Die Gabe
Schon als Kind hatte sie ihn fasziniert. Die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden. Mit zwölf hatte er seinen ersten Menschen getötet. Nein, nicht getötet, erlöst. Das beliebteste Mädchen der Schule, drei Jahre älter als er. Ihre Fröhlichkeit, die Unbekümmertheit, war nur aufgesetzt gewesen. Ihre Schreie, wenn auch niemand außer ihm sie gehört hatte, hatten in seinem Kopf gedröhnt und waren erst verstummt, als er sie im Wald erschlagen hatte. Damals hatte er noch einen Stein benutzt, heute bevorzugte er Messer zur Erfüllung seiner Pflicht. Er fand, dass sie die effektivere und sauberste Waffe waren.
An diesem Tag hatte er verstanden, dass er eine Gabe hatte und das Gefühl der Macht hatte sich seinen Weg durch alle Nerven und Venen in jeden, noch so verborgenen Winkel seines Körpers gebahnt.
Er war auserwählt. Die Schreie, die er immer wieder hörte, waren die verzweifelten Hilfeschreie der Menschen, die ihn so sehr anwiderten. Sie waren schwach und zu feige, ihrem elenden Leben selbst ein Ende zu machen.
Aber sie war anders.
Er war ihr gefolgt, hatte sie lange beobachtet. Sogar in die Kirche war er gegangen, um ihr zuzusehen. Sie betete zu Gott, bat Ihn um Hilfe. Sie wusste nicht, dass Gott ihre Schreie nicht hören konnte, dass Er nicht entschied, wer erlöst wurde und wer nicht.
Sie würde es bald herausfinden.
Aber erst wollte er ihr ein Geschenk machen. Lächelnd streifte er sanft wie ein Sommerwind ihre Stirn mit seinen Lippen, atmete ihren Geruch ein, genoss es, ihre weiche Haut zu berühren.
Er konnte kaum glauben, dass sie hier unter ihm lag, fast nackt. In seinem Bett. Es war so einfach gewesen, sie einzuladen, oder hatte sie ihn ... ?
Es war nicht wichtig, wer wen zuerst angesprochen hatte, er schob die Gedanken beiseite und legte seine Lippen auf ihre. Sie waren sanft und sinnlich, schmeckten süß. Er konnte es kaum abwarten, wollte sich in ihr verlieren und sie endlich erlösen, aber er zwang sich zur Zurückhaltung. Sie war etwas besonderes, heilig. Ihr Tod durfte nicht so gewöhnlich sein wie die Anderen. Dieses Mal würde er sich wirklich Zeit lassen und es genießen dabei zuzusehen, wie das Leben aus ihren unschuldigen Augen wich.
In den letzten Jahren hatte seine Gabe fast angefangen, ihn zu langweilen. Bei ihr entdeckte er sie neu.
Schreie drangen wieder in seinen Kopf, wie ein regelmäßiges Pochen. Mit einem Finger strich er über ihren Hals, verharrte an der Halsschlagader und lächelte.
Bald. Schon bald würde sie von diesem Leben erlöst sein ...
***
Die Schreie waren so laut, dass er glaubte, sein Kopf würde jeden Moment zerspringen. Sein Mund brannte, während er aus seinem traumlosen Schlaf aufwachte.
Das Licht schmerzte in seinen Augen, er wollte sie wieder schließen, aber das durfte er nicht. Er hatte noch eine Pflicht zu erfüllen, aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich einfach nicht bewegen. Sein ganzer Körper fühlte sich taub an, sogar seine Zunge war schwer.
Plötzlich war ihr Gesicht über ihm, ihr süßes Lächeln. Sie erinnerte ihn an einen Engel. Sie hatte anscheinend geduscht und sich angezogen.
„Es wird bald vorbei sein“, drang ihre sanfte Stimme zu ihm durch. „Weißt du, es gibt Spinnen, die ihre Männchen nach der Paarung auffressen. Ich bevorzuge Gift, ist einfacher.“
Den Kuss, den sie ihm zum Abschied gab, spürte er nicht, aber er erinnerte sich wieder.
Sie hatte etwas zu trinken geholt, nachdem er sie lange geliebt hatte. Aber sie hatte doch wohl nicht ... . Nur er hatte die Gabe, sie musste sterben, nicht er.
Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Als er aus den Augenwinkeln sah, wie sie das Zimmer verließ, begriff er, dass die Schreie in seinem Kopf dieses Mal seine eigenen waren.