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Die Insulinpumpe
Das Kreuzfahrtschiff Catalina war ein schwimmendes Paradies auf Zeit.
Als der Bordarzt Dr.Ole Magsen die Gangway erklomm, ahnte er nicht, welche Überraschung diese Reise für ihn bereithalten würde.
Eine Woche lang verlief alles wie auf jeder Kreuzfahrt. Es gab, trotz hervorragender Schiffsstabilisatoren, mehrere Fälle von Seekrankheit, leichte Verstauchungen, einen Herzinfarkt, der sich als falscher Alarm herausstellte, verstimmte Mägen, die sich weigerten, die Essensberge zu verdauen und einen Hypochonder, mit einer täglich neuen Krankheit.
Für den Internisten Magsen alles nur Routine.
Am Abend des 6. Reisetages jedoch wurde er um 20.30 Uhr in die Herrentoilette auf Deck 5 gerufen. Das Schiff hatte bereits vor zwei Stunden die Lofoten mit Kurs auf Schottland verlassen. Auf dem Boden vor dem Waschbecken lag eine massige Männergestalt verkrümmt und reglos, und wie Dr. Magsen schnell feststellte, tot.
„Schafft ihn diskret in die Krankenstation“, sagte er zum hinzugeeilten Personal.
„Wir haben einen Toten“, teilte er dem Kapitän mit.
„Ich weiß zurzeit weder, woran er gestorben ist, noch wer er ist. Ich muss ihn noch untersuchen. Dachte nur, ich informiere Sie zuerst.“
„Sieht es denn nach einem Verbrechen aus?“, fragte der Kapitän.
Der Schiffsarzt schüttelte den Kopf. „So auf den ersten Blick nicht.“
„Dann ermitteln Sie bitte in den nächsten zwei Seetagen, was den Tod verursacht hat.
Es wäre gut, wenn wir bei unserer Ankunft in Edinburgh der Polizei einen abschließenden Bericht übergeben könnten.“
In der Krankenstation, wo der Tote bereits auf dem OP-Tisch lag, entkleidete Dr. Magsen ihn und suchte den Körper sorgfältig nach Verletzungen ab, fand aber keine. Am Unterbauch des Toten war seitlich eine Insulinpumpe befestigt, deren Kolben für den Insulinvorrat aber leer war. Er war also Diabetiker gewesen, überlegte der Arzt. Solche Pumpen waren meist beim Typ I im Einsatz.
„Wir haben herausgefunden, wer der Tote ist“, sagte der Chefsteward.
„Es ist Herr Helmut Ränkel, Kabine 1044, alleinreisend.“
„Danke, das ging ja schnell“, sagte Dr. Magsen.
„Bitte, begleiten Sie mich zur Kabine, ich will mich dort umsehen. Den Schlüssel habe ich schon, er war in seiner Hosentasche.“
„Sieht alles so unberührt aus“, sagte der Chefsteward irritiert, als sie die Tür aufgeschlossen hatten. Ihr Blick fiel auf ein glattes gemachtes Bett und eine aufgeräumte Kabine.
„Vermutlich war er auf dem Tagesausflug in Leknes und ist nach seiner Rückkehr sofort ins Restaurant gegangen.“
Der Schiffsarzt schaute sich in der Kabine um. Nichts Besonderes, aber im ansonsten leeren Papierkorb fand er eine geleerte Ampulle. Laut Aufschrift: 300 Einheiten Insulin.
„Prüfen Sie bitte, ob Herr Ränkel auf dem Ausflug war und schicken Sie mir gleich die Stewardess, die die Kabine heute gereinigt hat.“
Sachte klopfte es an der Kabinentür und eine Filipina verharrte auf der Schwelle.
„Treten Sie ein! Wann haben Sie heute hier gesäubert?“
„Kabine nicht gut?“ Dr. Magsen schaute in aufgerissene Schokoladenaugen.
„Nein, es ist alles bestens. Sagen Sie mir bitte nur, wann haben Sie die Kabine gereinigt. Die Uhrzeit.“ Er hatte mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr getippt.
Sie sah ihn verwirrt an. Aber dann begriff sie, trat an ihn heran und zeigte auf ihrer Uhr auf die Ziffer eins.
