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Die Kaffeefahrt
Peter Ruland war Busfahrer; und das schon seit fünfundzwanzig Jahren. Mittlerweile war er fünfundfünfzig, und sein Lebensinhalt bestand darin, ältere Damen auf ihrem Weg zu einer alles umfassenden Kaffeefahrt zu begleiten und sie sicher ihrem Ziel, der lebenserhaltenden Heizdecken oder teflonbeschichteten Kochutensilien, zuzuführen.
Ja, ja, genauso umschrieb er seinen Job. Er war ein Zielbringer für die ältere Generation unserer Gesellschaft; er war dazu da, den alten Schachteln das zu geben, was ihre stinkreiche Verwandtschaft versäumte. Ob sie wirklich alle stinkreich waren, wusste Peter natürlich nicht; wahrscheinlich waren sie es auch nicht, denn wer würde sich sonst zu diesen betörenden Kaffeefahrten hinreißen lassen? Andererseits schien es für die meisten seiner Fahrgäste der einzige Inhalt ihres restlichen, erbärmlichen Lebens zu sein.
Genauso, wie es für Peter der einzige Inhalt seines restlichen, erbärmlichen Lebens war, sich um diese Ladies zu kümmern.
„Warum suchst du dir nicht einen anderen Job, Peter?“, hatte ihn ein Kollege einmal gefragt.
Peter hatte nur mitleidig gegrinst, und sein Kollege hatte wohl gemerkt, wie sinnlos seine Frage war. Aber selbst wenn es in der heutigen Zeit so einfach gewesen wäre, sich mit fünfundfünfzig noch einen neuen Job zu suchen, Peter hätte es nicht getan. Was hätte es auch gebracht? Sein Leben war verpfuscht; fünfundfünfzig Jahre hatte er nichts vollbracht, rein gar nichts. Und das würde sich auch nicht durch einen neuen Job ändern. Peter war als Verlierer geboren, so wie es andere gab, die ständig auf der Gewinnerseite standen, egal was sie anstellten.
„Alles einsteigen, meine Damen!“ Peter stand neben der Vordertür und machte eine einladende Geste. Seine Mundwinkel berührten fast die Ansätze seiner viel zu groß geratenen Ohrläppchen.
Oh ja, da standen sie alle; eingehüllt in dicke Wolken Kölnischwasser, das schnieke Handtäschchen vom letzten Weihnachtsfest unter die faltigen Arme geklemmt. Eine Geräuschkulisse ähnlich einer schnatternden Entenschar umhüllte Peter und sein Grinsen gefror für einen winzigen Augenblick. Allerdings nicht lange genug, als dass es irgendjemand hätte bemerken können.
„Frau Hufnagel!“ Wieder diese Geste eines unterwürfigen Lakaien. „Ich freue mich, dass Sie mit Ihrem hübschen Antlitz wieder unsere Gesellschaft verzücken.“
Frau Hufnagel strahlte. „Ach, Sie kleiner Charmeur.“
Peter sah die fleckigen Zähne ihres überdimensionalen und ständig falsch sitzenden Gebisses.
„Es ist mir doch eine Ehre, Verehrteste.“ Hoffentlich kam sie ihm nicht zu nahe; Peter konnte sich nur allzu gut ihren widerwärtigen Mundgeruch vorstellen. Doch Frau Hufnagel schenkte ihm nur noch ein weiteres Lächeln und hievte ihren fetten Hintern die Stufen ins Innere empor.
Weitere Ladies folgten und alle wurden von Peter mit einem wahren Überschwall an Komplimenten geleitet.
Oh, wie schaffte er es nur immer wieder, sich dermaßen zu verstellen? Peter war doch ein wenig stolz auf sich.
Nachdem auch die letzte Lederhaut den Bus betreten hatte, schnaufte Peter noch einmal kräftig durch, dann begab er sich ebenfalls der Wolke Kölnischwassers hin; genauso wie in den letzten fünfundzwanzig Jahren auch.
