Die Anderen!
Die Anderen!
Es dauerte lange, bis endlich einer fragte: „Weiß jemand wo Silia ist? Ich habe sie schon lange nicht mehr hier gesehen. Weiß jemand warum sie nicht mehr kommt?“ Und jemand nahm ihn bei der Hand und führte ihn weg von den anderen und erklärte ihm: „Silia ist anders. Sie denkt anders als wir. Deshalb kommt sie nicht mehr. Wir wollen hier keine Andersdenkenden haben.“
Es ist jetzt Herrmann der immer am Computer sitzt und Silias Arbeit macht. Er ist langsam, macht viele Fehler. Es fällt ihm schwer. Irgendwann fragt Einer: „Das war doch immer Silias Aufgabe? Sie war echt gut darin. Warum machst Du das jetzt?“ Er zieht ihn zu sich herab und flüstert ihm ins Ohr: „Silia ist anders. Sie denkt anders als wir? Deshalb macht sie es nicht mehr. Wir wollen nicht, dass Andersdenkende hier arbeiten.“
Man tuschelt leise in den Reihen: „Was Silia wohl so schlimmes anders denkt?“ Man hinter vorgehaltener Hand. Und schließlich findet einer den Mut und fragt: „Was hat Silia den so anderes gedacht?“
Und jemand nimmt ihn bei der Hand und führt ihn weg von den anderen und erklärte ihm: „Silia ist anders. Sie ist nicht wie wir. Leute die anders sind, die passen nicht hierher. Bist Du noch einer von uns?“
Es dauerte lange bis einer fragte: „Weiß jemand wo Ralf ist? Ich habe ihn so lange nicht mehr gesehen. Weiß jemand warum er nicht mehr kommt?“ Und ein anderer fragt: „Warum kehrst Du jetzt Dienstags die Treppe? Wo ist Ralf? War das nicht immer seine Aufgabe?“
Und schnell eilt einer herbei und nimmt sie beiseite: „Ralf ist anders? Er ist nicht mehr wie wir? Deshalb kommt er nicht mehr. Er gehört nicht mehr zu uns.“
Sie sagt am Abend im Bett zu ihrem Mann: „Es herrscht Unruhe unter den Leuten. Sie fragen nach denen die anders sind. Es wird einen Aufstand geben, wenn wir nicht bald etwas dagegen tun.“
Am nächsten Morgen wissen es alle: „Wer anders denkt ist gefährlich! Ihre Gedanken sind Gift für die Gemeinschaft. Man darf nicht mit ihnen reden. Man darf nicht nach ihnen fragen. Man darf nicht einmal mehr an sie denken!“
Sie treffen sich in einem alten Keller am Rande der Stadt. Es werden immer mehr, die Nachts durch die Gassen dorthin schleichen. „Es ist nicht richtig, was sie da tun!“ sagt Silia. „Ich will keine Marionette sein die immer tut und denkt, was sie sagen. Ich will frei sein. Sie haben kein Recht mir die Freiheit zu nehmen.“ „Es ist nicht richtig, was sie da tun!“ sagt auch Frank. „Sie dürfen so etwas nicht über uns sagen. Das sind doch Lügen, die sie da verbreiten nur damit niemand anders denkt als sie!“
Sie ist noch jung, erst dreizehn Jahre und geht der Sache auf den Grund. Sie kennt Silia und Ralf nicht. All das ist viel zu lange her. Sie weiß nur, dass es da draußen noch die gibt, die anders denken, die anders sind als wir. Sie hat keine Angst. Sie glaubt nicht an das, was man ihr über die anderen sagt. Sie will es wissen, ganz genau! „Wo seid ihr?“ fragt sie, „Man hat Euch so lange nicht gesehen. Warum kommt ihr nicht mehr?“
Vor ihr steht Silia. Sie ist alt und grau. „Ich wollte keine Marionette sein und immer nur nach ihrer Pfeife tanzen. Ich wollte frei sein. Das waren meine Gedanken. Deshalb bin ich hier. Leute die frei sein wollen wollten sie nicht haben.“ „Ich habe erkannt, dass alles da nicht richtig ist!“ sagt Ralf mit schwacher Stimme. „Sie haben nicht das Recht dazu uns so zu steuern. Das waren meine Gedanken. Deshalb bin ich hier. Leute die so denken wollten sie nicht haben!“
„Sie reden von Freiheit!“ denkt sie und kehrt zurück. „Ich weiß nicht einmal was Freiheit ist. Sie reden von richtig und falsch. Ich weiß nicht was richtig und was falsch ist. Sie sind wirklich anders, zu anders. Leute die so anders sind wollen wir nicht haben. Sie haben recht, die passen nicht zu uns.“
Juni 2004