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Die letzte Einsicht

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24.09.2004
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Die letzte Einsicht

Die letzte Einsicht

William saß auf dem Dach des vierunddreißigstöckigen Bürogebäudes und strich nachdenklich an seiner Krawatte entlang. Hier oben war die Luft frisch und ließ ihn ein wenig frösteln, aber das war nebensächlich. Er atmete tief und gleichmäßig, während der Motorenlärm der Autos in den Straßen unter ihm gedämpft heraufdrang. Der Betonpfeiler, auf dem er saß, war nicht besonders bequem, doch er hatte es einfach nicht übers Herz bringen können einen Stuhl her zu schaffen. Es war lächerlich: die Zeit war so weit fortgeschritten und hatte Dinge verändert, die er niemals wieder würde rückgängig machen können, und er dachte darüber nach, dass es vielleicht bequemer sein könnte auf einem Stuhl zu sitzen. Taktlosigkeit hatte er immer verabscheut, aber nun musste er sich eingestehen, dass sein Verhalten genau das war. Er stand auf, passierte die gelbe Sicherheitsmarkierung, ging an den Rand und las zum hundertsten Male an diesem Nachmittag das Schild: „Vorsicht! Ungesicherte Brüstung!“ Sein Anzug schien ihn zu erdrücken, und er zog ihn aus. Normalerweise fühlte er sich in diesen Sachen wohl, aber heute spürte er eine Beklemmung, als hätte man ihn in einen Tresor gequetscht und die Tür zugeworfen. Einen Moment hielt er ihn über die Tiefe, betrachtete wie die Ärmel in der leichten Brise flatterten und wie von unsichtbaren Fäden geführt, einladende Gebärden vollführten. Krempen ohne Hände winkten ihm zu und schienen ihn einzuladen.
Komm auf unsere Seite. Geh noch einen Schritt, bloß einen ganz kleinen, und wir können gemeinsam in die Tiefe blicken. Es ist nur ein Meter, aber der Ausblick ist hier viel besser. Hier brauchst du keine Beine – der Wind trägt dich fort wie eine Feder. Du brauchst vor nichts angst zu haben. Einen Schritt...
Zeitlupenartige Bewegungen. Ärmel ohne Arme wollten ihn verführen. Eingefallen wie Leblose Körper; bloß eine verlassene Hülle, doch sorgenfrei wie ein ungeborenes Kind. Er öffnete die Hand und ließ das Kleidungsstück frei. Für einen Sekundenbruchteil schien es zu schweben, doch dann nahm es der Wind in seine sanften Hände und trug es davon. Der Kragen schlug um, so als bäume er sich auf; die Ärmel ergriffen von Thermik des Fallens runderten in stiller Panik.
Folge mir!
Es war die gleiche Stimme, doch diesmal viel eindringlicher. Ohne den Anzug fühlte sich William besser.
Er griff in seine Tasche und holte die Zigarettenpackung heraus. Wenigstens noch eine Zigarette rauchen, dachte er. Nach ein paar Zügen warf er sie weg; der Geschmack schien seiner Stimmung zu lästern.
Im Osten, da wo die Stadt langsam ausdünnte und dem Sand platz machte, der nach einem halben Kilometer Kampf mit seinem Schwesterelement von einem Meer in die Tiefe gedrängt wurde, lag die Hitze des Tages wie ein feuchtes Tuch, das bald anfangen würde zu faulen. William hatte diesen Ort immer geliebt. Vor sechs Jahren war es seine Entscheidung gewesen hierher zu ziehen. Bessere Lage, aber vor Allem bessere Bezahlung. Letzteres hatte er Laura immer verschwiegen, aber an manchen Abenden, wenn sie nachdenklich auf der Veranda saß und der Roman angefangen in ihrem Schoß lag, wenn sie das Wasser mit Eiswürfeln, welche längst geschmolzen waren, neben sich vergessen hatte und der untergehenden Sonne zusah, die ihre Berührung lockerte, weil die Kugel sich weiterdrehte, da wusste er, dass sie nur aus Liebe und nicht aus