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Die Goldene Rakete 2003

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27.07.2003
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Die Goldene Rakete 2003

Die Zeit zum Handeln war gekommen. Nur noch ein paar Tage, dann war sie da, die Plage. X-Slayer war gerade dabei, seinen Koffer mit den nötigen Reiseutensilien zu bepacken. Nicht die Reise auf die Malediven, wie letztes Jahr, sollte es sein. Schließlich hatten sie dort auch Weihnachten, und obwohl in der Gluthitze schmorend, wurde man auf Schritt und Tritt von braungebrannten Reise-Animatoren in kurzer Hose und Rauschebart samt Santa-Mütze verfolgt. Ho-ho-ho war das mindeste, was man abbekam. Manchmal, wenn sie einen erwischten, zwangen sie einen, Stille Nacht mitzusingen oder gaben selbst ein besinnliches Gedicht zum besten, das sie kurz zuvor aus dem Internet gedownloaded hatten. Malediven war nun auch verseucht, vielleicht war es schon immer verseucht gewesen, aber dazu konnte er nichts sagen, da er jedes Jahr einen anderen Fluchtpunkt wählte. Die letzen fünf Jahre hatte X-Slayer es in den wärmeren Gefilden versucht, der Idee folgend, "Da wo kein Schnee ist, ist auch Null Besinnlichkeit". Nachdem er die Karibik, Australien und große Teile Afrikas abgegrast hatte, wurde ihm schließlich die Absurdität seines Tuns in vollem Umfang bewusst. Die kälteren Länder, da musste man kein Prophet sein, um Bärte, Schlitten und beißenden Glühweingeruch zu erwarten; deswegen waren die schon immer auf seiner Zielkarte, die die Wand seines Zimmers schmückte schwarz durchgestrichen gewesen. Als ob sie nie existiert hätten. Mit Wut schaute X auf eine leere Cola-Dose hinunter, die neben dem Bett lag. Er trat auf sie. Einmal , zweimal ... Nachdem er wie ein wilder minutenlang auf sie eingetrampelt hatte, hatte sie das Aussehen einer ausgewalzten Zwei-Euro-Münze angenommen. Ja, so war das gut. Jetzt nur nicht die Lippe zittern lassen und kein Mitleid zeigen. Eine für diese Zeit typische, aus dem Nichts kommende Ladung von Besinnlichkeit war das schlimmste, was ihn jetzt noch überkommen konnte, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Er hoffte, sein Kumpan würde sich bald melden, denn die Lichterketten, die sein Nachbar aufgehängt hatte, spiegelten sich bereits in seiner Fensterscheibe und drohten feierlich. Das Händy klingelte. Er stutzte, als er glaubte "Stille Nacht" in dem elektronischen Gepiepse zu erkennen. Sein Atem beruhigte sich wieder als das Lied dann doch als das gute alte "Seek & Destroy" von Metallica erkannte. Bevor er abnahm, summte er noch kurz kopfschwingend zum blechernen Takt des Klingeltons mit :
"Searching ... Seek and Destroy! Hahahahaha!"

"Ja, Sterbinsky?", sagte er in den Hörer, der Fotos schießen, Videos aufnehmen, wiedergeben, im Internet Surfen und Texte für Kurgeschichten-Seiten verfassen konnte. Außer einem Swimmingpool war alles darin eingebaut.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang tief und unbekannt.
"Tschuldigung. Habe mich verwählt. Wiederhören", der andere war dabei, wieder aufzulegen.
"Zu wem wollten Sie denn?"
Der andere schwieg betreten für einen Augenblick, dann seufzte er leise.
"Ich, tja... wohnt bei Ihnen ein gewisser Iks-Sleja?"
X-Slayer riss die Augen auf und schrie in den Hörer:
"Bart-Abreisser?"
"...wie bitte? Nein..."
"Gingerbread-Blaster?"
"Nö."
"Na los sag schon, wer bist du denn dann? X-Slayer hier."
"Aah!", kam plötzlich verzückt vom anderen Ende, "Ist mir eine Ehre, dich mal zu hören. Deine Stimme hab ich mir aber immer bedrohlicher ausgemalt. Bist du ganz sicher, dass dur DER X-Slayer bist?"
X-Slayer verdrehte die Augen und ließ seine Piepsstimme für einen Moment lang ruhen.
"Find's auch nett, mal von dir zu hören, Tree-Fire"
"Tree-Fire schuldet mir noch zwanzig Euro, weil er beim letzten Einbruch dem Köter Tic-Tac anstatt Schlafpillen gegeben hat. Mein neuer Pulli ist dahin und ..."
"Kreuzdonnerwetter, verrat mir endlich, wer du bist", piepste X-Slayer aufgeregt.
Aber bevor er noch antworten konnte, war X schon selber darauf gekommen. Es war eigentlich gar nicht so schwer. Wer hatte als letzter begriffen, wie man die Verschlüsselung im Browser einschaltete, damit einen die Cops nicht erwischen? Sie hatten immer gedacht, es muss an seinem langsamen PC liegen, den er offenbar noch aus den 3.11-Zeiten hatte, dass er so lange brauchte, um im Chat ein Wort rauszuwürgen. Aber nun wusste X es besser. Dieser offenbar Kopfamputierte unter den Minihirnen musste natürlich Jingles-Ringo sein. Was für ein idiotischer Name, dachte X.
"Grüße dich, Jingles", sagte er piepsig.
Der andere rülpste offenbar, vielleicht war es auch eine Netzstörung.
"Wann geht's denn endlich los? Meine Oma hat schon den Baum gemacht. Es wird langsam Zeit."
"Natürlich ist es Zeit. Ich warte schon seit Tagen auf deinen Anruf. Wenn du bereit bist, trommle ich die anderen zusammen und dann kann es losgehen."
Von Jingles aus konnte es auch losgehen. Er war soweit. Bereit und willig, um mitzumachen. Es war eine Bereitschaft, wie sie nur ein laufendes Telefonhäuschen, dass auf die nächste Benutzung wartet, haben konnte. Dabei ließ er unerwähnt, dass er Weihnachten eigentlich mochte. Er hatte nichts auszusetzen an dem süßlichen Geruch der Plätzchen, die seine Oma zum Fest buk. Oder dem verführerischen Duft von Glühwein, den sie eigenhändig für ihn machte, der sich immer im ganzen Haus ausbreitete und in den Gardinen verfing und der so schön die Enttäuschungen und Schmähungen seines Lebens überdeckte. Jingles-Ringo hielt es für besser, es der Weihnachtshasser-bande zu verheimlichen. Er kannte sie alle bis auf X-Slayer, der erst seit kurzem zur Clique gestoßen war, und binnen kurzem zu ihrem virtuellen Anführer geworden war. X war nicht wie der Rest von ihnen, das war Jingles' erster Eindruck gewesen und das bestätigte auch seine mädchenhaft hohe Stimme. Wahrscheinlich wog er weniger als Einhundert Kilo, konnte womöglich nicht mal Hundertzwanzig Kilo Bankdrücken. Wahrscheinlich war er so ein Halbhemd, das Schwierigkeiten damit hatte, die Einhundert-Gramm-Fernbedienung hochzuhieven. Aber wenn es den anderen egal war, dann schloss er sich ihrer Meinung an. Das war besser so, denn seinen Kopf überzustrapazieren mochte er nur ungern, da er ihn noch für das Durchbrechen von geschlossenen Türen brauchte.

