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Die große Chance
Sie sitzt einfach nur da. Irgendwo in einem Theater in Mitten von Moskau. Die Tränen rollen ihr über die Wangen. Krokodilsähnlich.
Das ist deine große Chance, wurde ihr oftmals gesagt, so kannst du aus dem ewigen Kreislauf entfliehen. Hübsch war sie. Sehr hübsch.
Das erkannte schon ihr Stiefvater, der oft genug seine damals 14 jährige Tochter in der Badewanne nicht nur sittlich berührte. Diesen Ekel den sie fast jeden Tag verspürte! Die schwitzigen stinkenden Hände, die groben Griffe ihres nach altem Fett und anderen Körperflüssigkeiten duftenden Peinigers lähmten ihre Nase und ihre Gefühle. Hass war das einzige Gefühl was für sie noch existierte. Bodenloser Hass. Hass auf ihre wegschauende Mutter. Hass auf ihren perversen Vater.
Irgendwann floh sie von daheim. Sie erlebte dann zum ersten mal was es heißt umsorgt zu werden. Sie lernte schnell einen 30-jährigen Mann kennen. Iwan. Er sah nicht nur blendend aus sondern verstand gönnerhaft sich um sie zu kümmern. Jeden Tag rote Rosen. Ein Konfekt. Ein zärtlicher Kuss bei Kerzenschein und französischem Essen. Sie war bis über beide Ohren verliebt. Deshalb war es auch für sie kein Problem ihrem Iwan jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Es fing alles ganz harmlos an. Erst eine Bettgeschichte zu Dritt. Natürlich nur aus Liebe zu ihrem Iwan der einem armen Freund auch mal etwas Gutes tun wollte. Dann lernte sie immer mehr Freunde von Iwan kennen und musste sie lieben. Und zu Guter letzt sah sie ihren Iwan nur noch nach einer grauenvollen Nacht, wenn er ihr unter Androhung von Schlägen die hart verdienten Rubel abnahm und danach ihr mitten ins Gesicht spuckte. So ging es geschlagene 3 Jahre. Bis, ja bis endlich ein Lichtblick am Horizont zu sehen war. „JA!“ Sagte sie einem ihrer Freier: „Ja! Ich will Schauspielerin werden“. Und was für ein Glück sie hatte. Sie bekam sogar die Hauptrolle in einem alten russischen Theaterstück.
Nun sitzt sie da und weint und wartet in ihrem Ballarina-Kleidchen. Premiere ist heute. Gleich geht der Vorhang auf. Wochenlange, schweißtreibende Übungsstunden lagen hinter ihr. 40.000 Rubel ist die Gage für diesen Auftritt. Noch schnell die Tränen weggewischt. Der Vorhang geht auf. Sie sieht in die Menge der Zuschauer. Nur gut gekleidete Herren. Sie geht nun vollkommen in ihrer Rolle auf. Das liegt wohl daran, dass sie immer so sein wollte, wie diese Prinzessin, die sie spielt. Das Stück neigt sich dem Ende zu. Und wie es sich für ein russisches Drama gehört, muss die schöne Prinzessin durch einen Mord jäh aus dem Leben gerissen werden. Die Schlussszene ging auf den katastrophalen Höhepunkt zu. Sie hat es tausendmal geprobt wie sie den Speer geschickt im Todeskampf halten muss. Wie sie die Todesnähe durch ein leises schluchzen darstellen muss, bis diese verstummen und ihr Gesicht den regungslosen Tod darstellt. Doch diesmal ist alles anders denkt sie sich. Vor ihr steht der Bösewicht mit einem langen Speer aus Metall und stürmt auf sie zu. Es geht nun alles ganz schnell. Das blanke entsetzen spiegelt sich in ihrem schmerzverzehrten Gesicht. Irgendwas steckt in ihrem Bauch. Blut sprudelt in strömen. Sie schmeckt Blut. Wie kann das sein, wir haben noch nie mit Theaterblut gearbeitet. Der Schmerz wird immer größer. Sie sinkt ganz langsam zu Boden. Ihre Laute klingen wie die eines Kindes, das mit Wasser gurgelt. Es ist aber Blut. Kälte durchzieht ihre Glieder. Die Hand sinkt. Sie spürt nichts mehr. Die Zuschauer springen nun auf und jubeln ihr zu: „Tötet die Hure!“. Ein letztes Röcheln. Das war also ihre große Chance.