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Die Konsequenzen ziehen...

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02.06.2004
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Die Konsequenzen ziehen...

Sie war die Liebe seines Lebens gewesen. Die einzige Liebe, die er je empfunden hatte. So gesehen mochte seine Erfahrung möglicherweise nicht ausreichen, sie einzuordnen im verworrenen Knäuel seiner Gefühle – doch war nicht was er vor hatte Beweis genug für die Tiefe der Bindung, die ihn an sie geknüpft hatte?
Und nun war dieser Abschnitt seines Lebens vorbei, und es fühlte sich an, wie wenn man ein wundervolles Buch nach dem ersten Kapitel verlegt und nie wieder findet. Und der Titel des Buches das einzige ist, was einem im Kopf rumschwirrt; und einen das Gewissen plagt, weil man die Chance auf ein bewegendes Abenteuer ein für alle mal vertan hat.
Nur würde niemand eines Buches wegen sich zu dem entschließen, was er plante.
Der Regen war durch seine Schuhe gedrungen und trieb ihm die Kälte in den kraftlosen Körper. Egal. Er trieb sich weiter vorwärts, beziehungsweise sah mit hängendem Kopf zu, wie seine Füße ihn vorwärts trieben. Der Boden war grau und nass. Das war er meistens bei Weltuntergangswetter, nur fiel es ihm heute besonders auf, weil er den Blick seit Verlassen des Hauses nicht gehoben hatte. Und doch übersah er eine der zahllosen Schnecken, die seinen Weg kreuzten, oder er reagierte zu langsam. Es knackte leise und graues Gewebe quoll widerwillig aus dem zerschellten Gehäuse. Alles war grau, hatte es den Anschein. In einem Anfall traurigen Zorns zertrat er ein weiteres Tier, diesmal bewusst. F*ck, wenigstens die zwei sollten im Paradies vereint sein!
Es dauerte weitere trübe Minuten, bis er beinahe gegen den hölzernen Jagdzaun lief. Wie nach dem Erwachen aus einer Hypnose konnte er sich zuerst nicht zurechtfinden, doch bald sah er wieder klar. Der Hund, ein Rottweiler – ihr Rottweiler –, trottete langsam auf ihn zu und schien zu überlegen, wie er sich verhalten sollte. Er kannte ihn. Nach einem starren Blick in seine Augen schwoll aus seinem Brustkorb ein tiefes Grollen heran. Ob es als Warnung oder irgendetwas Anderes zu verstehen war – jedenfalls machte er kehrt und zog sich in die bemooste Hütte zurück, vor der der Regen sein monotones Lied in den metallenen Napf komponierte.
Im aufgeweichten Boden des Gartens sah er zwei schmale Rillen, die sich braun und matschig vom restlichen Rasen abzeichneten. Sie war bis vor kurzem noch draußen gewesen. Hatte vielleicht gedankenversunken die dunkle Wand betrachtet, die sich hinter ihm über der Silhouette des Waldes auftürmte. Jetzt war sie jedenfalls im Haus, las vielleicht ein Buch – ein Buch, das er glücklicherweise nicht für immer verlegen konnte.
Er hätte nicht gewusst, was er getan hätte, wäre er ihr von Angesicht zu Angesicht begegnet. Womöglich wäre er einfach erstarrt stehen geblieben und hätte gehofft, dass sie sich abwendet; wahrscheinlicher aber war, er hätte der Last nicht standgehalten und wäre Hals über Kopf davon gelaufen.
Ein letztes Mal ließ er seinen Blick ängstlich über das Haus schweifen; ängstlich, ihr hinter einer Gardine vielleicht unwissend offen ins Gesicht zu sehen.
Dann wendete er sich um und hielt auf den Wald zu und die Wolkenwand, die drohend auf ihn herabstarrte und ihn mahnend erinnerte an die Aufgabe, die er sich gestellt hatte.
Er weinte. Der Anblick der Rollstuhlspuren in ihrem Garten hatte Erinnerungen und Schuld miteinander vermischt und das Resultat waren warme, salzige Tränen. Sie verloren sich im Regen auf seiner Haut und nahmen ihm etwas von jener Kälte, ohne jedoch Wärme aufkommen zu lassen.
Er ging jetzt den Weg, den er mit ihr damals gegangen war, Hand in Hand. Er hatte sie schon einige Zeit gekannt, lang genug, wie er gedacht hatte. Er mochte sie, liebte sie, und sie ihn. An jenem Tag hatte er sie von zu Hause abgeholt, sie liebevoll geküsst, und das Leuchten in seinen Augen wurde von ihren hundertfach reflektiert. Sie wollte den Hund mitnehmen, doch er bat sie, ihn diesmal zurück zu lassen.
