Was ist neu

Die Familie

Mitglied
Beitritt
24.02.2002
Beiträge
4

Die Familie

Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Doch nun wird sich meine kleine Welt umstellen. Sie wird sich erweitern. Tom und ich werden heiraten. Tom arbeitet in der Gastronomie. Meinen Job als Konditorin übe ich bis zur Hochzeit weiterhin im selben Geschäft aus. Er ist natürlich noch nicht zu Hause, noch nicht in meiner Wohnung. Eigentlich haben wir beide unsere eigenen Wohnungen, aber Tom nutzt seine nur noch zum Wäsche holen oder bringen. Sein Feierabend ist immer sehr viel später. Darum kann ich die Abende weiterhin für mich genießen, mit Hausarbeit, backen, Musik hören, Handarbeiten, ganz wie meine Bedürfnisse sind.. Meinen Kuchen für morgen habe ich ins Rohr geschoben, die Küche wieder aufgeräumt. Im Wohnzimmer, bei einem guten Glas Wein und geschuffelter Musik, von Vivaldi, Bach, Brahms und Mozart, wandern meine Gedanken dahin. Die Töne säuseln mir zart ins Ohr, während ich es mir auf meiner neuen Designer - Couch gemütlich gemacht habe. Wie wird es werden? Werde ich die Arbeit vermissen? Sicher kommt eine sehr schöne Zeit auf mich zu, in der ich meine ganze Energie auf Tom konzentrieren kann. Wir werden so viel Spaß zusammen haben, sehr viel zusammen unternehmen. Morgen haben wir beide frei, und Tom, der eigentlich Thomas Casimir heißt, stellt mich seiner lieben Familie vor. Wie werden sie sein? Tom hat mir schon so viel erzählt, dass ich sicher jeden vom erzählen sofort erkennen werde. Was könnte ich anziehen? Ich möchte doch einen positiven Eindruck hinter lassen. Ja, gehen meine Gedanken dahin, so soll es sein, meine Welt wird sich nur zum Positiven verändern. Sie leuchtet rosarot.