* * *

Eine halslose Kompanie, jeder kurzgeschoren und im Schulterumfang breiter als in der Körperhöhe, standen versammelt in der verlassenen Turnhalle und ließen ihre niedertriebig gesteuerten Gedanken um das folgende Ereignis kreisen. Sie warteten auf den großen Auftritt ihres Anführers und geistigen Vaters. Nie wussten sie so recht, wogegen sie waren, hauptsächlich dämmerte aber immer ein vager Grund am Horizont und jedes einzelne Mitglied der Kompanie betrachtete jeden vagen Grund als eine Aufforderung, sich zu klopfen. Sie wussten, DASS sie gegen Etwas waren. Nur das war wichtig. Hatten sie erst einmal ein Ziel ausgemacht, das würdig war, darauf wütend zu sein, dann war es kurze Zeit später entweder abgebrannt, niedergetrampelt oder seine Bestandteile fanden sich durch die Luft fliegend wieder. Auf jeden Fall war es hinterher Geschichte. Dieses Jahr sollte das Weihnachtsfest daran glauben. Und Coca-Cola. Keiner von ihnen wusste so recht, wieso der Getränkekonzern ein verwerfliches Objekt sein sollte, laut X-Slayer genauso abscheulich und hassenswert wie Weihnachten und Das Wort zum Sonntag, aber wenn ein Verein niedergewalzt werden konnte, dann war da zweifellos auch Platz für zwei. X-Slayers dürre Gestalt erschien auf der Turnhallentribüne, die etwa drei Meter über den Boden ragte. Irgendwie schien es ihm wichtig, auf die Gorillas von oben herunterschauen zu können. Stille breitete sich momentan aus, als ihnen klar wurde, mit welch einem Halbhemd sie es hier zu tun hatten. In ihren Köpfen hatte zwar seit dem ersten Internet-Kontakt immer das Bild eines Dünnspargels gespuckt; fünfzig Kilo, vielleicht einssechzig groß (was von seinem wahrscheinlich besser entwickelten Hirn ausgeglichen wäre). Nun kroch die Einsicht ihre schwerfälligen Gehirnwindungen entlang, dass sie sich auch hierbei vertan hatten. Er sah vielmehr nach einsfünfzig und fünfunddreißig Kilo aus. Mit seiner klugscheißerisch runden Nickelbrille wirkte er wie ein trotziges Kind. DAS sollte X-Slayer sein? Im Augenblick, als einer der hinteren seine Hand heben wollte, um den Knaben zu fragen, wo der richtige X bleibt, begann das Kind zu sprechen. Das schrille vogelartige Piepsen wischte mit einem Mal jeden Zweifel beiseite, denn diese Stimme kannte jeder einzelne von ihnen. Geschäftig, wie X nun mal war, hatte er schon mit jedem von ihnen telefonischen Kontakt gehabt. So sehr es die Kompanie in ihrer Schwarzenegger-Lastig getränkten Seele wehtat, dies musste ihr neuer Boss sein.

"Was machst'n da oben X?", fragte ein Block, dessen Stimme X als die von Tree-Fire erkannte.
X-Slayer hatte sich lange und gründlich auf diesen Augenblick vorbereitet. Die Unmengen von Reden, die er entworfen und dann wieder verworfen hatte, weil sie doch alle zu schwierig für die laufenden Airbags waren, schienen alle nicht den richtigen Ton zu treffen, egal wie einfach er sie gestaltete. Im Internet konnte man über solch eine brisante Sache, wie er sie vorhatte, nicht reden, selbst bei der maximalen Bitanzahl bei DES-Verschlüsselung nicht. Er war sich sicher, dass die NSA irgendeine Hintertür in DES installiert hatte, damit sie jeden abhören konnte und verschob deshalb die Finale Erklärung, sprich alles auf diesen ersten Augenblick ihrer Zusammenkunft. Trotz stundenlangem Rauchens gestern abend war seine Stimme nicht einen deut überzeugender und weniger quietschentig als sonst. Die unendlich dumm aus der Wäsche blickenden Gesichter seiner Gang festigten in ihm die Gewissheit, dass er es ihnen nie und nimmer erklären würde können.
"Jungs, Gang", begann er, unterdrückte plötzlich aufkommende Weinerlichkeit, und flüsterte schließlich, "Hallo, ihr."
Sie schwiegen.
"Verdammtes Weihnachten, wir machen kaputt, den Scheiß!", rief er plötzlich, im verzweifelten Versuch, sich auf ihre Ausdrucksebene zu begeben.
Keine Reaktion.
"Wir schießen den Rentieren die Kniescheiben weg, essen die Leber vom Weihnachtsmann, schneiden den Elfen die Kehlen durch, stehlen alle Geschenke, zünden sie an, jagen sie in die Luft, drücken ihnen das Schmalz aus den Ohren, warten, bis sie nur noch japsen und dann tanzen wir auf ihren Gräbern!"
Langsam erhellten sich die Mienen der Blöcke.
"Und wie willst du das machen?", fragte der riesenhafte Bart-Abreisser endlich.
Sie waren auf dem Punkt. Er hatte ihre Aufmerksamkeit.

