Die Jauchegrube
Die Jauchegrube
Gewiss, ein Musterknabe war ich wohl nicht, denn meine Mutter hatte an manchen Tagen ihre liebe Not mit mir. „Sturrkopf, von wem hast du dass bloß?“, schimpfte sie dann.
Wenn ich es gar zu arg trieb mit meinem Widersinn und sie mehr und mehr in Rage kam, holte sie manchmal den alten, aus Weidenzweigen geflochtenen Teppichklopfer zu Hilfe. Der hing, wie es sich gehört, ordentlich an seinem Platz, an einem Haken im Besenschrank und war deshalb schnell zur Hand. Spätestens zu diesem Zeitpunkt tat ich gut daran, die Flucht zu ergreifen.
In jenen Tagen wohnten wir in einem kleinen Ort in Norddeutschland, in der Nähe von Wilhelmshaven am Meer. Der Ort hieß Grafschaft und Anfang der 60er Jahre gab es dort nur einen Tante Emma Laden. Wir wohnten zur Miete in einem freistehenden Zweifamilienhaus. Direkt gegenüber stand das Haus unseres Vermieters, Herr Lübben.
Früher war der alte Lübben mit Leib und Seele Bauer und besaß immer noch ein Pferd. Lotti hieß es, und mit ihrer Hilfe bestellte er das kleine Feld vor seinem Haus. Lotti war ein Kaltblüter. Eine geduldsame und liebe Pferdedame mit langer hellbrauner Mähne und dunklem Fell. Jedes Jahr im Herbst und Frühling holte Herr Lübben den Metallpflug aus dem Geräteschuppen heraus, legte Lotti das Zuggeschirr um und spannte sie vor den Pflug.
Ich sehe dieses Bild noch heute deutlich vor mir. Der alte, knorrige Mann mit seinen dünnen Beinen, die in einer schlabbrigen, abgetragenen Hose steckten. Das kantige Gesicht war von der Sonne gegerbt und auf dem Kopf trug er eine dunkelblaue Friesenmütze. Wie er auf dem dunklen Ackerboden hinter dem Pflug herlief, eine selbstgedrehte Zigarette zwischen den Zähnen fest hielt und Lotti „hohhoh“ und „brrrbrrr“ zurief.
Wenn Lotti nicht arbeiten musste, ging ich gerne zum Zaun hinüber und brachte ihr Möhren und Gras mit. Wenn sie mich kommen sah, wieherte sie laut auf, trabte auf mich zu und rieb freudig ihre Nüstern an meine Schultern.
Über uns wohnte Familie Jürgens. Vater, Mutter und ihre Tochter Kathrin. Kathrin war drei Jahre jünger als ich und etwas pummelig. Sie liebte es mich zu piesacken, weshalb ich sie nicht ausstehen konnte. Wenn keine Erwachsenen zusahen, zerbrach sie gerne meine Malstifte, versteckte die Spielzeugautos, sodass ich sie nicht wiederfand oder drehte meinen Lieblingsstofftieren die Knopfaugen heraus um sie dann aus dem Fenster zu werfen. Dabei grinste sie mich in aller Seelenruhe teuflisch an.
Gegen Kathrins Übeltaten war kein Kraut gewachsen. Wenn ich mich beschwerte, sagte ihre Mutter empört: „ So etwas tut unsere Kathrin nicht“, womit die Sache dann erledigt war.
Beweisen konnte ich sowieso nie etwas. Einmal sagte Mama:“ Die Göre von oben, ist das erste antiautoritär erzogene Kind in Grafschaft“. Was sie nicht als Kompliment meinte.
Ich erinnere mich nicht mehr daran wie Herr Jürgens aussah, was vielleicht daran liegt, dass ich ihn meist zuerst hörte, bevor ich ihn sah. Kathrins Vater war nämlich Berufsmusiker, genauer gesagt: er war Pauker beim Stadttheater Wilhelmshaven. Später schulte er zum Stehgeiger um und brachte sich das Spielen auf dem neuen Instrument selbst bei. Dafür übte er in jeder freien Minute. Stundenlang hörten wir sein eintöniges Geigenspiel. Manchmal wiederholte er nur ein bis zwei Töne. Immer aufs Neue. Vormittags, nachmittags und an den Wochenenden. Abends war endlich Ruhe, denn dann spielte er im Theater.
Freundlicherweise baute er eines Tages im Keller ein schalldämpfendes Gehäuse aus Holz und Schaumstoff in der Größe einer Telefonzelle. Dieser Kasten hatte sogar eine verschließbare Tür. Darin verbrachte er nunmehr seine Zeit mit musizieren, sodass wir Ruhe hatten.
Ein paar Meter neben unserem Haus lief ein Wassergraben entlang und dahinter lag ein großes Kartoffelfeld. Im Spätsommer halfen wir Kinder dem Bauern gerne bei der Ernte und bekamen dafür ein paar Groschen. Das Feld war groß genug, um im Herbst Drachen darauf steigen zu lassen.
Etwas versteckt am Rande des Feldes gab es ein ca. 60 cm Meter tiefes Loch im Boden. Darin sammelte sich Regenwasser und Dung von den umliegenden Äckern. Es roch bestialisch und verschlug jedem den Atem der sich in der Nähe aufhielt.