Hinter dem großen Lenkrad sitzend griff er nach dem Mikrofon. Jetzt kam sein Auftritt. Noch einmal blickte Peter durch die Reihen der falschen Zähne und langen, ins Geschmacklose abdriftenden Kleider. Ob sie ihn auf diese Entfernung überhaupt sehen konnten? Manchmal hatte Peter schon mit dem Gedanken gespielt, ihnen einfach einmal die Zunge herauszustrecken. Wahrscheinlich würden sie dann immer noch erwartungsvoll und grinsend auf ihn einstarren. Peter hatte nämlich einmal gelesen, dass die Sehkraft ab sechzig proportional zu jedem weiteren Lebenstag abnahm. Mit Sicherheit war das eine Fügung Gottes, denn die meisten der alten Schachteln würden ja einen Herzinfarkt bekommen, wenn sie sich morgens noch völlig klar im Spiegel sehen müssten.
Peter hustete ins Mikrofon. „Ladies und Gentlemen!“ So fing er immer an, obwohl in neunzig Prozent seiner Fahrten niemals ein männliches Wesen zugegen war; seiner Wenigkeit ausgenommen natürlich. Das entenhafte Geschnatter verstummte.
„Ich freue mich, Sie wieder einmal bei uns begrüßen zu dürfen. Für Ihr leibliches Wohl ist natürlich auch dieses Mal wieder bestens gesorgt.“ Innerlich musste Peter wieder grinsen; die Befriedigung des leiblichen Wohls seiner Gäste bestand aus zwei Kisten Mineralwasser, die Peter für 1,25 pro Kiste einkaufte und für 2 Euro pro Flasche weiterverkaufte. Aber diese dummen Gänse freuten sich jedes Mal; und am Ende des Tages waren die Kisten leer.
„So, bevor wir jetzt gleich für Stimmung sorgen, bitte ich Sie, meine verehrten Damen, Ihren Sicherheitsgurt anzulegen.“ Peter wartete das Klicken der Gurtschnallen ab, dann fügte er hinzu: „Die Schwimmwesten befinden sich unter den Sitzen.“
Jedes Mal der gleiche Gag; und jedes Mal das gleiche Gelächter aus dreißig altersschwachen Kehlen. Peter schüttelte kaum merklich den Kopf. Wie einfach waren sie doch zu begeistern.
„So, Ladies, und jetzt wollen wir starten!“ Peter betätigte den Knopf des CD-Players, und die schönsten Lieder der Volksmusik erfüllten den nach latentem Tod riechenden Innenraum seines Busses. Peter legte den ersten Gang ein, und mit einem Ruck setzte sich das schwere Gefährt in Bewegung.
Gut anderthalb Stunden und knapp fünfundsiebzig Kilometer später schien die Stimmung ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Die Geräuschkulisse, die aus den krächzenden Kehlen auf ihn eindrang, übertönte die heitere Musik. Hier und da stieß Peter einen seiner berüchtigten Brüller, über den wirklich nur seine Mitfahrer lachen konnten, in das Mikrofon.
„Sie sind wirklich der Beste, Peter!“, hörte er. Er konnte nicht definieren, wer das gesagt hatte, aber es war ihm auch egal. Er hob seine rechte Hand und machte eine leichte Verbeugung. „Bei diesem Publikum ...“, hauchte er ins Mikrofon. Und dann ging der Spaß weiter.
Peter schloss für einen kurzen Moment die Augen, doch sofort galt seine Aufmerksamkeit wieder dem Asphalt. Noch war es ja nicht soweit ...
Ja, so ging es seit fünfundzwanzig Jahren; seit fünfundzwanzig Jahren machte er sich hier zum Kaspar; und seit fünfundzwanzig Jahren musste er das Gegacker seiner Fahrgäste ertragen. Natürlich hatten sie in dieser Zeit schon mehrfach gewechselt; aber im Prinzip waren sie alle gleich. Genauso gleich wie jeder seiner Tage.
Peter hatte das Leben so satt. Wann hatte sich seine Einstellung geändert? Wann war die anfängliche Euphorie in Hass umgeschlagen? Er überlegte kurz. Hatte es überhaupt jemals Euphorie in seinem Leben gegeben? Nein, wenn Peter einmal ehrlich zu sich selbst war, dann konnte er diese Frage nur mit einem entschiedenen Nein beantworten.