Sein Hirn stellte die Sätze in eine ihnen verständliche Sprache um.
"Ist'n Scheiß, Weihnachten, Alter", sagte er langsam, "aber nicht zu ändern, ey. Wisst ihr, Gang, wenn der Weihnachtsmann mit seinem Geschenke-Schlitten kommt, voll das Altertum-Gerät, dann blutet das Herz, gibt's kein Zweifel."
Sie nickten.
"Und wer ist schuld? Ey, Coca-Cola, sag ich!"
Das Nicken hörte auf. Gingerbread-Blaster schob ein paar sperrige Schultern zur Seite und trat vor.
"Boss, du weißt, wir mögen dich. Uns macht es auch nix aus, dass du so dünn bist. Kaputtmachen, ja, das ist unsere Sache. Weist du, Boss, aber Cola trinken doch eigentlich alle gern. Frag die Jungs, wie viele Cola mit Bier mischen, macht sogar noch mehr besoffen als Glühwein. Und deswegen hab ich mich gerade gefragt, warum willste die plattmachen? Weihnachten ist klar. Aber niemand von uns will auf sein Colaweizen verzichten, Boss."
Das war die längste und durchdachteste Rede, die er je von einem von ihnen gehört hatte. X-Slayer legte die Stirn in Falten und machte sich gedanklich einen Vermerk. Gingerbread würde er nie mehr unterschätzen.
"Cola schmeckt gut, das ist wohl wahr, aber wollt ihr auch wissen, wieso?"
Sie nickten. Klar, wollten sie das. Sowas stand schließlich nicht an jeder Litfasssäule.
"Sie verhexen die Leute. Früher taten sie Kokain in die Flaschen, bis alle süchtig waren. Und irgendwann hat der Genpool der Erdbevölkerung mit Mutationeller Adaption geantwortet, Außerdem haben die Weihnachten erfunden."
Gingerbread schaute verdutzt.
"Kokain?"
"Koks, sie taten immer ein bisschen Koks rein."
Die Felsgesichter in der Halle wurden weicher. Plötzlich war ihnen noch weniger klar, warum man Coca-Cola fertig machen sollte. Sie hatten offenbar Koks frei unter die Leute verteilt. Es waren auf Erden wandelnde Heilige.
"Die Firma bestand damals aus lauter Junkies. Einer von ihnen kam im Delirium auf die Idee seines Lebens. Er hat den russischen heiligen Nikolaus geripp-offt und daraus den Weihnachtsmann gemacht. Er hat ihm ne rote Robe verpasst und einnen mächtigen, weißen Bart", Bartabreisser zeigte bei diesem Wort lachend seine Zähne, "dann noch einen Altertums-Schlitten, Rentiere und ließ ihn ein gottverdammtes Ho ho ho gröhlen. War zuerst als Werbung gedacht, dann ist es, wie der Koks im Gesöff, den Leuten in Fleisch und Blut übergegangen. Mutationelle Adaption. Die ganze Besinnlichkeit, das Wasser in den Augen der Passanten auf den Weihnachtsmärkten, die bunten Lichter, die einem den Atem rauben, das alles basiert auf dieser Werbeidee von Coca-Cola."
X-Slayer schüttelte sich bei diesen Worten vor Ekel und wäre fast von der Bühne gefallen.
"Weihnachten muss zerstört werden", sagte er mit Nachdruck.
Plötzlich hatte seine Stimme trotz aller Piepsigkeit an Tiefe gewonnen. Er brüllte seine Anti-Weihnachten Parole mehrmals in die Menge hinein und jedes mal antworteten die Blockgesichter lauter.
"Gut", meinte Jingles schließlich, als sich die Gemüter beruhigt hatten und endlich wieder Stille in der Halle herrschte, "TNT drauf werfen, und fertig!" Er meinte es nicht exakt so, aber bei seinen Kumpels würde er damit zweifellos punkten.
"Panzerfaust haben wir auch. Jeden, der besinnlich guckt, unter die Erde damit ..."
Jingles wollte noch was sagen, aber er kam nicht dazu, weil Gingerbread sich vor ihn stellte. Er war noch einen halben Kopf größer als Jingles. Er hob die Hände in die Luft und wartete, bis jeder das Bisschen Aufmerksamkeit, das ihm zur Verfügung stand, auf ihn richtete.
"Ihr kapiert doch garnix"
Er drehte sich um, und schaute abwechselnd in jedes der vom Suff aufgedunsenen Gesichter. Ich glaube, X will uns Folgendes damit sagen: wir können natürlich auf die Besinnlichen ballern, aber es bleiben immer noch genug davon übrig. Wir können Coca-Cola auslöschen, bleiben noch die Weihnachtsmärkte und Kaufhäuser mit ihren bunten Kinkerlitzchen. So einfach geht es nicht. Es sind Milliarden. Das Problem ist, dass Weihnachten schon in den Köpfen der Leute drin ist. Mutationell adaptiert. Wir müssten sie in der Vergangenheit packen, am besten da wo die Idee mit der Werbung aufgetaucht ist. Hab ich nicht recht, X?"

X-Slayer war sprachlos. Er unterstrich seinen gedanklichen Vermerk doppelt und dreifach. Mit roter Farbe und mit einem wasserdichten Fasermaler. Dieser Gingerbread hatte es faustdick hinter den Ohren. Denn genau das war der springende Punkt. Das Problem lag schon viele Jahre zurück. In der Vergangenheit.
"Und deshalb müssen wir in die Vergangenheit reisen. Wir töten den Werbefritzen, bevor er sich auf dem Klo eine Line zieht und mit dieser Idee zum Coca-Cola-Boss rennt. X-Slayer kennt sich mit Internet und Computern so gut aus, ich glaube er hat wirklich genug auf dem Kasten, um eine Zeitmaschine zu bauen. Schaut ihn euch an, der sieht doch schon so verdammt Halbhemdmässig aus. Auf der Steinmetz-Schule hab ich mal eine Aufschrift auf der Klotür gelesen, dass alle halben Hemden zu sowas in der Lage sind."

X-Slayer schrie auf. Alles, bis auf den letzten Satz traf den Kern in seinem Innersten. Wenn je einer den Nobelpreis verdient hatte, dann Gingerbread-Blaster für seine Detektivleistung eben.
"Du hast uns doch nicht umsonst hergeholt, X. Ich könnte schwören, du hast die Zeitmaschine schon fertig. Bestimmt steht sie schon unter der Bühne bereit und wartet auf uns, oder?"
Diesmal war es Jingles, der offenbar Gedanken lesen konnte. X tippte auf einen Glückstreffer, schrie jedoch noch einmal einen langgezogenen Erstaunensruf, der mehrfach zwischen den Wänden reflektierte. Dann warf er einen prüfenden Blick auf Jingles. Manchmal war das Leben ein einziges großes Fragezeichen und er wusste eben als er in Jingles tief in die ausdruckslosen Augen schaute, dass die Stringtheorie nicht das letzte Wort in der Erforschung des Universums sein konnte. X kam auf einmal der Gedanke von unsichtbaren Intelligenzstrahlen als Erklärung für all das hier, doch beschloss er zunächst, kleinere Brötchen zu backen und die
Mutationelle-Cola-Adaption in der Vergangenheit wieder geradezubiegen.

