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Die Hose
Montag 15.3.2004
“Fräulein Müller”, rief ich heute, als ich dem pummeligen, aber dennoch äußerst sympathischen Fräulein Müller begegnete. “Jedesmal, wenn ich Sie treffe, sehen Sie schlanker aus – wie machen Sie das?”
“Ich lasse meine Kleider von Georgie machen”, lachte Fräulein Müller. “Der Mann ist ein Künstler. Sagen Sie bloß, Sie haben noch nichts von ihm gehört?”
Natürlich hatte ich schon von Georgie, dem griechischen Schneider, gehört, er war neu in unserem Viertel, und nun wollte ich ihn kennen lernen. Meine Lieblingshose, die ich wegen ihres schwarzen, seidig glänzenden Stoffes so sehr mochte, hatte einen defekten Reißverschluss und ich machte mich auf den Weg.
Georgie hatte nur einen kleinen Schneidersalon. Ich fand ihn inmitten eines großen Haufens von Kleidungsstücken mit Nadel und Faden hantierend und hielt ihm das Corpus delicti entgegen.
“15 €”, sagte er nach kurzer Begutachtung. “Ich nicht verdiene viel, alleine Reißverschluss kostet 9 € und ich arbeiten halbe Stunde.”
Abwartend sah er mich an. Fast glaubte ich, ihn beschämt zu haben mit dieser geringen Arbeit, er konnte an ihr nicht viel verdienen, aber dann reichte er mir die Hand und als ich sie ergriff, leuchteten seine dunklen Augen. “Sie werden sehen, Hose wie neu. Diesen Freitag fertig.”
Zufrieden verließ ich den Laden. Georgie war ein ehrlicher Handwerker, gute Arbeit war ihm wichtiger als Geld.
Freitag 19.3.2004 - Tag 4
Heute war ich bei Georgie. Strahlend empfing er mich. “Ihre Hose, ich weiß.” Dass er sich noch an mich erinnern konnte.
“Habe vergessen zu fragen, welchen Verschluss wollen Sie – ich muss bestellen und es gibt Metall und Kunststoff. Metall besser.”
Ich nahm Metall. “Nächsten Freitag fertig”, sagte Georgie. “Wird wie neu – besser wie neu mit Metall.”
Zufrieden verließ ich den Laden. Auf dem Weg in die Stadt traf ich Fräulein Müller. “Kompliment”, rief ich ihr zu, “wenn das so weiter geht, lade ich Sie doch glatt mal ins Kino ein.”
Sie schlug die Augen nieder, übrigens warme, äußerst rehbraune Augen, und wurde rot.
“Mal schauen”, hauchte sie.
Freitag 26.3. 2004 – Tag 11
Georgie empfing mich gastfreundlich. Er bot mir Tee an und wir unterhielten uns eine halbe Stunde über Gott und die Welt. Der Arme hat Rückenschmerzen, arbeitet aber trotzdem zehn Stunden am Tag für seine Familie. Wir verabschiedeten uns per Handschlag. Werde in einer Woche noch einmal vorbeischauen wegen der Hose.
Freitag 9.4. 2004 – Tag 25
Die Hose war fertig, aber nicht da. Georgie hat sie mit nach Hause genommen.
“Warum haben Sie die Hose nicht abgeholt”, fragte er und verzog das Gesicht. “Schon lange fertig. Sie lag hier eine Woche, aber dann kein Platz mehr. Aber wenn Sie wollen, hole ich sie in der Mittagspause.” Ächzend erhob er sich und blieb gebeugt stehen.
“Nein, machen Sie sich keine Mühe. Ich komme nächsten Montag vorbei.”
Samstag 10.4.2004 – Tag 26
Heute unterhielt ich mich mit Fräulein Müller. Warum ist mir ihr knackiger Po früher nie aufgefallen? Muss wohl am neuen Schnitt ihres Kleides liegen. Übrigens trägt sogar unser Hausmeister Herr Weidemann nach Feierabend nicht mehr Sweatshirt und Bluejeans, sondern Hose und Hemd Marke Georgie. Mein Treffen mit Fräulein Müller verschob ich unter dem Vorwand eines Arzttermines auf nächste Woche, erst musste ich mich um meine Kleidung kümmern.
Montag 13.4.2004 – Tag 29
Heute war ich Zeuge eines peinlichen Ehestreites zwischen Georgie und seiner Frau. Dieser ging auf mein Konto. Ich hatte gesagt, ich brauche die Hose dringend, und dazu noch ein passendes Jackett; ich hätte diese Woche eine äußerst wichtige Verabredung, zu der ich nur in allerbester Kleidung erscheinen könne.
