Die kämpferische junge Biene
Die kämpferische junge Biene
Eine Biene kam eines Tages in ihrer engen Wachszelle zur Welt. Schon bald musste sie anfangen zu arbeiten. Sie baute Waben und kümmerte sich um ihre noch ungeborenen Schwestern. Aber vieles von dem, was im Bienenstock vor sich ging, verstand sie noch nicht.
„Warum bekommen einige Larven besseres Futter als andere?“, fragte sie zum Beispiel.
„Das sind die zukünftigen Königinnen“, erklärten die anderen Arbeiterinnen. „Jede von ihnen wird eines Tages ihr eigenes Volk haben, so wie unsere Königin.“
Die Königin? War das etwa diese große Biene mit dem auffälligen Hinterleib, die den lieben langen Tag nichts tat und sich von allen Seiten bedienen ließ?
„Wofür brauchen wir eine Königin?“ wollte die junge Biene wissen.
„Jedes Volk braucht eine Königin.“
„Aber wozu? Sie baut keine Waben, sie sammelt keinen Nektar, sie bringt keine Pollen in den Stock. Stattdessen wird sie den lieben langen Tag gefüttert!
„Sie muss kräftig sein.“
„Wieso?“
„Sie muss täglich Hunderte von Eiern legen.“
„Warum brauchen wir diese Eier?“
„Damit wir nicht aussterben.“
Aber die junge Biene konnte die Königin trotzdem nicht leiden.
Und dann waren da noch diese kleinen, plumpen Bienen, die noch nicht einmal einen Stachel besaßen und auch nicht arbeiteten.
„Was nützen die uns eigentlich?“, fragte die junge Biene verächtlich.
„Das sind nur Drohnen. Ein paar von ihnen haben die Königin auf ihrem Hochzeitsflug begleitet. Aber nun brauchen wir sie nicht mehr.
„Und warum sind sie dann noch hier?“
„hab noch ein wenig Geduld. Wir werden sie nicht mehr lange in unserem Bienenstock dulden.“
Tatsächlich stürzten sich bald darauf Tausende von Arbeiterinnen auf diese nutzlosen Esser und trieben sie in einer grausamen Drohnenschlacht hinaus in den sicheren Tod.
Die junge Biene war zufrieden. Inzwischen war sie schon drei Wochen alt und sollte nun auch das Leben außerhalb des Bienenstocks kennen lernen. Sie liebte es zu fliegen, zu suchen, zu sammeln und zu tanzen. Fast tat ihr die Königin Leid, weil sie den ganzen Tag nur faul herumliegen musste. Mit Freude sah sie auch, wie sich die Waben im Bienenstock reich mit Honig füllten.
Eines Tages kam jedoch ein Mann, dessen Gesicht ganz mit einem Schleier verhüllt war, und nahm ihnen ihre süße Speise einfach fort.
„Warum tut er das?“, schrie sie außer sich vor Zorn.
„Weil Menschen auch gern Honig essen.“
„Wieso darf er das?“
„Weil er der Imker ist.“
„Weshalb lassen wir uns das gefallen?“
„Weil er für uns sorgt. Wenn es kalt wird, findet er immer ein warmes Plätzchen für uns. Und in Notzeiten gibt er uns zu essen. Solange er da ist, geht es uns gut.“
„Lasst uns lieber fortfliegen!“, schlug die junge Biene vor. „Wir kommen auch allein zurecht.“
„Aber wir brauchen ihn doch“, warf eine ältere Biene ängstlich ein. „Wo könnten wir leben?“, fragte eine andere voller Zweifel.
„In einem Baumstumpf oder in einer Felsnische wie unsere wilden Schwestern!“ Die junge Biene war begeistert. „Niemand würde uns dort unseren Honig stehlen.“
Aber die anderen Bienen fürchteten sich zu sehr davor, ins Ungewisse zu fliegen.
„Ihr seid dumm“, sagte die junge Biene. „Ich würde lieber hungern und frieren, ich wäre sogar bereit zu sterben, wenn ich dafür frei sein könnte!“
„Du weißt nicht, wie sich Kälte oder Hunger anfühlen, und du kennst den Tod noch nicht“, sagten die älteren Bienen.
„Dann lasst uns doch gegen den Imker kämpfen! Wir könnten ihn vertreiben, so wie wir auch die Drohnen vertrieben haben.“
„Wir wissen nicht genug über ihn!“, warnten die anderen Bienen. „Bisher haben wir noch nicht einmal sein Gesicht gesehen. Vielleicht ist er gefährlich.“
„Aber wir haben Waffen, und er nicht!“
„Auch das wissen wir nicht genau. Bisher hat noch niemand versucht, gegen ihn zu kämpfen.“
„Zusammen würden wir es schaffen!“, rief die junge Biene zuversichtlich. „Gemeinsam sind wir stark. Habt ihr schon vergessen, wie wir neulich die Hornisse getötet haben, die in unseren Stock eingedrungen war?“
So redete die junge Biene Tag für Tag, und schließlich gelang es ihr, viele der Arbeiterinnen auf ihre Seite zu ziehen. Jeden Abend versammelten sie sich, um Pläne zu schmieden. Sogar die Königin hörte aufmerksam zu. Immer lauter, immer böser summte es im Bienenstock, immer verzehrender wurde der Hass auf den gemeinsamen Feind.
Aber auch im Bienenstock nahm der Unfriede zu, denn es gab viele Arbeiterinnen, die dem Imker die Treue halten wollten. Schnell wurde das Zusammenleben beider Gruppen unerträglich.
Und dann, an einem sonnigen Morgen, war es so weit. Ein großer Schwarm rebellischer Arbeiterinnen verließ den Bienenstock, um ihren Feind zu vernichten. In ihrer Mitte befand sich auch die alte Königin. In einer unruhig summenden Traube hingen die Bienen an einem Baum und lauerten auf den Imker.
Es dauerte auch gar nicht lange, bis er erschien. Wie immer war er von Kopf bis Fuß verhüllt und trug ein Holzgestell vor sich her. Dieses hängte er an einem Baum auf.
„Er hat eine schöne, neue Wohnung für uns!“, rief die Bienenkönigin erfreut. „Folgt mir nach!“ Damit flog sie eilig auf das Holzgestell zu.
Erst zögernd und dann immer schneller löste sich eine Biene nach der anderen aus der Traube. Dicht gedrängt flogen sie auf ihre neue Behausung zu. Schon bald machten sich alle emsig darin zu schaffen. Niemand beachtete noch Imker, der sich mit behutsamen Schritten zurückzog.
Nur die junge Biene ließ ihn nicht aus den Augen. Unbemerkt folgte sie ihm in sein Haus. Als er den Hut mit dem Schleier abnahm, stürzte sie sich böse summend auf sein Gesicht. Als er mit der Hand nach ihr schlug, stach sie zu. Doch sie konnte ihren Stachel nicht mehr aus seiner Haut herausziehen. Der Schmerz in ihrem Hinterleib zerriss sie. Tot fiel sie zu Boden.
Der Imker dachte noch einige Zeit an die junge Biene, auch dann noch, als er den Schmerz ihres Stiches nicht mehr spürte.