* * *

Die Zeitmaschine war schlicht. Nicht so pompös, wie sie in den Science-Fiction-Filmen immer dargestellt werden. Es war einfach eine große, rechteckige, graue Holzkiste, die sich mit ihrer Tristheit mit jeder Faser gegen den Weihnachtsramsch zu stemmen schien. X-Slayer trat als erster ein und die anderen folgten ihm breitschultrig. Man fühlte sich darin wie in einem überdimensionalen Aufzug, nur dass keinerlei Knöpfe zu sehen waren.
"Boss, wieso sind da keine Knöpfe, solltest du das Teil nicht lieber irgendwie steuern?", fragte Jingles.
"Ich hab es fest auf ein Datum programmiert, der Tag, an dem der Werbe-Junkie seinen Einfall hat. Wir landen da, drehen unser Ding und ziehen gleich wieder Leine. Wenn wir Glück haben, singt bei unserer Rückkehr keiner Stille Nacht mehr."
Jingles fühlte sich plötzlich traurig, seine Elefanten-Dicke Haut ließ aber nichts davon an die Oberfläche. Das Lied mochte er, weil es eine der Puppen immer gesungen hatte, mit der er früher gespielt hatte. Er behielt das für sich, ballte die Fäuste zusammen und versuchte ganz fest an den Feind und das Mutations-Dingsda zu denken.

* * *

1830, das Jahr wo das geschenkbeladene In-sich-gehen erfunden wurde. Sie wussten sofort, dass Alles wahr war, was X-Slayer vorhin erzählt hatte. Nirgendwo auch nur eine Spur von Weihnachtsbeleuchtung. Die Menschen liefen normal auf den schneematschigen Straßen umher, jeder die alltäglichen Sorgenfalten im Gesicht, aber keiner mit auch nur dem Hauch eines glasigen Blickes. X atmete tief die unverdorbene Luft ein. Heile Welt, in der die Gene der meisten noch exakt an ihren Plätzen saßen. Hier gefiel es ihm. Sollten sie ihre Mission, aus welchem Grund auch immer nicht vollbringen können, konnte er es sich sogar vorstellen, ganz hierzubleiben. Man sah dick vermummte Kinder miteinander Fangen spielen. Keines von ihnen würde im Traum daran denken, zu quengeln oder nach einem Geschenk zu trachten. Althergebrachte Weisen, so bar von jedem Kitsch und realitätsnah, dass sie X beinah an seine Metallica-Plattensammlung erinnerten, schwirrten durch die Luft und drangen in sein erfreutes Ohr. All das würde sich bald ändern, vielleicht schon in ein paar Jahren, wenn die Coca-Cola-Idee durchstarten würde, würden auch sie Sklaven des Einkaufes und der gespielten Fröhlichkeit werden, Sklaven von Stille Nacht. X biss die Zähne zusammen und schwor bei seinem Leben, alles erdenkliche zu tun. Bis zum bitteren Ende.

Selbst das Firmengebäude schien das große Brimborium, das in ihm erdacht wurde und in Kürze die ganze Welt beherrschen würde, nicht zu bemerken. X schlich auf leisen Sohlen rein, der Rest rumpelte mehr oder weniger wie eine Einhundert-Tonnen-Eisenbahn durch einen Porzellanladen ins Gebäude. Es war schon spät, deshalb waren die Flure nur noch spärlich von plumpen Birnen mit Glühdrähten beleuchtet, die später einmal in einer kleineren und bunteren Version das Weihnachtsfest dominieren sollten. Leere Flaschen standen hier und da im Gang umher. Es sah fast wieder wie nach der Einführung des Dosenpfands aus, nur dass das Fehlen von Plastikflaschen dem moderne Auge etwas befremdete. Die Gruppe der grobschlächtigen Männer hielt kurz inne, um sich zu beraten. X warf mit ein paar Anweisungen um sich, woraufhin sich die Männer in zwei Gruppen aufteilten.
Gruppe A bestand aus X persönlich und ein paar weniger hellen. Sie würde sich um den Werbedesigner kümmern. Abmurksen war vorgesehen, denn Alles andere erschien X zu zeitaufwendig und kompliziert, um termingerecht umsetzbar zu sein.
Gruppe B stand unter der Leitung von Gingerbread-Blaster und war für Plan B verantwortlich. Plan B war eigentlich Plan A , vielleicht mit einer etwas rabiateren Ausführung. Dem gesamten Firmenvorstand die Kehle durchschneiden war hier die Idee. Sie baute auf der brilliant hergeleiteten Tatsache auf, dass daraufhin niemand mehr übrig blieb, um den Brausenkonzern fortzuführen, was somit dem Werbefeldzug das Wasser unter den Koksfüßen ziehen würde.

X hatte viel über die Möglichkeit von Zeitparadoxen gelesen. Wenn man in der Vergangenheit zurückreiste und den eigenen Großvater umbrachte, dann konnte man nie geboren worden sein, um in der Vergangenheit zurückzureisen, um den Großvater zu töten. Und wie sollte man dann darüber nachdenken, dass man in der Zeit zurückreisen ... Es war halt ein schwieriges Problem. Das einzige Phänomen von Interesse war für X jedoch das begrüßenswerte plötzliche Verschwinden von Weihnachten im Jahr 2003. Es würde von niemandem bemerkt werden, weil es nie erfunden wurde, weil der mögliche Erdenker einem brutalen Mord zum Opfer gefallen war. Dass der Entdecker dann auch nicht ermordet werden konnte, weil er ja kein Entdecker war, weil es nichts zu Entdecken gab, wenn Weihnachten niemals existiert hätte, verdrängte X einfach. Es war ein weiteres Paradoxon, dass hoffentlich überhaupt nicht auftreten würde. Für die gute Sache von funktionierenden Genen, war es das wert, den Lauf der Geschichte umzubiegen auch wenn er gefährliche Seitenflüsse bilden könnte, die vielleicht von niemandem mehr zu kontrollieren wären. X hoffte natürlich inbrünstig dass sowas nicht passieren würde.