Wir fahren durch dunkle, endlose Straßen. Sie sind von riesigen Pappeln gesäumt und das letzte Stück geht steil Berg auf und ist sehr kurvenreich. Laute Musik dröhnt durch das Haus als Tom und ich uns bei seinen Eltern zur Kaffeezeit einfinden. Der Kuchen ist eine gelungene Überraschung und es wird ein sehr anregendes Kennenlernen. Nach kurzer Zeit kommt die Schwester von Tom ins Wohnzimmer gestürzt. Ich erkenne sie sofort. Genauso habe ich mir Illona vorgestellt. Etwas kleiner als Tom, feine Züge, aber die Figur ein wenig zu rundlich. Dafür wirkt ihr Auftreten sehr energisch und gebieterisch, wenn auch etwas durcheinander. Auch ihre Zwillinge sind mit im Schlepptau, die Jungs Jan und Jochen, die noch nicht mal zwei Jahre alt sind, sich dafür aber sehr lautstark bemerkbar machen. Sofort herrschen Gebrüll, Hektik und ein fürchterliches Chaos. Illona kommt herein gestürzt und setzt sich an den Tisch, beginnt einfach mit Essen und erzählen und hört nicht wieder auf. Ich bin völlig baff über so viel Unerschrockenheit und Unverfrorenheit. Auch die Musik im oberen Stockwerk ist noch lauter zu hören, es ist inzwischen fast ein provozierendes Dröhnen der Bässe. Toms Mutter gibt sich ruhig, besonnen, vermittelnd. Dabei kann ich sehen, dass es wild in ihrer Halsvene pocht. Man sieht, sie sei gern die liebende, Ruhe vermittelnde Dame des Hauses, dabei wirkt sie, als platze sie gleich. Sie hat keine Chance in diesem Chaos. Es wird absolut perfekt, als die beiden Bernersennen ein Wettrennen durch Wohnzimmer, Wintergarten und Esszimmer veranstalten und dabei das Büffet, welches schon für das Abendessen vorbereitet ist, dem Erdboden gleich machen. Das Essen, das anschließend schnell improvisiert wird, ist leider nicht gelungen. Die Kartoffeln sind zu mehlig, das Gemüse noch nicht durch und der Fisch ist einfach nicht mein Geschmack. Außerdem wird die Musik aus der oberen Etage immer nerviger, unruhiger. Sie ist von lautem Jazz über Rock zu lautem Disco übergegangen. Ich muss mich sehr zusammenreißen, damit alles beim Gut bleibt. Toms Vater ist nicht mehr zu bremsen, als er von der guten alten Zeit zu reden anfängt. Als die Söhne noch den Erben und viele Geschwister in die Welt setzten und die Frau noch den ganzen Tag zu Hause war. Sein Bruder, Toms Onkel Henry, kommt auch dazu. Er ist super lustig und erzählt lautstark Witze. Erzählt einfach drauf los. An eine normale Unterhaltung ist nicht mehr zu denken. Jeder redet, einige lachen, alles soll gleichzeitig laufen. Zu viele Personen auf zu engem Raum. Ich nehme reiß aus und verschwinde in den Garten, aber auch hier ist nicht an Ruhe zu denken. Der Nachbar zur rechten mäht seinen Rasen und auf der anderen Gartenseite kann man einem Kegelclub beim Grillen zu schauen. Die beiden Bernersennen sehen mich und stürzen sich in meine Richtung um zu spielen. Ich verschwinde wieder ins Haus, hinunter in den Keller. Hier ist eine Sauna, ein kleiner Swimmingpool und ein Ruheraum. Gerade als ich etwas zur Ruhe komme, höre ich Geflüster, Gekicher und dann lautstarkes Geschnatter. Einige aus der Schulklasse von Toms kleiner Schwester Sabrina sind vom Ausflug zurück, und sie wollen sich ins Vergnügen stürzen. Eine Wendeltreppe führt hinauf ins obere Geschoss des Anbaus. Ich flüchte wieder mal und komme in ein vom Sonnenlicht hell erleuchtetes Atelier. Ich bin entzückt. Hier ist es angenehm warm, gemütlich. Möbel, Gardienen und Teppiche bieten ein harmonisches Zusammenspiel. Die vielen Grünpflanzen stehen im Kontrast zu den sterilen Bildern an den Wänden und bieten so eine lebendige und luftige Atmosphäre. Das leise rauschen des Flusses, vom Ende des Gartens, hört sich jetzt fast lieblich an. Ich kuschele mich auf die hintere Ecke des Ottomanen und höre das Läuten, will es abstellen, aber es geht nicht.. Ich kann einfach nicht aufstehen. Irgend etwas lähmt mich. Es läutet lauter, und immer greller, schriller... und dann durchfährt es mich wie ein Blitz und ich sitze aufrecht im Bett und bin hell wach.

Das war ein Schreck. Es war alles nur ein böser Traum.

Aber ich weiß jetzt, dass ich ihn, und somit seine ganze Familie, mit Sicherheit nicht heiraten werde, denn ich liebe es einfach für mich zu sein, früh schlafen zu gehen, mein Leben ohne Kaos und vor allen Dingen weiterhin meinen Job auszuüben.....

 

Da haben wir also eine gesellschaftskritische Geschichte. Die Frage ist nur, wie weit geht die Kritik? Oder: Was ist Inhalt der Kritik?