Bei uns Jungen aus dem Dorf war es als „Die Jauchegrube“ bekannt und berüchtigt. Irgendwie zog es uns magisch an und forderte zu der ein und anderen Mutprobe auf. Zum Beispiel aus dem Stand, oder mit geschlossenen Augen darüber springen. Zwar hatte der Bauer lose Bretter auf die Öffnung gelegt, doch fiel manch einer von uns dabei hinein. Wer dann nass und stinkend nach Hause kam, konnte sich eines Donnerwetters sicher sein.
An diesem Tag wurde es jedenfalls ernst. Mama kam mehr und mehr in Rage.
„Gleich wird sie zur Besenkammer gehen und den Teppichklopfer vom Haken nehmen.“, dachte ich.
Und so war es auch. Ich musste flüchten, aber wohin? Der Gang zur Haustüre führte an der Besenkammer vorbei und war somit versperrt. Es musste einen anderen Weg geben. Aufgeregt überlegte ich, als auch schon die Tür der Besenkammer mit dem mir wohlbekannten Geräusch aufschnappte.
Jetzt wurde es wirklich Zeit abzuhauen. Hinter mir hörte ich Mutter hantieren.
„Ah, rief sie, da ist er“, womit sie den Teppichklopfer meinte.
Anscheinend hatte ich sie diesmal wirklich bis zur Weißglut gereizt. Eine Tracht Prügel wollte ich nicht einstecken. Ich lief vom Flur in die Küche, und sah das offene Fenster. Entschlossen ergriff ich die Chance, sprang hinaus und landete auf der Terrasse.
„Gerettet“, dachte ich, doch Mama war an diesem Tag nicht mehr zu bremsen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie durch die Haustüre flitzte und auf die Terrasse zu steuerte.
Bloß weg. Ich sah das Kartoffelfeld und lief los. Ein Sprung über den Graben und ich stand auf dem Acker.
„Bis hierher wird sie mir nicht folgen. Das traut sie sich nicht“.
Zu früh gefreut. Mama setzte zum Sprung an und landete ebenfalls auf dem Acker. Damals war sie eine junge Frau von 30 Jahren, und nicht unsportlich.
Ich gab erneut Gas, lief los und stoppte direkt neben der Jauchegrube. Ganz nah stellte ich mich an den Rand.
Mutti blieb abrupt stehen.
„Stopp, rief ich. Wenn du näher kommst, springe ich in das Gülleloch“.
„Nein“, dass wirst du bestimmt nicht tun“.
„Doch“, ich werde springen“.
„Wirst du nicht!
„Werde ich doch!“ Vorsichtig stellte mich noch ein bisschen näher an den Rand.
„Und wenn du darin ertrinkst?“, Mama wirkte unsicher.
„Ist mir egal, dann ertrinke ich eben“.
„Gleich gibt sie bestimmt auf“, schon fühlte ich mich als Sieger. Doch plötzlich kam sie wieder etwas näher auf mich zu.
„Bleib stehen“.
Jetzt wollte sie es offenbar wissen und kam noch ein Stückchen mehr auf mich zu.
Eins, zwei, drei.
Ich sprang tatsächlich mitten in die Mistplörre hinein. Geistesgegenwärtig hielt ich mir noch mit der Hand Mund und Nase zu, um keine Spritzer zu verschlucken. Es war abscheulich, schrecklich und stank erbärmlich. Mir stockte der Atem. Sofort wollte ich wieder raus aus der Brühe.
Mutter schrie auf, warf den Teppichklopfer zur Seite und eilte mir zur Hilfe. Schnell packte sie meine hochgehaltenen Hände und zog mich aus dem Loch heraus.
Stinkend und triefend wie ich war, ging es zurück nach Hause. Auf der Treppe vor dem Haus standen Herr und Frau Jürgens mit Kathrin an der Hand. Sie guckten ungläubig und rümpften die Nase.
„Puh, ihr Junge stinkt “, sagte der Geiger und seine Frau nickte dazu. Kathrin sah mich wie immer frech an und grinste.
Wie gerne hätte ich sie auch einmal in der Stinkebrühe untergetunkt.
Ich roch wirklich widerwärtig. Überall juckte es auf der Haut. Schnell ging ich ins Badezimmer und duschte. Durch das Fenster sah ich Lotti nebenan auf der Wiese stehen. Sie kaute auf einem Grasbüschel. Nach all der Aufregung freute ich mich sie zu sehen. Nachdem ich mich umgezogen hatte, ging ich mit ein paar Möhren in der Hand zum Zaun und rief das Pferd. Lotti hob den Kopf, schüttelte die Mähne und trabte auf mich zu. Wie immer stubste sie mich an der Schulter und schnappte nach dem Futter. Zapp, waren die Möhren weg.
Natürlich gab es eine Strafe für meine Missetat. Ich bekam Hausarrest.
Offenbar hatte Mutti mit dem Bauern gesprochen, denn ein paar Tage später lag eine dicke Betonplatte auf der Grube.
„Na ja, das ist gewiss auch sicherer. Eine offenes Loch ist gefährlich . Besonders für kleine Kinder wie Kathrin“, dachte ich und grinste dabei ebenso teuflisch wie die freche Göre von oben.