Letztendlich gelangte X zu der Überzeugung, dass Nichts schief gehen konnte. Das Gefühl verstärkte sich noch, als er mit seinen Schlägern endlich das Büro des verschnupften Werbefritzen betrat. Es war überraschend schlicht, eigentlich genau nach X' Geschmack eingerichtet. Irgendwie erinnerte es ihn sogar an sein eigenes Zimmer in der Zukunft. Erstaunlicherweise hing eine Weltkarte an genau gleicher Stelle, wie sie auch bei ihm daheim, in der Zukunft hing. Das war seltsam, aber bestärkte X in einer alten Überzeugung. Oft war man seinem schlimmsten Feind näher als man dachte. Der Typ saß über einem Stapel Blättern, hatte seinen kümmerlichen Rücken ihnen zugedreht und nippte an einer Flasche Altertums-Cola. Nach jedem Schluck streckte und reckte er sich wie eine Katze und gab unmenschliche Geräusche von sich, was wohl in den Ingredienzien seines Trunks Ursache hatte. Er schien von dem Gepolter, mit dem sie ins Zimmer gekommen waren, nicht sonderlich beeindruckt.
"Ein Ausgeglichener?", dachte X, "Macht das der Koks?"
Die Schlägertruppe stand still im Raum und wartete. Vielleicht war ja was dran am Glauben, dass man sein Ende kommen spürt, wenn die Zeit zum Sterben naht. Manche Leute sollten sich schon ähnlich Ruhig verhalten haben, kurz bevor ihnen etwas zustieß. Fast so, als ob sie es vorhergesehen hätten.
"Seit ihr also endlich da", sagte der Weihnachtserfinder plötzlich, ohne sich umzudrehen.


"Ja, du Ratte", schrie Jingles als erster, leicht verwirrt, "wir klatschen dich an die Wand."
"Du scheinst uns mit jemandem zu verwechseln", meinte X-Slayer ruhig, "willst du dich nicht umdrehen und einen Blick auf deinen Besuch werfen? Es wird wahrscheinlich dein letzter sein."
"Brauch ich nicht, mein Freund. Euere Gruppe-B ist sicher beim Firmenvorstand, ihr wurdet erwartet", sagte der Designer mit einer Fistelstimme, die noch um einiges höher als die von X war.
X wusste nicht, ob er sich freuen sollte, dass jemand ein noch feminineres Stimmorgan als er selber besaß, oder entsetzt darüber sein, dass der Drecksack bescheid wusste.
"Woher weißt du Schwein das alles?", fragte X, packte ihn an der Schulter und drehte ihn auf dem Stuhl zu sich. Was nicht schwer war denn der andere war leicht wie ein Kind.
X-Slayer blickte nun auf ein rattenähnliches, spitz zulaufendes Gesicht; hässlich aber von vertrauter Intelligenz. Plötzlich war ihm, als ob er in einen Spiegel schaute. Nur dass der andere NOCH dünner und ausgezehrter als er selbst war. Höchstens dreißig Kilo.
"X, das bist ja Du!", bemerke Jingles scharfsinnig, "Nur dünner."
"Danke, Jingles, und ausgezehrter. Da wäre ich selber nie darauf gekommen."
X' s Verstand lief auf jetzt Hochtouren, als er versuchte, die Situation halbwegs rational zu erfassen. Das konnte nichts anderes als eine perverse Art dieses Paradoxs sein, über die er noch kurz vorher nachgegrübelt hatte. So sicher wie Michael Jackson seiner Schwester LaToya glich, glich der Werbedesigner ihm selbst. Aber warum war er jetzt doppelt da? Hatte der andere vielleicht wie Jackson, eine Gesichtsoperation hinter sich? War schwer vorstellbar, so mitten im neunzehnten Jahrhundert. Aber wenn der andere er selbst war, dann müsste er selber Weihnachten erfunden haben. Er, der Weihnachtshasser erster Güte. X' Sinne entwichen langsam.
X-Blaster-2 hatte offenbar Mitleid mit seinem früheren (späteren?) Ich und fühlte sich genötigt, das Wort zu ergreifen, um ein weinig Aufklärungsarbeit zu betreiben.
"Du fragst dich jetzt, wieso du doppelt da bist, und warum du selber Weihnachten erfunden hast. Wo du doch der Weihnachten so hasst. Ich weiß was du denkst."
"Was zum Teufel..."
"Ich wusste, dass du das sagst."
"Aber..."
"Das wusste ich auch."
Daraufhin beschloss X (der erste), zu schweigen. War der andere vielleicht irgendwie mit seinem Gehirn vernetzt? Wie konnte er von seinen Gedanken wissen?
"Ich erklär's dir", sagte X-2, "Es ist weniger kompliziert, als du denkst. Hat weder mit Superstrings zu tun, noch mit Michael Jackson. Und natürlich bin ich nicht mit dir vernetzt. Es ist einfach so, dass ich du bin. Wir beide sind eins, dieselbe Person, mit dem Unterschied, das wir aus verschiedenen Zeiten stammen."
X kratzte sich am Kopf. In diesem Augenblick ähnelte sein Gesichtsausdruck erschreckend dem seiner Truppe.
"Ich, oder wenns dir besser gefällt, sagen wir besser: du - bist in der Zeit zurückgereist - nach 1830, hast den Werbedesigner um die Ecke gebracht. Genauso, wie du es vorhattest und bist dann, wie geplant, in deine Zeit zurückgekehrt. Es gab aber Probleme in meiner/deiner Heimat-Zeit. Es traten wie von uns befürchtet, Paradoxone auf. Das wir gerade miteinander sprechen ist zum Beispiel so eine Kostprobe. Mir/Dir hat das letztendlich nicht sonderlich gefallen. Deshalb bin ich dann noch einmal in die Maschine gestiegen, um den Zeitlauf wieder zurechtzubiegen und um die ganzen Verwicklungen wieder rückgängig zu machen. So einfach ist das."
"X-Blaster macht die Zeit kaputt, dann reist er noch mal zurück, um sie wieder zu kitten", sinnierte Jingles.
"Halts Maul!", schrie X-1, "Wie hast du es geschafft, die Stelle des Designers einzunehmen, und was passiert alles in der Zukunft, das so erschreckend ist? Weihnachten war doch (wird doch) verschwunden sein, oder?"
"Das mit dem Designer war einfach", führte X-2 aus, "Ich habe mich etwas weiter zurückversetzen lassen, ein paar Jahre, bevor er bei Coca-Cola angestellt wird. Dann habe ich mich um seinen Posten beworben. Es war einfach, da reinzukommen. Hab ihnen einfach nur das zukünftige Logo unter die Nase gehalten und sie waren begeistert. Was in der Zukunft passieren wird, kann ich dir leider nicht verraten ..."
"Wieso nicht?", schnaubte X1, "Warum erzählst du mir nicht alles?"
"Ganz einfach. In einem Paradoxon-Freien 2003 ist nur Platz für einen X-Slayer. Ich hoffe, du verstehst ..."