Die Protagonistin denkt über ihr Leben nach, das bald eine große Veränderung erfahren soll. Sie wird Tom heiraten. Dabei ist sie voller Vorfreude, malt ihre Zukunft rosarot und verdrängt jegliche „Nachteile“, die eine Ehe haben kann.
Sie fällt in einen Traum. Dieser deckt ihre Ängste auf. Ihr wird vor Augen geführt, was „Familie“ bedeutet. Hierbei rücken all die Unannehmlichkeiten in den Vordergrund. Ein Chaos ohnegleichen. Und „rosarot“ wird als Eindruck gegen „Chaos“ umgetauscht.
Die Protagonistin erwacht. Ihre Schlussfolgerung:
„Aber ich weiß jetzt, dass ich ihn, und somit seine ganze Familie, mit Sicherheit nicht heiraten werde, denn ich liebe es einfach für mich zu sein, früh schlafen zu gehen, mein Leben ohne Chaos und vor allen Dingen weiterhin meinen Job auszuüben..... „

Dieser Satz verdeutlicht den puren Egoismus, die pure Bequemlichkeit und die pure Kompromisslosigkeit der Protagonistin. Sie ist so egoistisch, dass sie aufgrund einer Laune, eines Traumes, bereit ist, wichtige Entscheidungen zu ändern/treffen.
Und sie steht hier repräsentativ für unsere Gesellschaft. Denkt man weiter, so bedeutet dies den Verlust alter Werte, hier den Verlust der Familie.
Solange das Vorhaben nur Vorteile bedeutet, steht sie voll hinter ihrer Entscheidung. Sobald sich aber Konflikte ergeben oder besser gesagt Konfliktpotential, so flüchtet sie. Anstatt sich diesen zu stellen, anstatt darüber zu reflektieren, erfolgt ihr Rückzug in die eigene Welt der Bequemlichkeit. Es ist gar schon die Errichtung einer eigenen Realität. Total mit sich selbst beschäftigt, vernachlässigt der Mensch sowohl seine Zukunft als auch die Zukunft seiner Nachfahren. Was zählt, ist das hier und jetzt. Was abschreckt, ist die Verantwortung. Die Verantwortung, die auf all unseren Schultern lastet. Die Verantwortung, die lastet, aber von niemandem getragen werden will.

Sprachlich gibt es einige Schwächen, sowohl was Ausdruck, Groß- und Kleinschreibung als auch Rechtschreibung betrifft. Du schreibst „Chaos“ zum Beispiel zweimal anders.
Andererseits gibt es dafür schöne Stellen, z.B.:
„Wir fahren durch dunkle, endlose Straßen. Sie sind von riesigen Pappeln gesäumt und das letzte Stück geht steil Berg auf und ist sehr kurvenreich.“
So kann man sich auch den Weg eines Paares in der Ehe vorstellen oder vor der Ehe.
Im großen und ganzen ist der Ausdruck angemessen. Das ist Dir gut gelungen.

Die Geschichte gefällt mir. Anfangs mutet es komisch an, dass die Protagonistin so plötzlich ihre Meinung ändert, sich von einem Traum lenken lässt. Denkt man dann drüber nach, so lässt es sich gut erklären und auch verstehen. Du hast mich also zum Denken gebracht, und ich tat dies gerne. Meiner Meinung nach ist diese Geschichte als Schulstoff prädestiniert, weil man sie gut interpretieren kann und weil sie viel Diskussionsstoff bietet.

Gute Arbeit, Ernestho.

 

Ja, da haben wir in der Tat eine schöne Geschichte, die recht wenig Aufmerksamkeit bekommen hat.

Die Rollenverteilung ist etwas ungewöhnlich: Meistens ist es doch der Mann, der vor einer Heirat davonläuft, sei's auch nur eine Kleinigkeit wie in diesem Falle ein Traum. Die Einstellung der Protagonistin kenne ich nur zu gut. - Im wesentlichen stimme ich aber Zazas Ansicht zu, allerdings muß jeder für sich entscheiden, was er aus seinem Leben machen will. Gerade in einer Partnerschaft gehört es dazu, seine egoistischen Ansprüche etwas herunterzuschrauben und stattdessen Rücksicht und Akzeptanz zu üben - oder halt allein sein Leben bestreiten.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom