Mitglied
- Beitritt
- 02.02.2003
- Beiträge
- 14
Die Brücke von der Schwalben ins Wasser stürzen
Die Brücke von der Schwalben ins Wasser stürzen
In den Nachrichten hatten sie Sturmböen vorausgesagt. Der Wind peitschte Regen gegen das Fenster und die Stärke des Prasselns schien zu einer wachsenden Bedrohung zu werden. In der Stube war es warm und gemütlich. Ein leicht würziger Geruch von Zimt und Nelken strömte durch das Haus. Der große Tisch war für das Abendmahl festlich geschmückt worden mit roten Servierten, goldenen Kerzenständern und dem echten Silberbesteck, welches sich schon lange in fester Familientradition befand. Aufgetischt wurde Wild, ein großer Braten, der im dimmernden Licht verführerisch glänzte und eine Sünde wert war.
Draußen, als die Dämmerung schon hereingebrochen war und dem Tageslicht jegliche Existenz geraubt hatte, stand ein Mädchen auf einer Brücke. Schon aus der Ferne konnte man ihr langes schwarzes Haar tanzend im Wirbel des Windes erahnen. Gehüllt in einem langen schwarzen Mantel, der immer wieder leicht den Boden streifte und den Dreck der Straße mitschliff, versuchte sie ihren zierlichen Körper warm zu halten. Fragte sich nur, wofür überhaupt noch? Wagte man einen Blick in ihr schmales, ausgemergeltes Gesicht, konnte man sehen, dass sie geweint hatte. In langen dünnen Fäden rann ihr die schwarze Wimperntusche die Wangen herunter. Immer wieder schlug ihr der Wind entgegen und sie hatte es schwer, sich auf den Beinen zu halten; das Geländer der alten eisern-rostigen Brücke, wurde zu ihrem letzten Halt. Schwarz schien das Wasser unter ihr zu sein. Schwarz wie die Nacht, schwarz wie ihre Seele. Schier unendlich und unergründlich spiegelte sich der von einigen Wolken bedeckte Sternenhimmel im Fluss. Sie glaubte, auch ihre Vergangenheit spiegle sich im unruhigen Wasser: Sie sah ihren Vater, sie sah wie er fortging. Das Mädchen erkannte seine Mutter mit einer Flasche echten Tannesee Whisky in der Hand. Sie sah einen Freund, ihren Besten, wie er geschlagen wurde. Einen Moment lang schien es ihr, als könne sie sich selber sehen, ihren Körper, der von zahlreichen Schnittwunden übersäht war: Einige waren noch frisch und das Blut quoll dickflüssiges aus ihnen heraus, andere waren schon alt und vernarbt; die vom Wundwasser gelblich-gefärbte Kruste bröckelte ein wenig. Mit einem Mal nahm das Wasser eine stechend-rote Farbe an, die gleichzeitig majestätisch beeindruckend und bedrohlich teuflisch wirkte. Ein Schütteln durchfuhr ihren Körper und ließ sie kurzweilig zusammenzucken. Ihren letzten Mut zusammennehmend, der lediglich ein falsches Abbild des Kummers der vergangenen Tage war, schwang sie ihr linkes Bein über die Brüstung. Es war ein allerletzter, zu Tode erschöpfender Kraftaufwand, den sie nur mit der Hoffnung auf Seelenfrieden meistern konnte.
Es war geschafft: Das zweite Bein war dem ersten gefolgt und sie befand sich nun auf der anderen Seite des Geländers. Die Seite, die dem Leben nichts mehr schuldete außer den Tod.
Tief atmend schloss sie die Augen, um nocheinmal, ein allerletztes Mal die beißend- angenehme Kälte auf ihren Lidern zu spüren. Es wäre nur ein Schritt, ein großer für sie, ein nichtiger für die Menschheit. Wenige Zentimeter trennten sie nur noch von der unumgehbaren Vergänglichkeit. Hunderte verwester Gesichter blickten zu ihr herauf und musterten das kleine schwarze Etwas und warteten geduldig auf eine weitere ruhelose Seele, die sich ihrem Kreise zuwenden würde.
Ihre Gedanken verfolgten nur noch ein Ziel und hatten den natürlichen Überlebenstrieb nahezu ausgeschaltet:
„Jetzt... Jetzt gleich. Gleich ist es so weit, ein Schritt... Jetzt!“
„Yvonne!“
...
So hallte es eine klare, entsetzte Stimme die Straße entlang.
Mit einem Ruck wand sie sich erschrocken um. Diese Stimme...
Im Schein der alten Straßenlampe konnte sie die Konturen seiner Gestalt erkennen. Einen kurzen Moment flackerte in ihrem Herzen eine Flamme auf, die der Wind augenblicklich wieder erlöschte.
Mit langsamem, ruhigen Schritt kam er auf sie zu. Er wusste, dass es nicht schnell gehen müsse, sie würde auf ihn warten. Doch der Ausdruck in ihren Augen änderte sich nicht, nicht mal, als er in voller Größe vor ihr stand.
„Du wirst jetzt keine Dummheit begehen, du wirst nicht springen.“
Seine Worte waren mehr ein Flehen und Betteln als ein Befehl.
Ihre Augen aber blieben kalt und trübe. Kein Strahlen war mehr in ihnen zu erkennen. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und begann sie zu schütteln, keine Reaktion. Voller innerlicher Verzweiflung schreckte er nicht mehr davor zurück ihr eine leichte Ohrfeige zu geben. Zu spät.
Mit nun mehr apathischer Verzweiflung musste er feststellen, dass sie schon mit dem Leben abgeschlosse, sich auf den Tod eingestellte hatte und ein Teil in ihr bereits gestorben war.
Abwesend sah sie ihm ins Gesicht und hob ihre Hand. Gebrechlich führte sie sie an seinem Gesicht entlang und deutete mit dem Zeigefinger behutsam auf sein rot-violett geschwollenes Lid hin. Sein Blick schweifte von ihr weg in die endlose Ferne. Am dunklen Horizont glaubte er zwei Schwalben zu erkennen, die weit über die Grenzen der Stadt hinausflogen. Er wäre gern eine Schwalbe gewesen, hätte die Grenzen seines Lebens hinter sich gelassen.
Doch er konnte nicht fliegen, sie konnte nicht fliegen und wenn Vögel zu schwach zum Fliegen werden, stürzen sie ab... Manchmal stürzen sie ins Wasser.
Fest klammernd und doch kraftlos nahm er ihre Hand und hielt sie unnachgiebig, während er über die Brüstung stieg. Ein letztes Mal spürten sie den überwältigenden Sturm, wie er ihre Körper federleicht umspielte. Gemeinsam die schmerzvolle, noch vorhandene Existenz einen letzten Moment erleben.
Und dann ist er gekommen, der Augenblick in dem zwei Liebende gemeinsam den Abschied von der Welt apathisch zelebrieren. Ihre Herzen bluten Tränen und doch weinen sie nicht, denn der Tod hat sie vereint und er wird sie nicht trennen. Liebe ist der letzte Gedanke den beide verspüren, als sie wie zwei müde und kranke Schwalben von der Brücke ins Wasser stürzen.
20.03.´04