Es dämmerte X. Der andere X wollte ihn jetzt und hier beseitigen. Damit er in der Zukunft keine Probleme haben würde. Aber allmählich begriff X auch die Wichtigkeit des Kampfes für ihn selbst. Es ging jetzt nicht mehr um Weihnachten oder Coca-Cola. Es ging darum, in Zukunft Paradoxon-Frei zu leben. Stille Nacht kam ihm mit einem mal gar nicht mehr so schlimm vor.

Es schien der schwerste Kampf seines Lebens zu werden. Er gegen sich. X-2 wusste alles über ihn. Er kannte seine Gedanken, wusste wie er auf jedes Manöver reagieren würde. Wahrscheinlich hatte er schon alle Vorkehrungen getroffen, um auch die Gruppe-B zu vernichten. Und seine eigenen Leute, die jetzt hier im Zimmer standen, steckten vermutlich auch in einem schweren Schlamassel.

Gruppe-B, die Anderen, die dem gesamten Coca-Cola-Vorstand die Kehle durchschneiden sollten, standen in einem Nebenraum herum und waren tatsächlich in einer misslichen Situation. Gingerbread hatte nicht lange gebraucht, um die Lage zu verstehen. Sie waren in eine gut vorbereitete Falle getappt, die nur von jemandem bewerkstelligt werden konnte, der in ihrer Clique bescheid wusste. Ein Maulwurf war es nicht, hätte der doch zu wenig Zeit gehabt, mit den örtlichen Kontakt aufzunehmen, um sie zu verraten. Nein, es musste ein Zeitparadoxon sein, das war ihm gleich klar gewesen. Und als er auf die umstehenden Typen mit ihren angeschlagenen Maschinengewehren schaute, erkannte er einen degenerierten Jingles, ebenso wie Tree-Fire und einige weitere seiner Kumpanen. Sie sahen nicht wie sonst aus. Jeder von ihnen wog das doppelte von seinem normalen Gewicht. Sie sahen aus, als ob sie Jahrelang irgendwo eingesperrt und mit Süßigkeiten vollgestopft worden wären, möglicherweise waren sie auch vom Koks aufgedunsen. Die schwitzenden Kugeln zogen den Kreis um Gruppe-B immer enger.
"Tut mir leid, Jungs, dass es so enden muss", sagte Tree-Fire-II.
Die Super-Dicken entsicherten gleichzeitig.
Gingerbread konnte nirgends sein noch aufgedunseneres Ebenbild orten. Vielleicht war das ihr Vorteil, dass die richtig Fetten niemanden dabeihatten, der zwei und zwei zusammenzählen konnte. Er versuchte es.
"Ihr seid dabei, einen schlimmen Fehler zu machen", sagte er.
Sie hielten inne, die doppelt-aufgeschwemmten Gesichter in Fragezeichenform verzogen.
Tree-Fire-II erhob das Wort:
"Boss hat gesagt, wir sollen euch nix über die Zukunft sagen. Nur abmurksen, hat der gesagt. Es ist für eine gute Sache..."
"Ihr solltet mich kurz anhören, Jungs."
Auf Ging hatten sie schon oft gehört, sowohl die Blöcke, als auch die Super-Fette Version. Es hatte ihnen bisher nur Gutes eingebracht.
"Mach mal, aber schnell. Wir wollen keinen Ärger mit dem Boss", sagte das Dreifach-Kinn.
"Ich weiß, was ihr denkt, denn ich kann eure Gedanken lesen", sagte Gingerbread.
Sie starrten bedröppelt.
"Du, Tree-II zum Beispiel denkst gerade ans Abfakeln, stimmts?"
Tree-II grinste kurz voluminös, dann nickte er verlegen. Auch in ihrer vergrößerten Version hatten sie nicht allzu viel Bits im Kopf.
"Bartabreisser-II sehnt sich gerade nach einem bebarteten Billig-Santa, richtig?"
Bart-II kicherte und nickte, wobei sein Gesicht fast in seinem Kinn abtauchte.
"Ich will es kurz machen. Ich weiß Alles über euch, weil ich nicht Ginger-I bin, wie ihr alle denkt, sondern Ginger-III", Ginger-I jubelte innerlich über seinen plötzlichen Einfall, "Nachdem ihr uns hier erledigen werdet, werdet ihr in die Zeitmaschine steigen, in die Zukunft zurückgehen, dort abnehmen und feststellen, dass die Welt noch schlimmer geworden ist als zuvor. Das, was ihr 2003 gesehen habt, ist ein Zuckerschlecken, verglichen mit dem, was wir gesehen haben ... X, ich meine X-3 hat ausgerechnet, dass wir uns vertragen müssen und hier zusammenarbeiten, um den schlimmen Zeitlauf abzuwenden. "
Sie ließen die Gewehre momentan herunter. Der Gedanke, dass sie in der Zukunft abnehmen werden, hatte alle Bedenken beiseite gewischt.
Das war der Moment, auf den Gruppe-B, felsgesichtige Fassung, gewartet hatte.
Mit einem kollektiv gebrüllten "Tod Coca-Cola!" warfen sie sich auf die fetten Weihnachtsbefürworter. Diese hatten in ihrem momentanen Zustand keine Chancen gegen die durchtrainierte Abriss-Truppe. Die Doppelgänger wurden nach allen Regeln der Kunst übermannt und ohne mit der Wimper zu zucken umgebracht. Körperteile lagen auf dem Boden verstreut herum, das Blut hatte die Farbe von alt gewordener Cola und bedeckte jeden Fleck des Konferenzraumes.
"Wie weihnachtlich", sagte Gingerbread-Blaster und nickte den anderen zu. Es war Zeit, zu gehen.

Als X-Slayer-II (der Antiprot also), die blutbespritzten, durchtrainierten Halslosen ins Zimmer kommen sah, fielen seine rattenartigen Mundwinkel nach unten und er schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
"Diese Idioten. Ich sagte noch, nicht lange labern, sondern gleich killen...", seine Augen huschten in alle Richtungen, um einen Fluchtweg auszumachen. Aber wie soll man flüchten, wenn der Weg mit zwei Meter hohen Grabsteinen gepflastert ist? Nun fühlte er wirklich, dass seine Zeit gekommen war. Die Redensart stimmte also.
"Deine Zeit ist gekommen, du lächerliche Parodie! Stirb!", brüllte X. Er hielt sich fast zwanghaft für das Original, obwohl es physikalisch keineswegs belegt war.
"Übernimmt das jemand für mich?", fragte er, "Ich habe Hemmungen, dem hübschen Kerl eine Kugel in den Kopf zu jagen", dann gab X die Pistole an einen der Umstehenden. Ein Schuss fiel.