Überzeugung mit ihm gekommen war. Ein großes Haus, eine schöne Gegend, nahe am Wasser, was konnte man dagegen einzuwenden haben? Hier würden sich noch ihre Kinder und Enkel wohlfühlen, ihre ganze Familie, die sie gründen würden, sollte hier zu Hause sein. Ja, er wusste, dass sie seinetwegen durchhielt, sah es in ihren Augen. Wenn er sie auf diese Weise sah, verspürte er eine so große Dankbarkeit, dass er am liebsten vor ihr auf die Knie gefallen wäre und sich für alles entschuldigt hätte. Nein, noch nicht, noch ein paar Monate, weniger als ein Jahr, dann würde es vorbei sein, dann würde er für immer für sie da sein. Er fragte sich, wie sie es bloß mit ihm aushielt, oder besser gesagt mit seiner Abwesenheit. Manchmal war er argwöhnisch und sich sicher, dass es irgendwo einen Liebhaber gab, doch wenn er dann diesen Blick sah, diesen Glanz in ihren Augen, die geduldig in die Ferne blickten und schon längst damit aufgehört hatten die Tage zu zählen, da fühlte er ihre Treue und wusste einfach, dass sie auf ihn warten würde. Hätte er das an ihrer Stelle so lange durchgestanden? Er wusste es nicht, und jetzt, als seine Augen über Häuser Straßen und Autos wanderten, die so klein wie Insekten waren, da tat ihm alles so furchtbar leid. Er verdammte sich selbst für seine verspäteten Gefühle und wollte sich um jeden Preis strafen. Die Last der Scham, die auf ihm lag, war so groß, dass ihm das Atmen Mühe bereitete. Wie hatten die Scheuklappen seines Jobs ihm so schwerwiegend die Sicht auf die Dinge nehmen können? Warum war er so dumm und rücksichtslos gewesen? Laura war alles, was er jemals auf dieser Welt gehabt hatte, und er war mit ihr umgegangen wie mit einem Gegenstand, hatte ihr stets nur abgeschwächte Gefühle außerhalb seiner Maske entgegengebracht, war unfähig gewesen, sich fallen zu lassen, in ihre Liebe, in ihre Großzügigkeit. Seine eigene Undankbarkeit hielt ihm den Spiegel vor, griff nach ihm mit grober Gewalt und gab ihm das, was er verdiente. Er sah seine abscheußliche Erscheinung, seinen aufgesetzten Charakter, seine schmierigen Haare und Yuppiemanieren. Leblose, fragile Werte, nach denen er geglaubt hatte leben zu müssen, um in Formen zu passen, die sein Job forderte. Wie vergänglich und unsinnig kam ihm das plötzlich vor. Laura... Sie musste es all die Jahre gesehen haben, musste seinen Verfall in jeder Nuaunce wahrgenommen haben, Tag für Tag, immer weiter fortschreitend. Bestimmt hatte sie ihn warnen wollen. Natürlich nicht im Gespräch oder mit geplanten Maßnahmen, sondern subtil schonend und dabei einfühlsam. Das war immer ihre Art gewesen. Wie viele Male hatte sie dagesessen und ihre Liebe nach ihm ausgesandt, in der Hoffnung, dass er sich neben sie setzen würde, nur einen Moment, nur ein kurzes gemeinsames Innehalten; den Strom der Zeit verlangsamen, um den Anblick zu genießen. Sie hatte es versucht, sanft wie sie war, hatte sie ihre Hoffnung aufrechterhalten, und jetzt, wo alles zu spät war, konnte sich sein verblendetes Denken noch nicht einmal an eine Hand voll Zuwedungen erinnern.
Liebling, kommst du zu mir?Mach doch heute etwas früher Schluss. Der Sommer ist warm, und wir könnten am Strand spazierengehen. Die Ruhe dort tut so gut...