Georgie rief seine Frau an und fragte, warum sie die Hose nicht vorbeigebracht habe, ja die auf der Kommode, und jetzt stände ich neben ihm in seinem Laden und dächte Gott-weiß-was, dabei habe er in 27 Jahren noch jeden Auftrag erfüllt. Seine Stirnadern schwollen und er bedachte seine Frau mit Ausdrücken, deren Übersetzung ich lieber nicht hören möchte. Ich beruhigte ihn, auf einen Tag käme es mir nicht an, er sei der beste Schneider weit und breit, niemand stelle seine Fähigkeiten in Frage. Endlich gelang es mir, seine Tränen zu stillen.
Abends traf ich meinen Freund Sascha. “Was ist los mit dir”, fragte ich, “du scheinst bedrückt zu sein?”
“Mein Anzug passt nicht mehr, ich habe zugenommen und nächste Woche muss ich zum Klassentreffen.”
“Geh zu Georgie”, sagte ich. “Er schneidet ihn perfekt und du siehst schlank aus wie in der Zehnten.”
Freitag 30.4.2003 – Tag 46
War seit über zwei Wochen nicht mehr bei ihm. Heute stand ich an der Ampel, als in dem Bus, der neben mir hielt, jemand an die Scheibe klopfte – es war Georgie. Obwohl ich diese Kunst nie erlernt hatte, konnte ich an seinen Lippen ablesen, was er mir zurief: “Ihre Hose fertig, warum Sie nicht holen ab?”
Ich gebe zu, ich habe mich nicht getraut. Schon seit geraumer Zeit nagten die Zweifel an mir. Warum bediente Georgie alle zufriedenstellend, nur mich nicht?
Habe Sascha in seinem neuen Anzug gesehen, er sieht aus wie ein Manager.
“Ein Genie, der Mann”, sagte er. “Fräulein Müller war so beeindruckt, sie hat sich glatt zum Abendessen einladen lassen. Lässt du dir auch einen machen?”
“Ist morgen fertig”, sagte ich und sah zu Boden.
Georgie, was habe ich dir getan?
Sonntag 2.5.2004 – Tag 49
Ich nehme alles zurück! Gegen 23 Uhr rief mich Georgie an, er habe keine Ruhe, da er mir unbedingt meine Hose zurückgeben wolle. Zwar habe er noch bis morgen früh zu arbeiten, aber seine Mutter könne sie bringen, würde für die 5 Kilometer Fußweg jedoch mindestens eine Stunde benötigen. Ich lehnte ab wegen des draußen wütenden Hagelsturms.
Nach einer schlaflosen Nacht, in der ich von Schuldgefühlen gepeinigt wurde, erstand ich zwei sündhaft teuere Hosen in Übergröße und legte sie im Morgengrauen bei Georgie vor die Tür. “Engermachen!”, rief ich, dann rannte ich davon.
Mittwoch 5.5.2004 – Tag 52
Heute begegnete ich Fräulein Müller. “Sie sehen fantastisch aus”, rief ich, “Georgie?”
“Ja, er ist ein Gen...” Mitten im Satz verdrehte sie die Augen und fiel um. Ich fing sie auf und war erstaunt, wie leicht ich sie halten konnte. “Fräulein Müller, Sie sind ja nur noch Haut und Knochen.”
“Ich kann schon seit Wochen nichts mehr essen, der Stress ...”
“Stress mit wem?”
Sie kniff die Lippen zusammen. Ich trug sie nach oben und sah mich um auf der Suche nach einer Decke. Der Kleiderschrank war völlig leer.
Abends war ich bei Sascha zu Besuch. Als er auf Toilette ging, stöberte ich in seinen Unterlagen. Sein Konto war im Minus. Ich fand eine Quittung über einen Anzug von Armani, der ein halbes Monatsgehalt gekostet hatte.
Donnerstag 6.5.2004
Nach Einbruch der Dämmerung ging ich zu Georgie. Heute würde er antworten. Ich bin ein geduldiger Mensch, aber keine Maschine.
“Ihre Hose”, strahlte Georgie, als ich zur Tür hereintrat, er hielt sie in den Armen wie einen Säugling. Mein Knüppel fiel auf den Boden. Langsam nahm ich sie in Empfang, eine Damenhose zwar und höchstens Konfektionsgröße 36, aber unverkennbar eine Hose mit dem genialischen Schnitt von Großmeister Georgiropulus. Ich strich über den wunderbaren rosafarbenen Stoff und zwängte mich hinein. Als ich aufsah, weinte Georgie, auch ich weinte, muss ein Mann sich dafür schämen? Wir schlossen uns in die Arme, dann ging ich hinaus. Sie saß fantastisch, die Hose, nur als ich nach 100 Metern zum erstenmal einatmete, platzte der Reißverschluss. Kein Wunder, wie ich nach kurzer Begutachtung feststellte, er war schon alt und außerdem aus Kunststoff.
Gleich Morgen bringe ich sie zu Georgie.