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Die Farbe der Liebe
Der fahle Schein des Vollmondes fiel durch die bodentiefe Fensterfront des Hotelzimmers. Die Suite lag im neunzehnten Stockwerk. Die Aussicht über den Fluss und die schlafende Stadt war atemberaubend. Seine Silhouette spiegelte sich im Fensterglas. Er saß bewegungslos am Schreibtisch. Es war totenstill. Die Lichter der Skyline tanzten auf dem schweren, silbernen Brieföffner, der zu seinen Füßen lag.
Er schob das Tintenfass, das er extra für diesen besonderen Anlass gekauft hatte, zurück und legte die Schreibfeder auf den Tisch. Das Weiß des Büttenpapiers leuchtete. Die geschwungenen Buchstaben wirkten wie aus einer anderen Zeit. Der Mond strahlte hell. Hell genug. Er hatte kein Licht gewollt und auch keines gebraucht. Was er geschrieben hatte, hatte eine besondere Stimmung verdient.
Er drehte sich auf dem Stuhl zu ihr um. Sie lag auf dem Bett. Nackt. Den Kopf in seine Richtung gewandt. Ihre langen, dunklen Haare ergossen sich in Wellen über ihren Rücken. Ihre helle Haut glänzte silbern im Mondlicht. Sie war schön. Wundervoll. Makellos. Ihr Gesicht ruhte auf Ihrem Arm. Die Lider waren geschlossen. Vollkommenheit war das Wort, das in ihm aufstieg. Ihr Mund, der ihn eben noch leidenschaftlich geküsst und liebkost hatte, war leicht geöffnet. Der Strauß mit Rosen, neben dem Bett, verströmte einen süßlichen Duft. Das Aroma erinnerte an ihr Parfum, an den Geruch Ihres Körpers, als sie sich geliebt hatten.
Er lächelte, ohne den Blick abzuwenden. Seine Gedanken ließen die vergangenen Stunden erneut Wahrheit werden. Der Abend war etwas Besonderes. Das Essen, der Wein. Perfekt. Sie redeten. Lachten. Schwiegen. Sahen sich an. Er ertrank in der Tiefe ihrer Augen. Sie war dem Himmel nahe gewesen, als seine Augen wie Sterne funkelten.
Sie liebten einander. Niemand, der sie im Restaurant gesehen hatte, hätte daran zweifeln können.
Nach dem Essen hatten sie getanzt. Auf der regennassen Straße. Zu einer Musik, die nur sie hörten. Es war, als wären sie allein auf der Welt. Sich selbst genug.
Er hatte sie in dieses Zimmer geführt. Eine gefühlte Ewigkeit standen sie dort. Wortlos. Mit ineinander verwobenen Händen. Keiner wagte, den anderen loszulassen. Die Verbindung zu trennen. Sie hatten sich alle Zeit der Welt genommen. Nie verloren sie den Kontakt zueinander. Nachdem das Kleid es nicht mehr tat, hüllten seine Küsse ihren Körper ein. Er hatte sie zum Bett getragen, sie sanft niedergelegt. Ihre Haut war so zart. Sie war so zerbrechlich. Ihr Anblick hatte sein Herz gerührt. Er hatte sich nicht erinnern können, wann er das letzte Mal von so viel unbändiger Freude, von so unendlichem Glück erfüllt gewesen war. Sie hatte gelächelt. Sein Gesicht in ihre Hände genommen, ihn zu sich gezogen. Geküsst, voller Hingabe.
Sie hatten sich geliebt. Sanft. Zärtlich. Bis die Welt um sie herum verschwamm und Leidenschaft und Lust die Oberhand gewannen. Irgendwann war sie in seinen Armen eingeschlafen. Geborgen. Wunschlos. Irgendwann reglos.
Er konnte nicht sagen, wie lange er dort gelegen und sie angesehen hatte. Seinen Engel, ohne dessen Liebe er nicht mehr leben wollte. Nicht mehr leben konnte. Das Wunder, dass ihn wieder zum Leben erweckt hatte.