Und wo war er gewesen? Wie eine Maschine hatte er gearbeitet und hatte geglaubt, das, was er tat, würde aus Liebe zu ihr geschehen. Wo war seine Liebe gewesen, als sie auf ihn gewartet hatte und vergeblich ihre Hoffnung schickte. Das Wertvollste des Lebens hatte er seinem Schreibtisch geopfert, seinem Job und dem Leben, das er ohne sie gelebt hatte. Hatte er jemals Geduld mit Dankbarkeit erwidert? Er fuhr sich durch die Haare, ballte seine Hände zu Fäusten und konnte sich nicht erinnern. Wo war seine Reuhe? War er tatsächlich schon so verkommen, dass er noch nicht einmal eine Träne zu stande brachte? Wie viele Tränen musste sie vergossen haben, stumm und einsam, bis ihr Herz gebrochen war? Vielleicht hatte sie für ihn geweint, vielleicht aber auch für die Vergangenheit, vielleicht für sie beide.
Ihre roten Locken im Herbstwind Spaniens, das freundliche Gesicht geziert von Sommersprossen. Ihr zärtliches Lächeln, zurückhaltend und nach Vertrauen suchend. Schlank, zerbrechlich und schön hatte sie ihm zugewunken. Wehende Haare, tanzend im Wind wie Feuer. Wie gelähmt stand er da. Etwas berührte ihn, griff nach seiner Seele, so tief, dass er vergaß zu denken. Er wusste nicht, wie lange er brauchte, um ihre Schönheit zu verdauen, doch schließlich winkte auch er, nahm Mut zusammen und ging zu ihr hinüber. Spanien... das Flüstern deines Windes... geheimnissvolle Schönheit, geformt aus Landschaften... Küsten und Brandung, Lieder des Meeres, gesungen mit Wasser und Wellen, sich brechend an deines Körpers Rundungen... Wie die Vollendung dieser Schönheit stand sie da, die Antwort aller Fragen bildend. Wortlos verstand er ihre Blicke und sie die seinen. Als sie sich in den Armen lagen, formte sich ein neues Leben. Der Anfang allen Glückes, die Antwort auf sein Dasein. Man lebt nur einmal, und die wenigen, die sehen warum, sollten auf ewig danken. William hatte danken wollen. Dachte es die ganze Zeit zu tun, wollte alles noch verbessern, um ihres beiden Glückes willen. Doch anstatt zu danken und zu geben, kannte er nur die Gier seines Erfolgs. Laura zu sanftmütig für derartige Stimmungen sah machtlos zu, hoffend bis zum Ende. Sie ließ ihn zurück, ihn, der erst jetzt sah, was er an ihr hatte. Die Zeit kennt keine Dauer. Sie nimmt sich alles, nicht auf einmal, aber dennoch alles. Wenn man Zeit vergeudet, die Gelegenheit versäumt ihr zu trotzen und die Antwort auf sein eigenes Dasein vergisst, dann zehrt sie einen auf wie Feuer eine Feder.
Er hätte alles haben können, doch am Ende steht er da und greift nach Vergangenheit. Hinfort gespült die Welt, untergegangen in Zukunft, vergessen von Vergangenheit.
Nur einen Schrit, und du brauchst keine Beine... die fliegenden haben Flügel...
Walter geht einen Schritt, und seine Füße berühren das Nichts. Er versucht zu schreien, doch zu groß ist der Verlust. Und während er fällt, wird Walter einsichtig; er sieht bekennend seine Schuld, und aus seinen Augen fallen Tränen.

 

Hallo Maschinenfrosch!

Ich habs gelesen, einmal, zweimal und jetzt gerade nochmal. Und wieder hätte ich den alles erklärenden Satz beinahe übersehen. Sie hat ihn verlassen! Oder sehe ich da etwas falsch. Mit den letzten drei Sätzen kann ich gar nichts anfangen. Wieso kommt die Reue erst im freien Fall? Wieso erkennt er erst jetzt seine Schuld - er bestraft sich doch gerade deswegen? Oder worüber hat er die ganze Zeit nachgedacht, da oben auf dem Dach? Aber vielleicht kann ich mich nicht in das Gefühlsleben eines Juppies hineindenken. Sorry!

Lg hanini

 

Hallo Hanini,
genau! Sie hat ihn verlassen. (Oder ist sogar tot, man weiß es nicht)
Die Reue, zumindest in ihrer vollen Dosis, kommt tatsächlich erst, wenn er sich schon in der Luft befindet und es kein zurück mehr gibt. Sicherlich bereute er vorher auch schon in einem gewissen Maße, aber doch nicht so, dass er weinen müsste.
Vielen Dank, dass du die Geschichte gelesen hast, und dann auch noch mehrmals!

 

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