Sie gingen im Wald spazieren und ließen nicht voneinander, wie frisch Verliebte es zu tun pflegten. Niemals hatten sie beide derart tiefe, warme Gefühle für jemanden gehegt.
Er zog das ganze romantische Programm ab; so sehr es auch mit Klischees behaftet war, ihm war es ernst damit gewesen, als er mit dem Taschenmesser ihre und seine Initialen in die Rinde einer jungen Eiche ritzte, umgeben von einem Herz. Sie schmusten, küssten sich, hörten nicht auf zu lächeln. Er hatte sie mit dem Rücken gegen den Baum dirigiert, stützte sich links und rechts von ihr mit den Händen ab. Sie hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen.
Es war ein perfekter Tag gewesen. Sonnenschein, Vogelstimmen und sacht rauschende Baumkronen.
Er wollte mit ihr schlafen. Dachte, es wäre langsam Zeit für den finalen Schritt, dachte, sie wollte es ebenso. Ungestört in der Natur – er hatte sogar eine Decke mitgebracht, auf der sie es sich hätten gemütlich machen können.
Doch sie wehrte ab. Sie war verletzt und enttäuscht, weil er sie mit all diesem idyllischen Drumherum scheinbar nur rumkriegen wollte. Auch er war enttäuscht, doch eher von sich selbst; er hätte wissen müssen, dass es ein Fehler war. Es tat ihm leid, aufrichtig, und er versuchte ihr zu erklären, was in ihm vorging. Leider stellte sie sich stur, weinte und versuchte, an ihm vorbei zu kommen und zurück zu rennen. Er hielt sie zurück. Verdammt, warum ließ sie ihn nicht alles erklären? Wieder wollte sie sich von ihm befreien, diesmal energischer. Er packte sie bei den Schultern und stieß sie zurück an den Stamm der Eiche.
Plötzlich war sie ganz still.
Alle Farbe entwich ihrem Gesicht. Was hatte er getan? Was war denn bloß los? Er fing an zu zittern und ließ ihren schlaffen Körper zu Boden gleiten; so wurde der Blick frei auf den scharfkantigen Aststumpf, der hinter ihr vom Stamm wegragte.
Er drehte sie in eine Position, von der er annahm, es sei die stabile Seitenlage, und bemerkte unter einem panischen Aufschrei, dass sie blutete.
Der Ast hatte sie an der Wirbelsäule verletzt – das war die weichgespülte Version; die Wahrheit war, er hatte sie an der Wirbelsäule verletzt.
Jetzt war sie querschnittsgelähmt.
Er weinte, aber es flossen keine Tränen mehr. Der Strom war versiegt, nach Wochen der Depression, der Schuldzuweisungen. Er war Schuld. Niemand sonst. Nicht sie, nicht der Hund, nicht einmal der verdammte Baum – er!
Der Anblick der Eiche ließ ihn innehalten. Er zögerte, dann trat er langsam dorthin, wo die Krone normalerweise ihren kalten Schatten auf ihn geworfen hätte, brächte es die Sonne übers Herz, mit ihren Strahlen die Dramatik des Geschehens abzuschwächen.
Er krallte die Finger fester um das Abschleppseil, das er bis jetzt aufgerollt mit sich herum getragen hatte. Aus der Hosentasche holte er mit klammen, beinahe bewegungslosen Fingern das Messer, jenes Werkzeug, mit dem er seine Liebe in der Rinde verewigt hatte. Regen rann ihm aus dem strähnig an der Stirn klebenden Haar in die Augen. Es brannte, doch das tat sein tränenloses Weinen ohnehin schon.
Ganz vorsichtig strich er mit den Fingerspitzen über die Kerben im Baumstamm. Empfand jede Biegung des Herzens und jeden Knick in den Buchstaben nach, verfolgte die Rinne genauso, wie er sie damals geschnitten hatte. Dann setzte er das Messer an, teilte das Herz mit einer Zickzacklinie von oben nach unten in zwei Hälften und führte schließlich, schluchzend, einen tiefen Schnitt durch das C.
Dann stach er das Messer tief in das Holz, fasste einen erhöhten Ast, setzte den Fuß auf jenen unheilbringenden Stumpf und kletterte bis auf etwa drei Meter Höhe.
Das Seil abwickelnd biss er sich auf die Lippe, um nicht von der Angst übermannt zu werden. Dann schlang er das eine Ende mehrere Male fest um einen starken Ast und fertigte aus dem anderen eine Schlinge. Er zog sie sich um den Hals.
Ein letztes Mal blickte er zum Himmel und fragte sich beim Anblick der finsteren Wolkendecke, ob sie es verstehen würde. Wahrscheinlich nicht.
Dann sprang er.

