konzentrierte Forscher, die am wissenschaftlichen Durchbruch arbeiteten, ihre drahtigen Brillen zurechtrückten und die Stirn kraus zogen. Auf den ersten Zuschauerplätzen kam es zu Schlägereien, die so viel interessanter waren als Quantenphysik. So bekam nur noch Wenige mit, wie unweit ihres Sonnensystems entfernt sich ein Riss in der Raumzeit bildete, sich ausdehnte, und anstatt einen anderen Teil des Universums in sich abzubilden, gewaltige Mengen von ionisiertem heißen Gas aus ihm schossen. Kaum jemand interessierte sich dafür, dass das Universum aus seinen Nähten platzte, immer mehr Plasma durch den Riss drang und ihn dabei in einer Kettenreaktion weiter vergrößerte. Schlägereien sind doch soviel interessanter. Niemand sah hin, als die fremde Sonne Stück für Stück durch den Riss gesogen wurde.
Eine Großaufnahme des entsetzten Gesichts der blondgelockten jungen Wissenschaftlerin und dann -
Fade out.

 

Jo_oder_so schrieb:
ich weiß nicht, ob du diese Kritik überhaupt noch lesen wirst,(...)
"Willst" wäre der bessere Ausdruck ;) und die Antwort lautet: Nein, aber danke für deine Mühe. Meine schriftstellerischen Versuche habe ich längst unter "Jungendsünden" abgeheftet, und das einzige, was ich heute noch schreibe, ist Quellcode :D

 

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