Irgendwann war er aufgestanden. Das Glück in seinem Bauch, in seinem Kopf. Es war so unermesslich. So überwältigend. Er hatte Angst zu zerspringen. Er war zu begrenzt, zu eng für dieses unendliche Empfinden. Er war wie ein Krug, der von einem Zuviel an Emotionen überquoll. Er wusste, dass es für ihn nur einen Weg gab. Er musste Schreiben. Die übermächtigen Gefühle mit Strichen und Punkten einfangen. In viele kleine und große Buchstaben wickeln. Worte waren ewig. Keine einzige Regung würde verloren gehen. Nur Papier und Tinte konnten diese Nacht bewahren. Sein Leben lang und für alle Zeiten danach.
Er schrieb. Über Sie. Über ihre strahlenden Augen. Ihre Klugheit. Ihre Empfindsamkeit. Ihre Zärtlichkeit. Über die vielen winzigen Augenblicke, in denen er sich ihrer vorbehaltlosen, kompromisslosen Liebe bewusst war. Seine Worte beschrieben sie. Neigten sich ihr zu und verewigten ihr Sein, das er vor ein paar Stunden kaum noch hatte ertragen können, weil es ihn durchströmte, überflutete und davonriss.
Er schrieb. Über Ihre Liebe. Das Miteinander. Über das wortlose Verstehen, blindes Vertrauen. Er suchte nach Begriffen, die nur einen Funken davon versprühten, nur ahnen ließen, was sie für einander waren. Wahre Freunde. Geliebte. Seelenverwandte. Untrennbar. Sie waren sich so nah wie die kleinsten Teilchen der Chemie und zusammen gehörte ihnen das Universum.
Die Worte strömten aus ihm heraus. Wie im Rausch füllten Bilder und Gefühle die Seiten des dicken Papiers unter seinen Händen. Er schrieb. Fließend. Ohne nachzudenken. Die Gedanken kamen und er gab ihnen nur die Form, nach der sie verlangten. Er durchlebte die Zeit mit ihr erneut. Die vielen Stunden bis zu dieser Nacht. Die besonderen Momente, die nur das Vorspiel zu dem gewesen waren, was dieser Abend aus ihnen gemacht hatte.
Jetzt, nachdem das letzte Wort aus ihm herausgeflossen war, fühlte er sich erschöpft. Leer. Ohne Emotion. All seine Gefühle füllten jetzt die beschriebenen Seiten, die vor ihm lagen.
Er schloss die Augen und atmete tief ein. Der Rosenduft konkurrierte mit dem Geruch nach Metall, der in der Luft hing. Er blickte erneut zum Bett. Die Szenerie aus Mondlicht und Schatten, aus Schwarz und Weiß hatte sich verändert. Ein tiefes, dunkles, fast schwarzes Rot zog den Blick des Betrachters auf sich. Das Blut, aus der tödlichen Wunde an ihrem Hals, hatte inzwischen das Laken durchtränkt.
Verlust und Trauer. Er spürte nichts. Mit ihrem Tod war die Liebe unsterblich geworden. Nie würde es ein böses Wort zwischen ihnen geben, nie eine Kränkung, nie eine Verletzung. Alles würde wunderbar und rein bleiben. Der Alltag war der Tod der Liebe. Aber niemals würde der Tod die Liebe sterben lassen. Er ergänzte die letzten Worte bevor er die Blätter vorsichtig zusammenschob. Er würde sie behüten. Beim Binden würde er die Seiten zärtlich berühren. Ihre Liebe würde in seinem Regal stehen. Wahr und unveränderbar. Eine Liebesgeschichte, wie kein Dichter sie hätte ersinnen können. Geborgen zwischen Buchdeckeln. Nie würde diese Liebe ihn verlassen. Sie würde ihn umfangen, in den dunklen Stunden seines Lebens. Wärme schenken, wenn die Einsamkeit ihn überzog und er zu erfrieren drohte.
Er zog sich an und küsste sie ein letztes Mal auf ihre kalten Lippen. Sie hatte es ihm gesagt. Sie würde ihn über alles lieben. Mehr als ihr Leben.
Er verließ das Hotel. Die klare Nachtluft umfing ihn und die letzten Gefühlsfragmente lösten sich auf, wie Schneeflocken im Sonnenschein. Er griff zum Handy. „Ich bin es. Ja, ich kann den Abgabetermin halten. In zwei Stunden haben Sie das Manuskript.“ Er war sich sicher. Heute Nacht hatte ihn die Muse geküsst. Seine Leserinnen würden die Geschichte lieben. Ihn lieben. Ihm einen Bestseller bescheren.