***

Das hübsche Mädchen im Rollstuhl bat ihre Begleitung, sie allein zu lassen. Dann rollte sie aus eigener Kraft noch näher an das neue, hölzerne Kreuz unter der jungen Eiche heran und las die Inschrift.

„Chris Balder, 1983-1999.
Er konnte nicht mit der Schuld leben,
doch in unseren Herzen wird er ewig weilen.“

 

Hallo Claxtechuan!

Also das mit dem "Unfall" war eine Überraschung, aber sonst muß ich Lukas hier absolut zustimmen.
Außerdem funktioniert Deine Geschichte so nicht. Erstens macht es Anfangs nicht den Eindruck, daß der Junge viel Gepäck dabei hätte, dann hat er plötzlich eine Decke und sogar ein Seil dabei... Das mit der Decke laß ich mir ja noch einreden, dann hatte er halt einen Rucksack, von dem Du bisher noch nichts geschrieben hast. Er hatte ja vor, sie zu verführen, also soll er sie ruhig mithaben. - Aber er hatte nicht von vornherein vor, sich aufzuhängen, daher kann das Seil wohl nur durch einen Zauber oder so in seine Hände fallen? :shy:

Ich bin zwar kein Grabinschrift-Spezialist, aber meinst Du wirklich, daß man so einen Satz auf einen Grabstein schreibt?

Er konnte nicht mit der Schuld leben
Ich hab da meine Zweifel...

Aber laß Dich dadurch nicht entmutigen. Lesen ließ sich die Geschichte ganz gut, und wenn Du bei der nächsten Geschichte einen besseren Plot hast, werden die Kritiken sicher auch besser. ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Also zum Thema Liebe und Klischees kann ich nichts weiter sagen als: Wenn der Junge nunmal so empfunden hat, sollte ich als Autor nicht auf Teufel-komm-raus versuchen, das ganze zu entklischeeisieren. Ich wollte die Geschichte genau so schreiben, wie sie dort steht.

@ Häferl
Du hast da einiges falsch gelesen; das mit ihr und der Romantik und der Decke ist ein Rückblick. Unnötig, mit nichtigen Details wie Rucksack oder Trekkingschuhen da alles haarklein zu verdeutlichen. Es gibt jedenfalls den Rückblick und das Jetzt, in dem er im Regen allein mit einem Seil in der Hand den Plan hat, sich umzubringen, weil er ihr Leben verpfuscht hat. Das kann man eigentlich ganz gut aus dem Text ersehen (2./3. Absatz). Das Seil wollte ich erst früher erwähnen, es sollte dann aber besser doch später zur Sprache komen, damit man sich nicht unnötig den Kopf über seine Bedeutung zerbricht. Schockeffekt sozusagen.
Das einzige Manko, was ich ebenfalls sehe, ist die etwas platte Inschrift; aber es ist schließlich auch kein Grabstein, sondern ein hölzernes Gedenkkreuz. Aber hast Recht, wohl nicht sehr realistisch; aber das sollte jetzt nicht so das Problem sein. Hauptaugenmerk in diesem letzten Abschnitt ist die Tatsache, dass das Mädchen sich selbst bewusst mit seinem Selbstmord konfrontiert.
Naja, das jetzt eben zu meiner Verteidigung;).

 

Verzeih, daß das nur eine Rückblende ist, hab ich gut verdrängt, nachdem mir das mit der Decke so vorkam wie es in Filmen mit schlechter Regie oft ist, wo die Darsteller nie die Türen schließen, durch die sie gehen, die in der nächsten Einstellung aber wieder zu sind, oder wo der Held durch den tiefsten Schlamm kriechen kann und dann wieder blitzsaubere Kleidung an hat. - So schlimm war das mit der Decke natürlich nicht, aber als die beiden da so durch den Wald gelaufen sind und er sie mit dem Rücken zum Baum dirigierte und seine Arme links und rechts von ihr abstützte, da hatte er in meinem Film nichts dabei. Und dann war sie schwupps da, die Decke.

Und an der Stelle, wo er sich dann aufhängt, erkenne ich keinen zeitlichen Unterschied. Für mich liest sich das so, als läge sie noch unter dem Baum, während er sich aufhängt. - Da solltest Du vielleicht noch ein bisschen was einfügen, wodurch das besser kenntlich gemacht wäre. ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Er weinte, aber es flossen keine Tränen mehr. Der Strom war versiegt, nach Wochen der Depression, der Schuldzuweisungen.
Da ist der zeitliche Unterschied;).

EDIT:
@ tagträumer
Danke, freut mich, dass es dir gefällt.

 

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