„Und diesen Papierkorb?“, er hob den Behälter hoch, „haben Sie den heute auch geleert?“
„Yes, yes, yes, everrryday“, sagte sie begleitet von sehr heftigem Kopfnicken.
„Der Ränkel war tatsächlich auf dem Tagesausflug in Leknes“, berichtete der Chefsteward.
„Wie zuverlässig sind Ihre Housekeeper?“, fragte Dr. Magsen. „Werden die Papierkörbe täglich ausgeleert? Egal, wie viel Müll drin ist?“
„Ja, das garantiere ich“, erwiderte der Chefsteward. „Meine Leute wissen, dass wir jeden Tag Stichproben machen. Wenn da was nicht in Ordnung ist, sind die am Ende dieser Kreuzfahrt wieder an Land. Alle haben große Angst, ihren Job zu verlieren. Deshalb sind die überkorrekt.“
„Ich möchte noch vorsorglich mit Ränkels Restauranttischnachbarn reden.
Vielleicht ist denen etwas aufgefallen, was mir weiterhilft.“
„Hab ich mir schon gedacht“, sagte der Chefsteward stolz, „hier sind die Namen und Kabinennummern.“
Zunächst sprach der Bordarzt mit Olga Petrovska, einer vollbusigen, schlanken Blondine mit üppigen roten Lippen.
„Ich war heute den ganzen Tag mit Helmut in Leknes. Himmel, war das anstrengend. Auf dem Rückweg haben wir den Shuttlebus verpasst, weil Helmut betrunken war und trödelte. Wir mussten deshalb vier Kilometer zu Fuß laufen.“
„Und an Bord? Ging er nochmals in seine Kabine vor dem Abendessen?“
„Ja, aber nur sehr kurz. Er benötigte eine neue Insulinampulle für seine Pumpe.“
„Sie wussten also von dieser Insulinpumpe?“
„Ja, damit hat er jeden genervt. Angeblich ein hochmodernes Gerät, alles automatisch per Funk gesteuert. Laufend hat er sein Hemd hochgezogen und damit angegeben.“
„Wie verlief der Abend weiter?“
„Er aß wie immer so furchtbar ungesund. Ich hab gesagt: ‚Helmut, doch nicht immer nur Hummer und Scampi essen. Iss doch wenigstens ein Stück Brot oder etwas Gemüse.‘ Aber er hat mich nur ausgelacht. 'Du bist eine dumme Gans, hat er gesagt, friss du nur dein Obst und Grünzeug.‘“
„War irgendetwas ungewöhnlich?“
„Nein.“ Sie zögerte. „Naja doch, es gab einen kleinen Streit. Der junge Mann, der Markus, war heute sehr einsilbig und fummelte ständig an seinem Handy. Helmut mochte das nicht und sagte: ‚Du gehörst ja wohl auch zu denjenigen, die von diesem Scheiß abhängig sind.‘ Aber Markus sagte nur: ‘Lassen Sie mich zufrieden‘ und hat weiter in das Handy getippt. Ach, noch was: Helmut hat fast eine ganze Flasche Wein zum Essen getrunken. Irgendwann ist er aufgestanden und zur Toilette gewankt. Als er nicht zurückkam, dachte ich, er ist gleich nach nebenan ins Casino gegangen. Aber da war er nicht. Ich hab an seine Kabinentür geklopft und ihn angerufen, aber er meldete sich nicht.“
Als Nächster kam Markus Kettler dran. Ein schlaksiger Dreißigjähriger, der, so dachte Magsen, auf diesem Schiff seltsam deplatziert wirkte.
„Ist Ihnen etwas aufgefallen?“
„Ränkel war sturzbetrunken, aber das war er oft. Olga machte ihm sogar Vorhaltungen, er solle sich gesünder ernähren. Da wurde er ausfallend und hat gelallt: ‚Und dich Schlampe, dich zeige ich beim Kapitän an.‘
Mir erklärte er: ‘Ich hab sie nämlich enttarnt, sie gehört einem Nuttenring an, der Männer ausnimmt. Morgen ist Schluss damit, da fliegt sie auf.‘“
„Wie hat Olga auf diese Anschuldigung reagiert?“
„Es war ihr unangenehm, sie hat es überspielt, hat ihn ausgelacht und gesagt: ‚Du hast heute zuviel getrunken.“
„War nicht noch etwas mit Ihrem Handy?“
„Mit meinem Handy? Nein.“
„Ich habe gehört, Frau Petrovska, dass der Abend ein wenig anders verlaufen ist, als Sie es mir geschildert haben“, führte der Bordarzt seine Befragung fort.