Es war lediglich Gleichgültigkeit gewesen, die sein Leben geprägt hatte. Gleichgültigkeit, die schleichend aber stetig in Hass übergegangen war. In Hass auf alles, was täglich auf ihn einschlug; Hass und Lethargie gingen einher in dieser Eintönigkeit des Lebens - seines Lebens. Diese elende Eintönigkeit seiner Tage. Doch der heutige würde anders werden. Peter grinste; oh ja, das würde er!
Er hatte alles vorbereitet. Das taktschwingende Klatschen sechzig zerschrumpelter Hände drang in seinen Nacken. Peter drehte die Lautstärke ein wenig höher. „Eine Disco ist nichts dagegen, Ladies!“, rief er ins Mikrofon. „Ich muss ja froh sein, dass heute keine Männer anwesend sind; die würden sich wohl kaum noch auf den Sitzen halten können.“
Gegacker! „Oh ja, Peter, schade, dass Sie hinter dem Steuer sitzen ...“
Schade? Peter schüttelte sich. Ihr werdet Euch noch wundern. Gleich würden sie eine Rast einlegen, damit die Damen ihre altersschwachen Blasen entleeren konnten. Peter schüttelte sich erneut. Sein Bus hatte zwar eine Toilette, doch hängte er jedes Mal einen Zettel mit der Aufschrift ´Leider defekt!´ davor. Er hatte wahrhaftig nicht die geringste Lust, den stinkenden Urin oder womöglich noch widerliche Kackstreifen dieser alten Schritte zu entfernen.
Peter setzte den Blinker zur Raststätte.
Oh ja, und wenn es dann weitergeht, werde ich Euch mal meine Musik vorspielen. Er blickte auf das CD-Fach und die gelbe Rückseite von ´Once upon a time in the west´ grinste ihn an. Das wird genau das Richtige für Euch sein.
Zehn Minuten später war der Bus leer; abgesehen von diesem faulen Geruch alter Leiber. Peter hatte alle Türen geöffnet, aber er wusste aus Erfahrung, dass es meist zwei Tage dauerte, bis der Innenraum wieder halbwegs betretbar war, ohne den Anflug eines Würgereizes.
Alle waren pissen! Tatsächlich alle. Aber es war ja auch kein Wunder; er hatte ihnen als Henkersmahlzeit die ganzen Flaschen Wasser ausgegeben. „Zur Feier des Tages“, hatte er gerufen. „Und wegen der gratzierlichen Schönheit meiner Gäste.“
Sie hatten sein Angebot natürlich liebend gern angenommen; Alte waren geizig. Das merkte Peter auch immer am Trinkgeld.
Aber heute war Schluss damit. Heute würde er allem ein Ende bereiten. Allem! Seinem beschissenen Leben und diesen stinkenden Geschöpfen der Natur.
Peter wechselte die CD.
Alles würde natürlich den richtigen Rahmen bekommen. Und ´L úomo dell´armonica´ war genau der richtige Rahmen. Das Lied vom Tod; Mr. Morricone würde stolz auf ihn sein.
Und wenn die Mundharmonika durch ihre alten Glieder fahren würde, bei einer Geschwindigkeit von einhundert Stundenkilometern, dann würde er sich umdrehen. Er würde sie angrinsen; er würde aufstehen und in ihre entsetzten Augen starren. Oh weh, Ladies! Da sitzt ja keiner mehr am Steuer! Vielleicht würde er auch noch seinen Schwanz herausholen und in den Gang pissen. Hah! Genug Druck hatte er ja. Und dann würde er seiner Blase und dem Bus freien Lauf lassen.
Er würde endlich einmal etwas vollbringen in seinem Leben. Mit Glanz und Glemmer würde er diese Eintönigkeit beenden. Und nicht nur mit einem lapidaren Trommelwirbel, nein, er würde den entscheidenden Paukenschlag in dieser Synphonie des Todes schlagen.
