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Die aufbewahrte Liebe
Die aufbewahrte Liebe
Ich hatte immer große Angst vor der alten Mina, unserer Nachbarin, die stets so grimmig schaute und nie lachte, die ihren Mann, den armen Ernst, immer beschimpft und geschlagen hat, und die ich nicht einmal bei seinem Tod hab weinen sehen. Als Kind habe ich den Erwachsenen immer geglaubt, was sie über Mina erzählt haben, und es wurde nur Schlechtes über sie erzählt – schließlich war ihre Mutter ja schon ein böses, herzloses Weib gewesen.
Als ich etwa dreizehn Jahre alt war, da stieg die Mina an einem warmen Spätsommertag auf eine lange Leiter um die Reben an ihrem alten Haus zu schneiden, und fiel runter auf den harten Asphalt der Straße. Sie war damals schon ziemlich alt, klein, gebeugt und grau, hat immer vor sich hin gebrabbelt und uns Kinder ausgeschimpft, wenn beim Spielen mal der Ball in ihren gepflegten Blumengarten gefallen war. Wie sie nun so da auf der Erde lag, tat sie mir nicht einmal groß Leid, schließlich geschah ihr das doch recht. Das hatte sie jetzt davon, dass sie ihren Mann immer nur drangsaliert hat, dass sie ihn nicht lieb gehabt und ihn schon vor über acht Jahren ins Grab gebracht hat. Der hat doch sicher wegen ihr so viel getrunken, glaubte ich damals felsenfest.
Mina wurde ins Krankenhaus gebracht, ein Oberschenkelhals war gebrochen. Lange lag sie da im Spital, meine Eltern haben sie ein oder zwei Mal besucht. Aufstehen konnte sie wohl nie mehr richtig und wurde dann zum Pflegefall. Sie hat ihr Zuhause nie wieder gesehen.
Nun blieb dieses kleine Haus der alten Mina ganz verlassen, der schöne Garten ungepflegt und die Hühner im Hof herrenlos und ohne Aufsicht. Kinder hatte Mina keine, nur eine Nichte gab es noch, und die hatte nicht viel Zeit – oder Lust. Damals wusste noch keiner, ob Mina wieder heim kommen würde, also hat die Nichte meine Eltern gefragt, ob sie nicht in Minas Abwesenheit nach den Hühnern schauen könnten.
„Ihr habt ja Zeit“, sagte meine Mutter zu meiner Schwester Hilde und mir. „Ihr seid jetzt für die Hühner zuständig. Lasst sie morgens raus, gebt ihnen Futter und macht abends den Stall wieder zu. Und vergesst nicht, regelmäßig die Eier einzusammeln.“ Die Eier durften meine Eltern nämlich behalten, sozusagen als Lohn.
Anfangs fand ich das Ganze richtig spannend, wenn auch meine siebzehnjährige Schwester, immer gestänkert hat, sie hätte besseres zu tun. Der Hof, der Garten, die Scheune und der Hühnerstall kamen mir verwunschen und geheimnisvoll vor. Überall gab es etwas zu entdecken, vom Gipsei im Hühnernest, über die vielen wunderlichen Sachen, die im Schopf herumlagen, bis zum völlig von Spinnenwaben überzuckerten Heuboden. Nur ins Haus traute ich mich nicht. Welch irrsinnige Vorstellung einer Dreizehnjährigen: ich war fest davon überzeugt, dass es da spuken müsse, schließlich wohnte das Böse in diesem kleinen Haus, auch wenn Mina nicht mehr da war.
Mit der Zeit wurde ich dem allem überdrüssig, bald kannte ich jeden Winkel um das Haus herum. „Komm schon endlich, du Angsthase!“ drängte mich meine neugierige Schwester, bis ich endlich nachgab und mit ihr das Haus betrat, um es ebenfalls zu erforschen. Ich weiß noch, wie ich mich hinter Hilde versteckt habe, so getan habe, als hätte ich keine andere Wahl gehabt, als mitzugehen. Als ob mir das noch etwas genutzt hätte, wenn das böse Hausgespenst um die nächste Ecke gegeistert wäre.
Wir betraten das Haus durch die Hintertür vom angrenzenden Schopf her. Der Mief und die abgestandene Luft schlugen uns wie eine Drohung aus einem alten Geisterschloss entgegen. Heimlich wollte ich schon wieder in den Schopf verschwinden, doch Hilde packte mich fest an der Hand und zog mich weiter mit sich hinein in die Küche.
Überall stapelte sich Geschirr, schmutziges, sauberes, wild durcheinander. Wir hatten angenommen, dass Minas Nichte sich wenigstens um das Haus kümmern würde, aber es sah so aus, als wäre sie nie hier gewesen, um nach dem rechten zu sehen.
Auf dem Küchentisch lag ein Stopfei mit einem Wollsocken darüber, eine Nadel steckte noch darin, Mina musste die Arbeit mittendrin unterbrochen haben. Es waren handgestrickte Männersocken in einer großen Größe. Wir schenkten dem keine allzu große Beachtung, vielleicht brauchte Mina Ernsts alte Socken auf. Vermutlich war sie ein geiziger Mensch.