„Was hat dieser Markus Ihnen erzählt?“, entrüstete sich Olga. „Der soll sich vorsehen, der hat mehr Gründe, Helmut zu hassen, als Sie sich das vorstellen können.“
„Was meinen Sie damit?“
‚‚Aha‘, dachte der Schiffsarzt, Olga greift an, also ist wohl an dem Vorwurf etwas dran.‘
„Was ich genau meine?“ Olga schnaubte.
„Vor zehn Jahren hat Markus seinen Bruder verloren. Es war ein Autounfall. Das war in Hamburg und der Bruder hieß Aron. Helmut hat mir, als er wieder mal zu viel getrunken hatte, anvertraut, er habe vor zehn Jahren im Suff in Hamburg einen Jungen totgefahren. Für ihn sei es gut ausgegangen, weil er sich auf einen Diabetisschock rausreden konnte. Und raten Sie mal wie der Junge hieß? Aron.“
Dr. Magsen begab sich auf die Brücke, um dem Kapitän zu berichten.
„Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, woran Helmut Ränkel gestorben ist. Genaueres muss ein Labor an Land ermitteln. Habe vorsorglich Blut abgenommen. Tatsache ist, er war Diabetiker Typ I und verfügte über eine dieser funkgesteuerten Insulinpumpen. Er muss kurz, bevor er starb eine frische Ampulle in das Gerät gesteckt haben. Aber als wir ihn fanden, war die leer. Er könnte also an einer Überdosis Insulin gestorben sein.“
„Würde denn die Menge in der Ampulle ausreichen?“, fragte der Kapitän.
„Absolut, und wie ich ermitteln konnte, kam noch erschwerend hinzu, dass Ränkel sich kurz zuvor körperlich angestrengt hatte, zudem war er hochgradig alkoholisiert und aß zu allem Unglück die falschen Speisen. Aber mysteriös ist es schon, denn so eine Pumpe gibt nicht einfach eine Überdosis Insulin ab.“
„Bedienungsfehler?, fragte der Kapitän.
„Das schließe ich aus, die Dinger sind sehr sicher. Da alles per Computer und Funkverbindung läuft, kann der Patient kaum etwas falsch machen. Wenn Insulin in den Körper abgegeben wird, vibriert die Pumpe, so dass der Betroffene es mitbekommt.“
„Aber wenn er einer der Trafostationen auf dem Schiff zu nahe gekommen ist“, sagte der Kapitän, „könnte der Funkverkehr gestört worden sein. Wenn sowas Herzschrittmacher killen kann, warum nicht auch eine Insulinpumpe?“
Der Bordarzt blickte ihn verblüfft an.
„Das prüfe ich umgehend. Wenn Herr Ränkel an einer der Schiffsbesichtigungen teilgenommen hat, dann hätte er sogar mitten in einer Trafostation gestanden.“
Er verließ die Brücke. Eigentlich hatte er dem Kapitän noch weiter über seine Ermittlungen berichten wollen. Aber auch, wenn Olga tatsächlich einem Prostituiertenring angehörte und auch, wenn Ränkel wirklich Markus Bruder getötet hatte, was änderte das? Seiner Meinung nach hätten weder Olga noch Markus eine Insulinpumpe manipulieren können.
Statt dessen erfuhr er vom Chefsteward, dass Ränkel, einen Tag vor dem Tagesausflug nach Leknes, an einer Schiffsbesichtigung teilgenommen hatte.
Als das Schiff im Edinburgher Hafen anlegte, stand Markus an der Reling und sah zu, wie man den Leichnam unverfänglich verpackt von Bord schaffte. Am Kai wartete schon eine dunkle Limousine.
Markus nahm sein Handy aus der Hemdtasche, lächelte und dann löschte er das Programm, das ihm Zugang zu Ränkels Insulinpumpe verschafft hatte.