„Danke, Peter.“
Er fuhr erschrocken herum; verflucht, beinahe hätte er sogar geschrieen.
„Frau Winter! Sie haben mich aber ganz schön erschreckt.“ Peter spürte, wie winzige Schweißperlen auf seiner Stirn entstanden. Vielleicht war er sogar rot geworden.
Edeltraut Winter stand unten vor der Tür und blickte zu ihm hinauf. Peter setzte sein bananenhaftes Grinsen auf und stieg die Stufen hinab.
„Kommen Sie doch schon herein, Verehrteste.“ Da war sie wieder; diese elegante, einladende Bewegung; diese Bewegung, die er schon mindestens eine Millionen Mal gemacht hatte, und bei der er in letzter Zeit beinahe das Kotzen kriegte.
„Nein danke, Peter. Ich warte noch auf die anderen. Ein bisschen frische Luft tut gut.“
Peter musste grinsen.
„Ich wollte mich auch nur bei Ihnen bedanken.“
Peter runzelte die Stirn und blickte in das faltige Gesicht seines Gegenübers. Diese Frau musste einmal eine wahre Schönheit gewesen sein; irgendwie konnte man es noch an ihren Augen erkennen.
„Sie wollen sich bedanken? Wofür?“
„Dafür, dass es Sie gibt, Peter.“
Jetzt wurden die Runzeln auf Peters Stirn noch größer. „Dass es mich gibt? Wie meinen Sie das?“
Aus der Ferne drang das Lachen der Übrigen zu ihnen hinüber.
„Ich glaube, Sie wissen, was ich meine.“ Edeltraut Winter deutete in die Richtung der sich nähernden alten Damen. Peter folgte verwirrt ihrem Blick.
„Sehen Sie die alte Frau Hufnagel? Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass sie nur noch ein paar Wochen habe.“
Peter sah die vollschlanke Frau in dem trottenden Pulk; sie hatte lachend den Arm um eine andere Dame gelegt.
„Und das ist inzwischen fast ein Jahr her ...“
Ein inneres Zucken durchfuhr Peters Eingeweide; was war das?
„Oder sehen Sie die grauhaarige Dame dort neben der Toilettentür; Erna Schäfer ist ihr Name.“
Peter kannte diese Frau; auch sie war eine seiner regelmäßigen Gäste.
„Ihr Mann ist vor knapp zwei Jahren gestorben“, fuhr Edeltraut Winter fort. „Sie waren siebenundvierzig Jahre verheiratet. Ich denke, ich muss Ihnen nicht sagen, was so etwas bedeutet. Wenn Sie einmal die Gräber auf einem Friedhof betrachten, Peter, dann sehen sie oft, dass der Ehepartner kurz nach dem Tod des geliebten Menschen an seiner Seite, diesem gefolgt ist. Und jetzt sehen Sie sich diese Frau Schäfer an.“
Peter sah besagte Dame lachend die Hände vor dem Gesicht zusammenschlagen.
„Ich denke, dass Sie sehr viel dazu beigetragen haben, dass diese Damen noch nicht aufgegeben haben, Peter. Ich könnte Ihnen noch ganz viele Beispiele nennen, warum es schön ist, dass Sie da sind. Ich glaube, dass einfach Gott Menschen wie Sie in all seiner Güte geschaffen hat.“
Peter musste schlucken – da war wieder dieses seltsame Gefühl in seinem Innern -; er wollte etwas sagen, aber irgendwie hatte sich ein dicker Kloß auf seine Stimmbänder gelegt.
„Machen Sie weiter so, Peter. Tun Sie das, was Gott für Sie vorgesehen hat.“ Edeltraut Winter stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Wange.
Peter sah sie an; diese alte Frau, die einmal eine Schönheit gewesen war. Diese Frau, die gerade irgendetwas mit ihm gemacht hatte.
„Ich danke Ihnen, Frau Winter.“ Peter lächelte; und er merkte, dass es diesmal ein ehrliches Lächeln war. Seit langer Zeit wieder ein ehrliches Lächeln.