Im breiten Flur stand eine große Gefiertruhe. Die Truhe war von einer dicken Staubschicht bedeckt, und der breite Griff glänzte speckig schwarz und klebrig. Ich hab mich geweigert, sie anzurühren, aber Hilde, neugierig wie sie war, musste die Truhe einfach aufmachen. Randvoll war sie gefüllt mit Fleisch, Geflügel und Gemüse aus dem Garten, und alles war mit einer dicken Eiskruste überzogen – Mina hatte sie sicher seit Jahren nicht mehr abgetaut, geschweige denn von den Lebensmittel etwas aufgebraucht.
So ging unsere Entdeckungsreise weiter, durch Zimmer, angefüllt mit Blumentöpfen in den unterschiedlichsten Größen, Formen und Farben, die Pflanzen darin waren alle welk und braun, da keiner sie in den letzten Wochen gegossen hatte.
Mutig erklomm ich im Schlepptau meiner Schwester die Treppe in den ersten Stock. Überall war es staubig und muffig, überall lag nur alter Plunder, und es herrschte eine große Unordnung. In den meisten Zimmern waren zudem die Vorhänge zugezogen, sodass sie noch düsterer und abweisender erschienen. Irgendwie waren zwar alle Räume dicht angefüllt mit alten Dingen, aber alles sah unbenutzt und seit langem unbewohnt aus.
Schließlich kamen wir ins Schlafzimmer. Das Schlafzimmer war ein heller großer Raum mit zwei Fenstern, eines ging nach Süden, das andere nach Westen. Hier waren die Vorhänge aufgezogen, es war hell und freundlich, ja der Raum wurde förmlich von Sonnenlicht geflutet, in dem tausende Staubpartikel zu tanzen schienen. Tanzen? Ja tatsächlich, in diesem einen Raum war Leben.
Die rechte Betthälfte war deutlich als Minas Hälfte zu erkennen, ihr Nachthemd lag über der Decke und ein paar Taschentücher auf dem alten Nachttisch. Sogar ein aufgeschlagenes Buch in alter deutscher Schrift gab es da, und einen altmodischen Wecker, der aber stehen geblieben war. Es war erst drei Wochen her, seit Mina das alles zurückgelassen hatte.
Und – seltsam - auf der linken Betthälfte lagen Ernsts Sachen, ein Nachthemd auf dem ungemachten Bett, zwei Paar geflickte Hosen und ein Hemd auf dem Stuhl daneben. Irgendwie schien es, als hätte er dieses Zimmer nie wirklich verlassen, als hätte er hier weitergelebt, obwohl er schon lange tot war. Waren es wirklich acht Jahre her, seit er von hier weggegangen war?
An den Wänden hingen Fotografien von Menschen, die alle längstens tot waren, alte Aufnahmen mit einem leichten Gelbstich, ich kannte niemanden darauf.
An einer Wand stand ein wunderschöner alter Waschtisch mit Waschschüssel und Wasserkrug – er war zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Daneben lag ein Stück trockener Seife. Hilde nahm sie in die Hand und schnupperte daran. „Hmm“ machte sie schwärmerisch, „riech mal daran! Das duftet nach Rosen.“ Sie hielt mir die Seife unter die Nase. Sie roch, wenn auch nur schwach, nach aufgeblühten Rosen. War das Minas Lieblingsduft gewesen?
Hinter der Waschschüssel stand ein Hochzeitsfoto. Ich nahm es und ging zum Fenster, um es genauer betrachten zu können. Erst erkannte ich die Brautleute nicht, schließlich ahnte ich aber, dass das Mina und Ernst sein mussten, jung und verliebt – das war nicht zu übersehen, so wie sie sich anschauten. Wie hübsch Mina darauf aussah. Mit kindlicher Ehrfurcht achtete ich darauf, das Foto wieder genau so hinzustellen, wie es gestanden hatte.
Als ich mich zum Bett umdrehte, saß Hilde auf der Bettkante, hatte Minas Buch in der Hand und las.
„Was machst du da?“ fragte ich sie voller Furcht, denn ich fühlte mich gar nicht mehr wohl in meiner Haut. Wir stöberten in der Privatsphäre eines Menschen, den wir verachtet hatten, und fanden einen Menschen, den wir nicht kannten. Und wir forschten immer weiter. Da fiel etwas aus dem Buch heraus und auf den Boden. Ich hob es auf. Es war ein Foto von Ernst mit einer aufgeklebten gepressten Rose.
„Leg es sofort zurück“, sagte ich beschämt zu Hilde, die gebannt auf das Foto in meiner Hand starrte. „Und dann lass uns gehen. Bitte!“
Hilde tat wie geheißen – soweit ich weiß, hatte sie vorher nie auf mich gehört. Sie stand vom Bett auf und strich die Stelle glatt, auf der sie gesessen war. Dann schlichen wir uns aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinunter und aus dem Haus.
Ich habe das Haus danach nie wieder betreten. Und jedes Mal, wenn von Mina die Rede war, dachte ich an dieses Bild von Ernst mit der gepresste Rose und an die hübsche junge Mina auf dem Hochzeitsbild.