30.12.2003

Wie würde sie aussehen nach der erfolgten Operation, die einst so weiße Weihnacht? Voller Erwartung, aber auch mit einer Prise Unbehagen ging X-Slayer nach Hause zurück. Eigentlich müsste nun Alles perfekt sein. Sowohl die überschüssigen Doppelgänger, als auch der Weihnachts-Originator waren nun vom Erdboden verschwunden. Zu keiner Zeit existent.
Seine Truppe hatte sich gleich nach der Ankunft vom Staub gemacht. Sie planten gleich für morgen einen neuen, noch besseren Anschlag, der hoffentlich viel Unheil anrichten würde aber dafür mit ebensoviel Freude verbunden war. Zunächst hatte X die Zeitmaschine demontiert. Er wollte nie wieder Überraschungen der Art, wie sie in der Vergangenheit vorgekommen waren, erleben.
Ein letzter Gedanke über Paradoxone schoss ihm durch den Kopf. Wenn die hölzerne Zeitmaschine jetzt nicht mehr existierte, wie konnte er dann zurück nach 1830 gehen um mit sich selber kämpfen, den anderen töten und die jetzige Realität real werden lassen. Der Gedanke kollabierte in sich selbst und endete irgendwo weit weit weg, in einem fremden Universum.
X fühlte sich plötzlich erlöst, eins mit der Welt. In diesem Augenblick beschloss er, diesen blöden Internet-Nick abzulegen, ihn nie mehr zu benutzen. Ab jetzt würde er schlicht und einfach Harald Sterbinsky heißen. In seiner neuen, verbesserten Welt hatte er X-Slayer für immer und ewig begraben.

Der erste Eindruck seiner Welt war positiv. Wie damals, in 1830, gab es hier kein von Außen erkennbares Zeichen irgendwelcher Weihnachtsstimmung mehr. Obwohl es schon nach Mitternacht war, verpestete kein fröhlich blinkender Weihnachtsbaum die Sicht. Kein Papp-Weihnachtsmann stieg an einer Wand hoch, um den Hausherr vor seinen Nachbarn besser dastehen zu lassen. Die Fenster waren alle dunkel, ohne Kinkerlitzchen. So hatte er sich immer Stille Nacht vorgestellt, tatsächlich still. Er ging Heim und legte sich ins Bett. Dann schlief er tief und fest ein.

Am Morgen gab es dann für Harald ein paar Überraschungen. Zunächst einmal war er jetzt verheiratet. Und wie er aus den Augenwinkeln sehen konnte, war seine Frau offenbar Unterwäschemodel. Sie stand gerade mit einem T-shirt und Slip bekleidet in der Küche und machte Frühstück. Vermutlich für ihn. Ihre Beine hatten eine Länge, wie er sie nur im Guinness-Buch der Rekorde, Abschnitt Körperteile gesehen hatte. Mindestens Einsdreißig, die gesamte Frau mindestens Einsachtzig, schätzte Harald und ein Lächeln umkreiste seinen Mundwinkel. Nun goss das Zeit-Paradoxon, dass Natasha Henstridge locker in die Tasche steckte auch noch warmen Tee auf. Vermutlich auch für ihn. Er drehte sich auf die Seite und ließ einen Tropfen Sabber auf die teuere Bettwäsche fallen. Aber was war, wenn das gar nicht seine Frau oder Freundin war? Wenn er aus versehen im falschen Haus gelandet war? Plötzlich ergriff ihn Panik.
"Ausgeschlafen, Schatz?", fragte das Unterwäschemodel, kam näher und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. "Na, will mein Bussi-Bärchi-Schatzi vielleicht noch ein bisschen Sex am morgen?"
Sie beugte sich über ihn und knallte ihm unbarmherzig ihre Zunge in dem Mund. Mit weit offenen Augen ließ es Harald mit sich geschehen. Sie schien keine anderen Interessen zu haben, als ihn morgens mit Sex zu überfluten.
Fünf Minuten später waren sie fertig. Seine neue Frau stand auf und wackelte göttlich ins Badezimmer, um zu duschen.
"Bussi-Haraldi, wenn du nochmal willst, sagst du aber sofort bescheid. Ich will dass du glücklich bist. Hast du gehört?"
Sie sagte das mit einer Leichtigkeit und gleichzeitig mit einem Nachdruck, der ihn bis ins Körperinnerste erschaudern ließ. Die schlimme Zukunft, vor der ihn X-2 warnen wollte, hatte er mit seiner Aktion in der Vergangenheit offenbar in das reinste Paradies verwandelt. Neugierde, wie die restliche Welt so aussehen mochte, ließ ihn vom Bett aufstehen. Er duschte schnell, warf sich einen Armani-Anzug aus seinem Schrank über, der da offenbar schon immer gehangen hatte und ging zu seinem Ferrari in die Garage.

31.12.2003. morgens.

Bücher. Das versammelte Wissen der Welt, schwarz auf weiß. Die Bibliothek war Haralds erste Anlaufstelle um zu sehen, wie sich die Welt in den letzten Einhundertsiebzig Jahren entwickelt hatte. Er ließ sich "Grundschul-Geschichte" geben, weil dort die Lage vermutlich am prägnantesten zusammengefasst stand. Er öffnete das Buch hastig und blätterte darin. Die Gute Nachricht war: Es hatten keine Weltkriege stattgefunden. Keine Spur von Weltkrieg-I, keine Massengräber in Verdun. Millionen Menschen hatten ihr Leben behalten. Toll. 1940 war sichtlich auch nichts besonderes passiert. Super. Außer dass alle asiatischen Staaten zu einem großen, fröhlichen Land wurden. Friede, Freude, Eierkuchen. Danach auch kein Kalter Krieg, niemand hatte sich offenbar die Mühe gemacht, Atomwaffen herzustellen. Haralds Puls schoss auf Einhundertachtzig, als ihm bewusst wurde, dass er wirklich Großes geleistet hatte. Niemand achtete auf ihn, als er in die Handflächen vor seinem Gesicht weinte. Es waren Freudentränen und er fühlte sich stark. Mit seinem infantilen Weihnachtshass hatte er die Welt gleich mit verbessert. Um mindestens fünfzig Prozent besser, dachte er.
"Mit links erledigt", sagte er zu sich leise. Dann sah er auf das Register der reichsten Menschen der Welt. Sah, dass die vertraute Nummer Eins fehlte, dachte an seinen Computer und revidierte.
"Nein, einhundert Prozent, mein Junge. Einhundert Prozent!"

