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Die Geschichte vom verlorenen Ich

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21.04.2004
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Die Geschichte vom verlorenen Ich

Die Geschichte vom verlorenen ICH begann genau betrachtet mit der traurigen Geschichte vom verlorenen WIR. Das WIR war in weiten Teilen Zentrum OST´s, eines monströsen Plattenbaugebietes und des Ostens allgemein verlorenen gegangen.
Es hatte sich nach der politischen Wende 1989 immer mehr verflüchtigt. 13 Jahre danach war es fast vollständig und ohne feste Meldeadresse abhanden gekommen: Die personellen beruflichen Umstände hatten das Personalpronomen WIR (das erste im Plural) fast ausgelöscht.
Die Kombinate waren tot. Die Betriebe waren tot. Es gab keine Kollektive mehr. Keine LPG-Pflanzenproduktion und auch keine LPG-Tierproduktion. Das WIR ärgerte sich nicht mehr über die DDR, wenn die Busse zu spät kamen oder im Sommer die rote Limonade, im Volksmund „Lenin-Sprudel“, ausverkauft war. Das WIR freute sich auch nicht mehr, wenn der Plan übererfüllt worden war oder das WIR auf der Betriebsfeier so lange getrunken hatte, bis die Pupillen auch „Wir“ schrieen und sich in der Mitte berührten. Das funktionierte nicht mehr, denn WIR fuhren nicht mehr morgens mit dem Fahrrad zur Arbeit, sondern nur noch ein Teil der Menschen. Es gab keine Planstelle mehr für das WIR.
Wenn es gut gelaufen war nach der Wende, dann war es das ICH, dass sich morgens alleine in seinen Westwagen setzte und losbrauste. So wurde aus dem WIR schleichend ein ICH und das WIR wurde nur manchmal flüchtig wiederbelebt. Zum Beispiel am späten Abend in der Kneipe, wenn der Alkohol reichlich genug für Verbrüderungsszenen geflossen war. „Weil WIR heute aber ganz schön einen sitzen haben.“ Oder an Orten, wo die Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes nicht die Grenze, sondern den Beginn der Vergnügungen bildete. Manchmal wurde es auch noch an Straßenbahnhaltestellen gesichtet, wenn es der Fahrplan zufällig bei alten Kollegen so gewollt hatte, „das WIR uns ooch mal wieder gesehen haben.“ Schön. Aber selten.
So fristete das früher dominante WIR ein jämmerliches Nischendasein – zwischen den Singular-Personalpronomen war es auf die unterste Stufe der Gebrauchsrangliste und der Bewusstseinsebene abgerutscht.
Nur, ohne das WIR war auch das ICH zwar nicht ausgelöscht worden, aber zu einem Zweiklassen-Ich geworden. Das begann damit, dass einige eine ICH-AG gründen konnten und andere nicht. Torsten Sundström nicht, was ihn aber eigentlich nicht ärgerte, weil man ihn in seiner Kindheit zu einer gewissen Bescheidenheit erzogen hatte und schon das Wort ICH-AG für jeden bescheidenen Menschen höchst seltsam klingen musste.
Aber Bescheidenheit zählte heute nicht mehr. Heute war es nicht bescheiden, sondern saudumm, nicht den größten, maximalsten, ultrageilsten, mega-geldgeilsten ICH-Fun für´S-ICH einzufordern. Jedenfalls: Diese Zweiklassen-ICH-Geschichte endete damit, dass bei einigen das ICH (Es mutierte sogar häufig zu einem hipp-hipp-hurra-dreifach-ICH-ICH-ICH) ständig größer wurde. Dafür verkleinerte sich das ICH bei anderen Menschen aber proportional. Bis es sich fast aufgelöst hatte und diese Menschen sogar ihr eigenes ICH verloren hatten. Weil sie ihr Selbstwertgefühl verloren hatten. Weil ihnen erst das WIR abhanden gekommen war und dann ihre Arbeitsstelle und dann ihre Wohnung und am Ende noch viel mehr. Fast alles.
Jetzt standen sie jeden Tag vor ihrer ehemaligen Kaufhalle (es war jetzt ein bunter Supermarkt) in Zentrum Ost und von Zeit zu Zeit delegierten sie einen aus ihrer Mitte zum Spirituosen einkaufen in den weißen Flachbau mit der bunten Kaufhausketten-Reklame.
Dort in ihrer Mitte, auf den kleinen, schlechtgestrichenen Bänken unter den Bäumen wurde das Personalpronomen WIR doch noch manchmal gebraucht. Dort erlebte es eine kleine, unscheinbare Renaissance. Nur wurde es meistens nicht gesprochen, sondern gelallt. Das WIR lungerte tatenlos, ohne festen Wohnsitz und hoffnungslos vor den hochnäsigen Augen des ehemaligen Klassenfeindes herum. Und das war, gesellschaftlich betrachtet, doch ein ziemlich trauriger Abstieg für das früher so starke WIR.

 

hi hendrik-roller,
Für mich ist Deine Geschichte ein wenig wirr. Dein Stil gefällt mir jedoch gut. Das Ganze lässt sich flüssig lesen. Von der Materie an sich, die die Geschichte beschreibt habe ich leider aber zu wenig Ahnung, um tatsächlich damit zurecht zu kommen. :shy:
Fazit:
Schön geschrieben, aber so wirklich verstanden haben wir es nicht und ich auch nicht!

Liebe Grüße, die Kürbiselfe Susie :)

 

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