"Harald, was in Gottes Namen machst du da?", hörte er die honigsüße Stimme seiner Frau hinter ihm.
Sie kam mit einer großen Einkaufstüte in die Bibliothek, was der Bücherei fast augenblicklich einen Table-Dance-Touch gab. Er schaute sie an, dachte an all das, was sie wohl heute Nacht wieder mit ihm anstellen würde und seufzte.
Dann schaute er nach dem ersten Moment der Geilheit an ihren Beinen vorbei hoch und in ihr Gesicht. Sie schien irgendwie verhetzt zu sein. Er konzentrierte sich und schaute noch einmal genauer hin. Nein, es war nicht Verhetztheit, er hatte sich geirrt. Es war etwas viel grundlegenderes. Sein rattenartiger Mundwinkel zuckte nervös als er es sich eingestehen musste: Sie schaute tatsächlich besinnlich.
"Baby, heute ist doch das große Fest. Ich will, dass du da nicht in Bibliotheken rumlungerst. Komm mit nach Hause."
Obwohl zunächst irritiert, gehorchte er wie ein großen Baby und ließ sich von ihr nach Draußen zerren.
Auf dem Heimweg sah Harald noch mehr seltsame Gesichtsausdrücke. Die Menschen auf der Straße hatten offenbar allesamt Wasser in den Augen. Glasiger Blick. Er kannte das von früher, aber wie konnte all das sein, ohne Weihnachten? Es hing wahrscheinlich irgendwie mit dem heutigen Fest zusammen. Meine Güte, dachte er, sie haben doch nicht etwa jetzt Weihnachten auf Sylvester verlegt? Aber Weihnachtsmänner oder ähnliches gab es ja nicht zu sehen. Soweit so gut. Irgendwie schien eine große goldene Rakete an ihre Stelle getreten zu sein. Überall zierten in goldglänzende Folie gehüllte Pappraketen die Fensterscheiben. In allen Variationen und Größen waren sie vertreten. Manche hatten Münder und Augen aufgemalt, andere sahen eher wie Kanonen aus. Aber alle waren sie auf jedenfall oben spitz zulaufend. Es mussten Raketen sein. Goldene Raketen.
Er rümpfte den spitzen Mund und seufzte bei dieser Entdeckung. Er hatte lediglich ein besinnliches Fest durch ein anderes ersetzt. Dennoch wirkte das neue Fest auf den ersten Blick nicht so desaströs wie Weihnachten. Und wenn er schon bei einer mentalen Inventur war, zwang er sich noch mal zu der Erinnerung, dass das Bewahren der Welt vor zwei Kriegen auch Etwas war. Ausserdem: dafür, wie seine Frau aussah, lohnte es sich, jeglichen Scheiß anzustellen, sämtliche Raum-Zeit-Kontinuen zu sprengen und die Zeitläufe in wirres Spaghetti zu verwandeln.

Fünf Minuten vor Neujahr

Harald saß mit einer Sektflasche in der Hand vor dem Fernseher.
"Schatz, wo bleibst du?", rief er, "Du verpasst den Rutsch!"
Seine Frau kam rein. Sie hatte eine schwarze Plastikschürze und ebenso schwarze Handschuhe an. Sonst nichts. Sie schob eine Art fahrbare Liege durchs Zimmer.
"Leg dich jetzt bitte da drauf", befahl sie.
Obwohl er das Feuerwerk und die goldene Rakete (oder was das eigentlich sein sollte) nicht verpassen wollte, lag ihm Nichts ferner, als dieser Ausgeburt an Wollust zu widersprechen. Selbst jetzt konnte ein kleines Sex-Spielchen nicht schaden. Noch drei Minuten. Er legte sich auf die Liege. Sie schnallte seine Hände und Füße mit Sicherheitsriemen Fest.
"Ah, die harte Tour heute ...", lachte er und warf ihr ein Auge zu. Doch beschäftigt, wie sie war, achtete sie jetzt nicht mehr auf ihn.
Sie zog sein Hemd und seine Hose aus. Seinen Slip schnitt sie kurzerhand mit einem Messer durch und warf ihn mit einer barschen Geste auf den Boden.
Noch zwei Minuten. Sie schmierte jetzt seine Genitalien mit einer klebrigen Flüssigkeit ein. Musste das sein, dachte er und seufzte. Wo doch die ganze Nacht Zeit dafür war. Und unbequem war die Liege auch. Er überlegte hin- und her ob er es zur Sprache bringen wollte.
Noch eine Minute. Die Fernsehsender unterbrachen nun das laufende Programm. Der Welt-Präsident trat ins Bild.

"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wir wollen jetzt den feierlichen Augenblick der Goldenen Rakete begehen. Danken wir allen Männern über zwanzig aus tiefstem Herzen, dafür, was sie gleich für uns tun werden. Das Fest der Goldenen Rakete ist eigentlich ein Dankesfest. Obwohl ich sicher bin, dass die Gattinnen ihren Männern in den verbliebenen Tagen besonders intensiv gedankt haben", der Präsident errötete und musste kurz nach unten schauen, "möchte ich es hier noch einmal stellvertretend für all die übervölkerten Nationen der Welt tun. Drei Milliarden Menschen weniger letztes Jahr, dank euerem Einsatz. Das Fehlen von Kriegen macht es nötig, ja unabdingbar, dass die Bevölkerungszahl wieder in erträgliche Bereiche kommt. Dank dem Einsatz unserer über zwanzigjährigen Helden haben wir es in etwa drei Jahren geschafft. Danke. Auf, dass euere Goldene Rakete hoch gen Himmel empor schwebe."

Ein Beifallsturm brandete durch den Schirm ins Zimmer. Haralds Frau kam mit der Schere immer näher ...

Schnipp!

Flieg, Goldene Rakete, Flieg!

Die Goldene Rakete flog nicht, sondern rutschte die dafür vorgesehene Vorrichtung herunter, direkt in den Abfalleimer, wo sie dann liegen blieb.
Es wurde 2004.

 

:xmas:
Ähm, das da ist eine neue, verbesserte und tiefergelegte Version einer Story, die ich schonmal auf kg.de postete, damals allerdings extremst roh und unbearbeitet (in humor, wo sie mbMn letztendlich doch nicht so richtig hingehört)
Bin mit den Gepflogenheiten hier nicht sooo vertraut. Wie geht man bei Euch denn in solch einem Fall vor? Die alte Version löschen?

G

megarat

 

Die alte Version wird mit der neuen verlinkt und ins Archiv verschoben. Kontaktiere dazu einen Moderator in der Rubrik, in der die alte Version gerade liegt.

 

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